Gedichtbetrachtung

Über die Flügelnatur des Geistes

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Eine Deutung von Jadwiga Krzyżaniak, Warschau, zu 
"Was unser Geist der Wirrnis abgewinnt..."

Der Geist durchdringt die Materie. Er war von Anfang an und "schwebte über den Wassern" (Genesis). Mit der Wirrnis ist es ähnlich. Auch sie gehört zum Uranfang der Menschheit. Doch gegenüber dem Geist wirkt sie als Antagonistin. Die Wirrnis kann nicht erheben. Sie ist dunkel und chaotisch. Allein der Geist ist schöpferisch und kann sich zur Erkenntnis des Göttlichen erheben.
In Rilkes Gedicht "Was unser Geist der Wirrnis abgewinnt..." bemerke ich diese Beziehungen und zusammen mit dem Dichter glaube ich, daß die Leistungen des Geistes "irgendwann Lebendigem zugute kommen"
Der Dichter konzentriert seine Aufmerksamkeit auf die Wirkung unserer Gedanken und Gefühle. Die Blutmetapher ist ein Bild für die Gedankenverwandtschaft, die den Menschen, unabhängig von Zeit und Ort, gemeinsam ist. Der Inhalt der Gedanken geht in diesen Blutkreislauf der Menschheit über. Deshalb ist von großer Bedeutung, was und wie wir denken. Den Gefühlen - so scheint mir - gibt Rilke einen noch höheren Rang. Die Wirkungen der Gefühle sind unvorhersehbar und es kann sich ergeben, daß "in dem reinen Raum" unseres Mikrokosmos manchmal sogar"ein kleines Mehr von schwer und leicht / Welten bewegt und einen Stern verschiebt"
Die Wissenschaftler ordnen jetzt solche Zusammenhänge von vielfältigen Abhängigkeiten - aus den entwickelten Kulturen des Altertums - in holistische Systeme, in denen der geringste Teil Einfluß auf das Ganze ausübt und das Ganze gleichzeitig mehr als die Summe aller Teile ist. Die Konklusion für uns, die wir noch immer gebrechliche Leute sind, klingt mit dem Rhythmus des Gedichts: Wir sind hier zur großen Geistesarbeit, zum geistigen Fortschritt. Unsere Aufgabe soll "ein kleines Mehr" sein, das immerfort und rastlos im Gedankenmeer des menschlichen Geistes schwimmt.. Sie verwirklicht sich durch ständige Verwandlungen. Im Bewußtheitsozean kann gerade dies "kleines Mehr" seine Stärke vielgestaltig offenbaren in der hochgreifenden Wandlung der Welle, im Korn, ergebend die Erdengeduld, im Blitz, im stürmischen Wind... Aufmerksam lebend, werden wir in der Lage sein, zu beobachten, wie wir uns in den bewußten Schöpfer unserer Gedanken und Gefühle verwandeln.

Rilkes Gedicht "Was unser Geist der Wirrnis abgewinnt..." hat mich ermuntert, ähnliche Gedanken in der polnischer Literatur zu suchen.
Ich habe im Nachlaß des größten Spezialisten im Geistbereich, dem Romantiker - Juliusz Słowacki (1809-1849) einen Beleg gefunden. In seinem philosophischen Traktat "Genesis aus dem Geist" [Genezis z ducha] schrieb er u.a.:

- ... im Meeresrauschen hört man die ständige Stimme der auf die Gestalt hinarbeitenden Wirrnis, 
hier, wo die Geister auf demselben Weg, wie einst ich, auf die Jakobsleiter des Lebens eintreten 
[1.1] 

- O! mein Geist, also in der Formlosigkeit deines ersten Ansatzes war schon Gedanke und Gefuehl. Mit dem Gedanken hast du an die neuen Formen gedacht, mit dem Gefühl und Liebesfeuer entzündet, hast du deinen Vater und Schöpfer um sie gebetet.[1.2] 

- Alles ist jedoch im Wirrsal und in der Anstrengung... Es scheint, als ob der Geist in der Verzweiflung schaffe, wenn er noch nicht von seiner Kraft und Schaffen überzeugt ist. [1.3] 

schliessend die Herleitung mit aller Deutlichkeit der Pointe:

- ... alles wird durch den Geist und für den Geist geschaffen, und nichts für den körperlichen Zweck besteht... [1.4] 

Im letzten Werk Słowackis - dem Epos "Koenig-Geist" [Krol-Duch] lesen wir:

.... mit der Erscheinung von Geistkräften
Fällt die Erde - oder sie muß sich aufstützen 
[2.1] 

Der abgenutzte Körper - und der immer jüngere Geist... [2.2] 

Unter seiner zahlreichen mystischen Gedichten sind die folgenden Fragmente beachtenswert:

Mein Koenig und mein Herr - der ist kein Stemmer (...)
Aber der erste Geist der Erde - weltherrisch. 
[2.3] 

Der Geist kannte keine Zeit, und die Zeit hatte kein Maß;
Der flog mit dem Blitz zur Ewigkeitsschwelle 
Und stand als Ewigkeit - wenn er in Gott gestanden war. 
[2.4]

Jetzt kann ich mich keiner Weltherrschaft
Unterstellen lassen - nicht deshalb, weil ich stolz bin,
Aber weil ich meinen augenlosen Geist
Seit vielen Jahrhunderten durch Sonnen und Särge führe 
[3]

Über die Geistesoffenbarung schrieb Adam Mickiewicz (1798-1855) im Gedicht "Vision" [Widzenie]: 

Ich war im uraltem Element der Elemente,
An der Stelle, woher sich alle die Geister verbreiten,
Die Welt bewegend, selbst unbeweglich:
Wie die Strahlen, die aus der Sonnenmitte
Die Ströme von Glanz und Hitze gießen,
Und die Sonne inmitten unsichtbar steht. 
[4.1]

Und im Gedicht "Veni Creator Spiritus":

Lege sich deine Seele als Tal,
Und schon fließt durch sie wie ein Fluß Gottes Geist. 
[4.2]

Ich schließe mit einem Fragment des indischen Mystikers Kabir (ca 1440-1518) in der Adaptation von Czesław Miłosz (1911-2004) "Drinnen dieses Tontopfes..." [Wewnątrz tego glinianego garnka...], über den ewigen Geist, der die Göttlichkeitssaaten in die Herzen der Menschen einsät und über das Menschentumswesen:

Drinnen in diesem Topfe erklingt die Musik der Ewigkeit und entspringt die Quelle aller Wasser. [5]



Quellen
[1.1] Juliusz Słowacki, Dzieła wszystkie pod red. Juliusza Kleinera, t.XIV, Zakład im.Ossolińskich – Wydawnictwo Wrocław 1954, Genezis z ducha – redakcja ostateczna, V.22, S.47
[1.2] V.251, S.52
[1.3] V.337, S.54
[1.4] V.790, S.64
[2.1] Juliusz Słowacki, Dzieła Wybrane I, Wiersze i poematy, PIW Warszawa 1983, Krol-Duch, Rapsod III, Pieśń I /I, V.3, S.928
[2.2] Rapsod III, Pieśń III/XXXVIII, V.8, S.979
[2.3] [Moj Krol i moj Pan – to nie mocarz żadny ...], V.1, S.102
[2.4] [Wielcyśmy byli i śmieszniśmy byli....], V.8, S.107
[3] Juliusz Słowacki, Poezje, Wydawnictwo Zielona Sowa Krakow 2005, [Teraz pod żadną światową się władzę...], S.159
[4.1] Adam Mickiewicz, Dzieła I, Wiersze, SW Czytelnik, Warszawa 1993, Widzenie, V.31, S.408
[4.2] Zdania i uwagi I, Veni Creator Spiritus, S.379
[5] Czesław Miłosz, Hymn o perle, Wydawnictwo Literackie Krakow – Wrocław 1983, Kabir, Wewnątrz tego glinianego garnka, V.4, S.93


Jadwiga Krzyżaniak hat Rilkes "Duineser Elegien" ins Polnische übersetzt und sich dabei bemüht, eine der heutigen Zeit angemessene Sprache zu finden. Sie hat auch mein Buch "Wege ins Dasein" über die "Duineser Elegien" ins Polnische übersetzt. Ich wünsche ihren Übersetzungen, daß sie einen Weg zu den Lesern in Polen finden werden!
Johannes Heiner am 29.11.2006

 

Gedanken zum Gedicht: "Buddha in der Glorie"

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Rilke hat zwischen 1905 und 1908 in Paris drei Anläufe genommen, das Thema des Buddha in seine Gedichte aufzunehmen. Sie gehen alle drei auf ein Erlebnis im Garten von Rodin zurück. Rilke entdeckte eine Buddha-Statue. Sie machte großen Eindruck auf ihn. In einem Brief an Clara spricht er von der "uralten Gleichgültigkeit", die von der Figur ausstrahlen würde1). "Buddha in der Glorie", das dritte Gedicht, stellt den letzten Anlauf des Dichters dar. 

Das erste Gedicht ist 1905 unter dem unmittelbaren Eindruck dieses Erlebnisses geschrieben worden. Es steht in den "Neuen Gedichten" vor den Chartres-Gedichten, die mit "L´ange du méridien" anheben. "O er ist Alles. Wirklich, warten wir,/ dass er uns sähe? Sollte er bedürfen?/ Und wenn wir hier uns vor ihm, niederwürfen,/ er bliebe tief und träge wie ein Tier." "Als ob er horchte. Stille, eine Ferne.../ Wir halten ein und hören sie nicht mehr."

Das zweite Gedicht ist 1906 geschrieben worden. Es hat die Form eines Sonetts und führt die Erzählperspektive eines "fremden scheuen/ Pilgers" ein. Der Pilger nähert sich der Skulptur. "Aber näher kommend wird er irre/ vor der Hoheit dieser Augenbraun...". Er fragt sich, "welche Dinge eingeschmolzen wurden, um / dieses Bild auf diesem Blumenkelche / aufzurichten". Herausgearbeitet wird die goldgelbe Farbe der Statue und dass sie "rundherum/ auch den Raum berührend wie sich selber" sei. Der Eindruck uralter Gleichgültigkeit des ersten Gedichts tritt zugunsten von plastischen Details im Aussehen zurück.

Das dritte Gedicht "Buddha in der Glorie" entstand 1908 und beschließt die Sammlung der "Neuen Gedichte II". Es erreicht eine gewisse Geschlossenheit in der Gestaltung, von der aus gesehen die beiden früheren Gedichte mehr wie Vorarbeiten wirken. 

Nun zum Gedicht im Einzelnen. Die erste Strophe stimmt das Lob der Mitte an. Mit "Kern" wird der abstrakte Begriff "Mitte" zur Anschauung gebracht. Mit "Mandel" erhält er eine Form in sprachlicher Anlehnung an die Mandorla 2). Für den Buddha als Kern und Mandel ist alles Seiende wie "Fruchtfleisch". Es wächst aus dem Inneren hervor. Sein Geschmack ist bitter und süß. Manches Mal muss das Bittere in Süße verwandelt werden. Der Buddha ist die Mitte des Universums. Daher auch der Titel "Buddha in der Glorie". Er verdrängt den Christus in der Mandorla, wie er über den Portalen der Kathedralen von Paris und Chartres als Weltenherrscher thront. 
Nach dieser Apotheose des Buddha in den ersten drei Zeilen wirkt die letzte Zeile "Sei gegrüßt", ziemlich verblüffend. Es gibt keinen Pilger mehr, der sich dem Buddha in Demut nähern würde; es gibt keine Reue mehr für irgendwelche "Sünden"; es gibt nur noch ein aufgerichtetes Du, das dem göttlichen Nicht-Ich gegenüber tritt.
Die zweite und die dritte Strophe knüpfen in der Wahl der Metaphern an die erste an und vollenden sie. Dabei verlagert sich die Aufmerksamkeit auf das mit dem "Unendlichen" Gemeinte. Das Sein, von dem der Buddha Zeugnis gibt, ist nicht das materielle, sondern das geistige kosmische Sein 3). Man denke hier an den Begriff des Unsichtbaren in seiner für das Spätwerk von Rilke tragenden Bedeutung. Die Dichter sind die "Bienen des Unsichtbaren". Sie verwandeln die sichtbare materielle Welt in die unsichtbare geistige 4). Die "Sonnen" gehören noch der physischen Welt an. Doch was sich im Innern des Buddha ("in dir"!) ereignet, trägt das Gepräge der Zeit-losigkeit.
Rilke hat im Laufe seines Lebens immer wieder Orte der Stille aufgesucht. Er konnte nicht ohne sie leben und arbeiten. Die Stille war ihm ein Ort der Sammlung nach Zeiten der Zerstreuung. Im Rückzug auf die Stille kann der Mensch zu seiner Mitte zurück finden. Aus der Erfahrung der Mitte entstehen kreative Impulse und eine Leichtigkeit des Lebens, die voller Dankbarkeit ist. Die Stille-Erfahrung verwandelt auch den Schmerz in "Süße". Sie schärft den Geist, der aus eigenem Antrieb zu tiefer Erkenntnis gelangt. In Wahrheit gibt es keine Einsamkeit und keine Trennung. Alles, was ist, ist gebend und nehmend ineinander verflochten. Der Wahrheit dienen heißt, sich dieser Zusammenhänge bewusst zu sein und danach zu leben.

Anmerkungen
1) zitiert in der "Kommentierten Ausgabe" von Rilkes Werken, Bd. 1 S.910
2) Die Mandorla hat die Form einer Mandel. Das Heilsgeschehen um Christus wird in den mittelalterlichen Kirchen gerne als Mandorla dargestellt. Christus thront als Pancreator (Schöpfer des Alls) in der Mitte.
3) Siehe zum Begriff des geistigen Seins Ken Wilber, Das Spektrum des Bewusstseins.
4) Siehe den Brief Rilkes an Witold Hulewicz von 1923, in dem Rilke seine Auffassung der "Duineser Elegien" in unmissverständlich klaren Worten darstellt.

 

Gedanken zum Gedicht: "Die Stille"

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1.
Was ist der vom Lesen dieses Gedichtes ausgelöste Impuls? Schließt du die Augen und spürst nach? Kommen dir Fragen?
Ich verweile bei meiner Frage: Musst du die Augen schließen und nachspüren? Wirbeln dir Gedanken durch den Kopf? 
Wohin führt dich das Gedicht in dir drin? Welche Empfindungen stellen sich ein?
Das Gedicht sendet Impulse aus. Es sind noch andere als die von mir erwähnten denkbar. Wichtig ist allein: welcher Impuls ist deiner?
Ich kenne das Gedicht schon eine Weile. Ich habe es schon vor Jahren vorgetragen. Ich erinnere mich sehr genau daran, dass es eine Welle von Stille unter den ZuhörerInnen ausgelöst hat. Die erste Strophe mit ihren drei Wiederholungen habe ich gut in Erinnerung behalten. Die zweite Strophe hingegen hatte ich ganz vergessen. Erst nach einer Weile kam die Erinnerung an die "Handgelenke entfernter Engel" zurück.
Dann habe ich meine Augen geschlossen und auf das "Rauschen" geachtet. Es war ein kurzes, aber intensives Lauschen. Es gab keine Gedanken, sondern nur ein Nachhall des Regens auf dem Dach unter dem ich sitze. Es ist ein lauer Morgen im Mai. Die Luft ist voller Freude und Wachstumskraft. Man möchte gerne draußen sein und am Wachstum der Natur teilnehmen. 
Zwischen dieser meiner Realität und dem Gedicht sehe ich als Verbindung das gemeinsame Lauschen auf die Stille. Und noch eine zweite Verbindung bemerke ich. Auch meine Geliebte ist nicht anwesend. Sie ist vor einer Stunde zur Arbeit gefahren. Auch konnte ich mich heute Morgen, nach einem gemeinsam verbrachten Wochenende, nicht gut von ihr trennen. Ich wünschte sie mir zurück. Vielleicht sitze ich hier und lausche auf die Stille, weil ich sie spüren möchte. Aber sie ist nicht anwesend. Es bleibt die Stille als Brücke in die Ferne, wo die Geliebte weilt. Und eigentlich ist sie dann auch nicht mehr wichtig. Denn die Abwesenheit füllt sich mit Stille und die Stille legt wie einen Verband auf die Wunden, die das Leben der Seele zugefügt hat. Die Stille nährt, wer auf sie lauscht, sobald Unruhe und Angst überwunden sind.

2.
Ich wende mich jetzt in einem zweiten Schritt der "objektiven Gestalt" des Gedichts zu und spüre ihr nach. Der Sprecher der ersten Strophe ist eine nicht näher benannte Beziehung zu einer Frau eingegangen, die er "Geliebte" nennt. Er ist jetzt allein und versucht, die Abwesenheit der Geliebten zu fühlen. Erst hebt er die Hände und spürt dieser Bewegung nach. Dann schließt er die Augen und besinnt sich. Doch dieses sein Tun kann ihm die Geliebte nicht zurückbringen. Er gesteht sich ein, dass er sie vermisst. Das Gedicht erhält von hier aus gesehen den Charakter eines Klageliedes. Es drückt die Empfindung der Trauer aus.
Die zweite, ganz andere Strophe wechselt den Rhythmus und die Diktion. Der Sprecher dieser Strophe nimmt einen zweiten Anlauf, die Stille zu ergründen. Er tröstet sich in den ersten vier Versen mit geschmeidigen Formulierungen in der Art des Jugendstils. Die dann folgenden fünf Verse heben sich deutlich ab. In ihnen vollzieht der Sprecher der zweiten Strophe die Figur einer kosmischen Erweiterung, wie sie in den "Duineser Elegien" häufiger zu finden ist (so habe ich dies in meinem Buch "Wege ins Dasein" genannt.) Sein hartnäckiges Bemühen, die Stille unabhängig von der Geliebten zu erfahren, wird hier mit Erfolg gekrönt. Die Stille offenbart sich dem klagenden Sprecher in ihrer eigenen Dynamik als Sternenkraft und lebendiger Atem. Auch dies sind Schlüsselwörter, die weit voraus auf das Spätwerk Rilkes verweisen. Die beiden letzten Verse kehren in der Art ihrer Formulierung zur ersten Strophe zurück. Sie knüpfen aber nicht nur an und runden die innere Gestalt des Gedichts ab, sondern zeigen etwas. Sie zeigen, dass die Suche des Sprechers nicht umsonst war: es ist ihm gelungen, sich mit der Stille als eigenständiger Größe zu befreunden.

3.
Ich kenne nun meine Empfindungen (1. Abschnitt) und habe die objektive sprachliche Gestalt des Gedichts studiert (2. Abschnitt) und dabei eine These oder Deutung formuliert. Ich sagte, der Sprecher habe die Stille als eigene Realität unabhängig von der Sehnsucht nach der Geliebten entdeckt. 
Bleibt es bei dieser Deutung? Oder wird der ernsthafte Austausch mit Jemand über dieses Gedicht einen neuen Zugang erbringen? Das Besondere am Austausch könnte ja gerade darin bestehen, dass ich lerne, meine Verstehensgrenzen zu erkennen. Gerade wenn mein Gesprächpartner anderer Meinung ist, erhalte ich die Chance zur Überprüfung meiner Position.
Also halte ich Ausschau nach einer geeigneten Gesprächspartnerin. Ein geeigneter Gesprächspartner ist nicht unbedingt jemand, der viel über Rilke weiß. Ein geeigneter Gesprächspartner ist jemand, der sich bereit findet, sich auf den Text einzulassen. 
Eben fand der Austausch statt. Im Gespräch mit K. habe ich verstanden, dass die von mir erarbeitete These eine Projektion meiner eigenen Stille-Erfahrung auf die des Gedichts von Rilke darstellt. Das Gedicht kommt ja zum den Schluss, dass das Denken an die Geliebte und der Versuch, sich von ihr zu lösen und sich ganz auf die Stille selbst einzulassen, keinen Erfolg gebracht hat. Die Stille kann die Geliebte nicht wirklich ersetzen. Die vom Sprecher des Gedichts aufgezählten Wahrnehmungen sind sehr bemüht, bleiben aber machtlos in Bezug auf die Erinnerung an die Geliebte.
Meine eigene Stille-Erfahrung habe ich mit den Worte angedeutet, dass sie die Seele nährt. Nicht mit Gedanken und auch nicht mit Bildern oder Gefühlen, sondern mit dem Schweigen. Im Schweigen offenbart sich die Existenz als solche. Aber alle Worte dafür und darüber können nur einen schwachen Abglanz des Eigentlichen geben.
Wichtig ist auf dieser dritten Stufe das Sichöffnen für neue Deutungen. In dem jetzt entstehenden Raum ist jeder ernsthafte Versuch, zu verstehen, willkommen. Ich habe erkannt, dass mein Verstehen Grenzen hat und dass es gerne mit Projektionen arbeitet. Ich bin bereit, mir meine Projektionen anzuschauen und die Grenzen immer wieder neu zu überschreiten.

4.
Ein letztes Wort über den inneren Zusammenhang der Abschnitte eins bis drei. Ich bin durch das Studium der Literaturwissenschaft und durch meine langjährige Tätigkeit als Lehrer geschult worden, Gedicht als sprachliche Gestalt zu erkennen. Darauf bezieht sich der zweite Abschnitt. Doch dieser Diskurs, so wissenschaftlich er sich auch geben mag, bleibt an subjektive Voraussetzungen gebunden. Welche Voraussetzungen das sein können, zeige ich im ersten Abschnitt auf. Der erste Abschnitt berichtet über den spontanen Zugang. Die Empfindungsebene ist für die Arbeit mit poetischen Texten äußerst wirksam und trägt dazu bei, dass das interpretierende Subjekt etwas für sich selbst aus der Beschäftigung mit dem Text ziehen kann. Der dritte Absatz schließlich reflektiert über die Öffnung der eigenen Lesart im Gespräch. Mir wurde im Gespräch bewusst, dass ich eine einseitige Sichtweise formuliert hatte. Es lag nun nahe, sie zu überdenken. Auf dieser dritten Ebene stehen alle Lesarten des Textes sozusagen gleichberechtigt und gültig und befruchtend nebeneinander. -

Johannes Heiner, Poxdorf im Juli 2007

   

Das Ding als Yantra/Ikone (Sonett II 22, II 6 & II 14)

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von Gisli Magnusson

 

Wenn man ein Hauptmotiv der Sonette an Orpheus auswählen sollte, wäre es Doppelheit und Multidimensionalität jeglicher Erfahrung. RilkesRühmung des Hiesigen besteht in der Ver-gegenwärtigung der mehr-als-hiesigen Essenz der Dinge. Obwohl das orphische Prinzip vom materialistischen Zeitgeist bedroht ist, beteuern uns die Gedichte immer wieder, dass das Göttliche nicht ganz verdrängt werden kann, sondern immer Wege in die Erfahrung findet. Das gleiche gilt für das problematische Selbstbewusstsein des Menschen, das auf selbstdestruktive Weise das offene Bewusstsein verdeckt. Grundlegend scheint die Botschaft der Sonette zu sein, dass Normalperzeption und Gewohnheitsdenken defizitär sind. Alles könnte anders sein: Es könnteorphisch sein! Die Gedichte wollen auf diese orphischen Erfahrungendeuten, zum einen durch Sprachmagie und Suggestivität, zum anderen durch die Beschreibung dessen, was nicht orphisch ist. Rilkes 'Dinge' sind das, was John Senior Yantras nennt: "A symbol [...] is what the Hindu would call a yantra, an image which permits the mind to break through its ordinary limits in order to perceive things not as they seem, but are[.] [...] The value of the symbol is that, in evoking the sensation of vagueness, it stretches the limits of consciousness."1 In der russisch-orthodoxen Tradition, die Rilke eingehend kannte, hat die Ikone eine ähnliche Funktion wie das hinduistische Yantra: Sie sind Fenster zum Mehr-als-Hiesigen, Meditationsobjekte2. In den Sonetten an Orpheus gibt es eine Reihe von Yantras/Ikonen: die Rose, die Blume, den Baum und die Frucht. Im Sonett II 22 sind die essentiellen Dinge das Gegengewicht zur modernen Stadtrealität. Im Gegensatz zu George, der im GedichtKomm in den totgesagten Park - dem dekadenten Stil Huysmans folgend - das Artifizielle in der von Menschen geformten Natur preist, steht die Rilkesche Rühmung der essentiell-göttlichen Spuren in der Park-Natur im Zeichen des Dennoch. Entscheidend ist - wie es in der zweiten Strophe heißt - dass die 'eherne Glocke' ihre Keule 'täglich wider den stumpfen Alltag hebt'3. Es gibt also ein Alltagsbewusstsein, das von einem 'Glocken'-Bewusstsein transzendiert werden kann. Wie bewirkt der Laut der Glocke diesen Bewusstseinsumschwung? Indem der akustische Klang der Glocke die Richtung des Bewusstseins ändert. Das Zen drückt es so aus, dass es im nondualen Bewusstsein beim Glockenläuten keine Glocke und kein Ich gebe, sondern nur das Läuten.4 Die Subjekt-Objekt-Spaltung wird aufgehoben.5

Ein anderes Yantra, das in dieser Strophe genannt wird, ist die ägyptische Säule, die dem Schicksal der Zeitlichkeit trotzt und so in zweifacher Hinsicht zum Symbol des 'Kunst-Werks' wird.6 Zum einen, weil sie durch ihr hiesiges Dauern die mehr-als-hiesige Beständigkeit des 'Kunst-Werks' andeutet. Zum anderen, weil die einsam strebende Säule selbst diese göttliche Richtung ist. Wer die Säule wahrnimmt, stellt die gleiche Richtung im Inneren her. 

Im Orpheus-Sonett II 6 kommt eine solche symbolistische Ikone in Form einer Rose vor. Die thronende Rose des Sonetts hängt strukturell mit dem Rosen-Sonett des ersten Teils (I 5) zusammen. Das Sonett I 5 beschreibt Orpheus als die Essenz der Dinge. Der erste Satz lautet: "Errichtet keinen Denkstein. Laßt die Rose / nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn."7 Hier bezeichnet die Rose kraft ihrer Schönheit und organischen Lebendigkeit die immer neue Erfahrung, die im Gegensatz zur statischen Form des 'Denksteins' im Widerspruch steht. Der 'Denkstein' bezeichnet die zeitlich-begriffliche Fixierung eines Dinges in der Erinnerung.8 Der orphisch-erfahrungsmetaphysische Blick erlebt die Dinge immer im jetzigen Augenblick, wo sie frisch und lebendig sind.9

Im Sonett II 6 wird dichterisch verwirklicht, was eine Rose ist, wenn sie nicht begrifflich-gedanklich versteinert ist, sondern als Ikone oder Yantra aufleuchtet.

Rose, du thronende, denen im Altertume
warst du ein Kelch mit einfachem Rand.
Uns aber bist du die volle zahllose Blume,
der unerschöpfliche Gegenstand.

In deinem Reichtum scheinst du wie Kleidung um Kleidung
um einen Leib aus nichts als Glanz;
aber dein einzelnes Blatt ist zugleich die Vermeidung
und die Verleugnung jedes Gewands.10

Das erste Quartett beschreibt die Evolution der Rose seit dem Altertum bis heute. Von einem 'Kelch mit einfachem Rand' hat sie sich zur 'thronenden Rose' der Gegenwart entwickelt. Dieser Prozess ist kein ausschließlich biologischer, sondern muss im Kontext der Bewusstseinsevolution verstanden werden. Die Rose wird in der Interaktion mit dem menschlichen Bewusstsein immer 'larischer', bis sie eine 'volle zahllose Blume' geworden ist. Die letzte Zeile leitet von der metageschichtlichen Perspektive zur Erfahrungsmetaphysik über: Die Rose ist ein 'unerschöpflicher Gegenstand' geworden. Mit anderen Worten ist sie eine Ikone bzw. ein Yantra geworden, eine Öffnung zur Fülle und Unerschöpflichkeit. Das zweite Quartett setzt die sinnlich-übersinnliche Erfahrung der Rose souverän in dichterische Sprache um. Würde man die Rose mit dem Alltagsbewusstsein betrachten, würde sie zum 'Denkstein' werden, sie würde als Erlebnis versteinern. Erst dem offenen Bewusstsein erscheint die Rose in ihrer Schönheit und ihrem 'Reichtum'. Die 'Kleidung um Kleidung' sind die Rosenblätter, die die Form der Rose ausmachen. Der 'Leib aus Glanz' ist die formlos-übersinnliche Dimension der Rose, die sie überhaupt als schön hervortreten lässt. Nur aus der Sicht des Alltagsbewusstseins sind die folgenden Zeilen paradox. Dass das 'einzelne Blatt zugleich die Vermeidung und die Verleugnung jedes Gewands' ist, heißt, dass die Rose sowohl eine hiesige Form als auch ein mehr-als-hiesiger Glanz ist. Die Rose ist also mit dem Archaischen Torso des Apoll verwandt, der für das Alltagsbewusstsein bloß ein 'entstellter Stein' ist, dem Auge der Gnosis aber 'wie ein Stern aus allen seinen Rändern bricht': Die Form der Statue wird auf das zugrunde liegende göttliche Licht transparent gemacht. Rilke beschreibt also, wie ein Kunstwerk oder ein Ding (Rose) zur Ikone bzw. zum Yantra werden kann, nicht im Sinne einer religiösen Tradition, sondern im Sinne nonkonfessioneller künstlerischer Gnosis.

Im Sonett II 14 kommt ein zusätzliches Beispiel für ein Yantra vor:

Siehe die Blumen, diese dem Irdischen treuen,
denen wir Schicksal vom Rande des Schicksals leihn, -
aber wer weiß es! Wenn sie ihr Welken bereuen,
ist es an uns, ihre Reue zu sein.

Alles will schweben. Da gehn wir umher wie Beschwerer,
legen auf alles uns selbst, vom Gewichte entzückt;
o was sind wir den Dingen für zehrende Lehrer,
weil ihnen ewige Kindheit glückt.

Nähme sie einer ins innige Schlafen und schliefe
tief mit den Dingen -: o wie käme er leicht,
anders zum anderen Tag, aus der gemeinsamen Tiefe.

Oder er bliebe vielleicht; und sie blühten und priesen
ihn, den Bekehrten, der nun den Ihrigen gleicht,
allen den stillen Geschwistern im Winde der Wiesen.11

Das Rosensonett stellt die Schönheitserfahrung in den Mittelpunkt. Das Blumensonett II 14 thematisiert die dem menschlichen Bewusstsein inhärenten Mechanismen der Sabotage. Die Blume ist hier das Yantra, das dem Menschen zeigt, dass es einen anderen Zustand gibt. Die Blume symbolisiert eine dem menschlichen Alltagsbewusstsein entgegengesetzte Seinsform, die nur Gegenwart kennt. Insofern ist sowohl die Thematik als auch der Gegenstand (Blume) mit der Achten Elegie verwandt: "Wirhaben nie, nicht einen einzigen Tag, / den reinen Raum vor uns, in den die Blumen / unendlich aufgehn." Der 'reine Raum' (Weltinnenraum) entsteht nur, wenn das Bewusstsein offen ist. Die Blumen haben kein Selbstbewusstsein und können sich nicht in Vergangenheit und Zukunft verlieren. Sie können ihr eigenes Welken (Zukunft) nicht bereuen, denn Reue gehört zum defizitären menschlichen Bewusstsein. Das zweite Quartett verallgemeinert die Perspektive: 'Alles will schweben', alle Dinge wollen im 'freien Raum' existieren. Dieser schwebende Zustand ist zwar eine Möglichkeit des menschlichen Bewusstseins, aber meistens sind die Menschen 'Beschwerer', die ihr Schwersein in die Dinge hineinprojizieren. Paradoxerweise scheinen die Menschen 'vom Gewichte entzückt' zu sein. Es ist ein Zeichen der Unbewusstheit der Menschen, dass sie im Schweren schwelgen, anstatt es zu transformieren. Als höheres Glied der Seinskette sollte der Mensch der 'Lehrer der Dinge' sein, aber weil er sein Potential zur Offenheit nicht nützt, muss er als 'zehrendes' Wesen mit Neid die 'ewige Kindheit' der Dinge betrachten. Die Regression zur 'ewigen Kindheit' ist zwar nicht möglich, aber die unbewusste Einheit mit dem Offenen, die in den Dingen und Blumen zum Vorschein kommt, erinnert die Menschen daran, dass ihr 'zehrender' Zustand zugunsten eines freischwebenden orphischen Bewusstseins transzendiert werden kann. Die Terzette stellen dar, wie die Dinge/Blumen dem Menschen helfen können. Im Normalzustand verliert der Mensch den Kontakt zur Tiefe. Wenn er sich aber in die Dinge/Blumen vertiefen würde ('ins innige Schlafen'), könnte er an ihrer Seinstiefe teilhaben. Das Gewicht der Zukunft wäre verschwunden: Er käme 'leicht' und 'anders zum 'anderen Tag'. Das letzte Terzett spielt mit dem regressiven Gedanken, dass der Menschen im trancehaften Blumenbewusstsein bliebe. Mit großer Schönheit wird diese hypothetische Gemeinschaft ausgemalt. Der zur Stille Bekehrte würde sich mit seinen 'stillen Geschwistern im Winde der Wiesen' wiegen. Die Harmonie des Zustands wird sprachmagisch durch die 'i'-Assonanzen vermittelt, die ein leises Lächeln indiziert. Die drei 'w'-Alliterationen ahmen die rhythmischen Bewegungen der Blumen nach. Dem idealen Leser reicht Rilkes Sprachmagie, um zur Stille bekehrt zu werden.

1 Senior, John: The Way Down and Out, S. 43.
2 Jenifer S. Cushman misst der Ikone als Parallelphänomen des spirituellen Rilkeschen 'Kunst-Werks' dermaßen große Bedeutung bei, dass sie eine ganze Dissertation darüber verfasst hat. Die spirituelle Dimension in Rilkes Werk assoziiert sie mit der expliziten Spiritualität des russichen Symbolismus. In einem Artikel, der ihre These zusammenfasst, schreibt sie: "Both Kandinsky and Malevich arose from the Russian culture with its 'passion for seeing spiritual truth in concrete forms' [...]; abstract art in Russia thus arose in part from the cultural function of icons and their place in Eastern Orthodox liturgy. Malevich's Suprematist images were essentially two-dimensional shadows and energy residues of theoretical three-dimensional objects that had transcended into the fourth dimension; the painting itself acted as a border or window between our world and the 'other' realm to the supplicant. Exactly that point of spatial transcendence and 'meaningfull [sic] emptiness' that Malevich garnered from the icons that surrounded him became important for Rilke as well. The notion of 'Raum' for Rilke thus relates primarily to the religious realm of icons." (Siehe Cushman, Jennifer [sic]: "The Avant-Garde Rilke: Russian (Un)Orthodoxy and the Visual Arts", in: Unreading Rilke. Unorthodox Approaches to a Cultural Myth. Hrsg. v. Hartmut Heep. New York u.a.: Peter Lang 2001, S. 141) Paradoxerweise leitet die prämoderne Spiritualität der Ostkirche bei Malewitsch, Kandinsky und Rilke hin zur künstlerischen Modernität.
3 SW I 766.
4 "As a great Zen Master said upon his enlightenment: 'When I heard the sound of the bell ringing, there was no bell and no I, just the ringing.'" Wilber, Ken: One Taste. Daily Reflections on Integral Spirituality. Boston: London 2000, S. 53. 
5 Das genannte Bild erinnert an die Subjekt-Objekt-Umkehrung in den letzten Zeilen des Gedichts Archaischer Torso des Apoll, wo das betrachtende Subjekt vom Kunst-Werkbetrachtet wird, eine Bewegung, die als lebensverändernd ausgelegt wird ('Du mußt dein Leben ändern.' SW I 557).
6 Diese Säule in Karnak hat biographischen Hintergrund. Rilke hatte sie auf seiner Ägyptenreise wahrgenommen und schon im Gedicht In Karnak wars aus dem Zyklus Aus dem Nachlaß des Grafen C. W. bearbeitet: "[...] Und jetzt, für unser ganzes Leben, / die Säule -: jene! War es nicht genug? // Zerstörung gab ihr recht: dem höchsten Dache / war sie zu hoch. Sie überstand und trug / Ägyptens Nacht. [...] Wir brauchten eine Zeit, dies auszuhalten, weil es fast zerstörte, / daß solches Stehn dem Dasein angehörte, / in dem wir starben." SW II 118f. [Hvh. v. Rilke]
7 SW I 733.
8 Die Fixierung in der Erinnerung unterscheidet sich von der kontemplativen Erinnerung einer Gipfelerfahrung, die bei Rilke einen positiven Stellenwert hat.
9 Es könnte sich hier um einen intertextuellen Hinweis handeln, denn bei Emerson, den Rilke als junger Mann intensiv rezipierte, finden wir eine fast identische Beschreibung der Rose: "These Roses under my window make no reference to former roses or to better ones; they are for what they are; they exist with God to-day. There is no time to them. There is simply the rose; it is perfect in every moment of its existence [...] But man postpones or remembers; he does not live in the present, but with reverted eye laments the past, or, heedless of the riches that surround him, stands on tiptoe to forsee the future. He cannot be happy and strong until he too lives with nature in the present, above time." Emerson, Ralph Waldo: Self-reliance, in: R.W.E.: The Spiritual Emerson, S. 97.
10 SW I 754.
11 SW I 760. 

 

Gedanken zum Gedicht: "Mariae Heimsuchung"

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Am Anfang steht eine Kamerafahrt über das jüdische Land mit seinen Bergen und Tälern, auf die schwangere Frau zu. Man sieht sie groß im Bild, wie sie aufwärts steigt. Sie ist schwanger und es bereitet ihr sichtlich Mühe, sich zu bewegen.

Auf irgendeinem dieser Hügel befindet sich der Hof, wo die Tante Elisabeth wohnt. Nicht die Berge in ihrer kargen Schönheit sind wichtig, und auch nicht der dicke Bauch, der Beschwerlichkeiten verursacht. Noch nicht einmal der Name "Maria" wird genannt. Sondern wichtig ist etwas Anderes, das sich im Innern der Frau befindet. Nicht der dicke Bau ist gemeint, sondern das damit verbundene Lebensgefühl von Fülle. Der Dichter sagt es im Bild: die Fülle der Schwangeren ist wie ausgebreitet über das jüdische Land.

Es tut gut, die Fülle der Schwangeren nachzuempfinden und dadurch Anteil an ihrem Schicksal zu nehmen:

Aber nicht das Land,
ihre Fülle war um sie gebreitet;
gehend fühlte sie: man überschreitet
nie die Größe, die sie jetzt empfand.
 

Aber Maria ist nicht alleine mit sich. Elisabeth hat sie bereits empfangen. Maria bleibt noch eine Weile in das Gefühl der seelischen Fülle vertieft, das ihr die Schwangerschaft bereitet. Aus diesem inneren Gefühl löst sich der Impuls, Elisabeth zu berühren. Die Fülle drängt nach außen. Die Geste geht nicht irgendwohin, sondern sie geht direkt zum Bauch der Anderen. Erst dann folgt die Berührung der Gewänder und der Haare. Sie ist ein Ausdruck der Bewunderung, wie schön die Andere ist. In dieser Bewunderung, die beantwortet und geteilt wird, nähern sich die beiden Frauen einander an, ganz ohne Worte, in tiefem Einverständnis.

Und es drängte sie, die Hand zu legen
auf den andern Leib, der weiter war.
Und die Frauen schwankten sich entgegen
und berührten sich Gewand und Haar.
 

Die von Maria gesprochenen Worte, das Magnifikat, sind in der Bibel nachzulesen. Das Magnifikat gehört zu den schönsten Stellen der Bibel. Dem Dichter, der diese Begegnung zwischen Maria und Elisabeth beschrieben hat, sind die Gesten wichtiger als die Worte, die gesprochen werden. Er wusste, dass die tiefen Regungen der Seele sich der sprachlichen Mitteilung entziehen. Es war ihm wichtig, die Stille hinter den Worten auszudrücken. Das Schweigen wird manchmal tiefer empfunden. als die dürren Worte, die man dafür findet, es tun könnten.1

An dieser Stelle könnte das Gedicht zu Ende sein. Ist es aber nicht. Wie geht es weiter? Man darf gespannt sein!

Der Dichter setzt mit der letzten Strophe den passenden Begriff auf das Geschehen drauf:

Jede, voll von ihrem Heiligtume,
schützte sich mit der Gevatterin.
 

Der Begriff ist "das Heiligtum"; mit "Fülle" wurde ihm bereits vorgearbeitet, mit "Heiland" schwingt er nach. Die beiden Frauen halten ihre Bäuche fest und sie halten sich untereinander fest. Sie haben keinen anderen Schutz als den, den sie sich zu geben in der Lage sind. Die zu Gebärenden, der Heiland, und Johannes der Täufer, sind noch weit weg und sie sind verletzbar. 

Ach der Heiland in ihr war noch Blume 

Die Blumen sind für Rilke ein Symbol für das echte Leben, das immer einfach ist, wenn es mit dem Herzen gelebt wird. Maria und Elisabeth, die Schwangeren, begegnen sich in ihren Herzen und beschenken sich mit ihrer Lebensfreude. Das ist die Botschaft eines der schönsten Gedichte von Rilke. 

Johannes Heiner im Dezember 2008

1 Zum Thema Rilke und die Stille, siehe unter "Rilke-Studien"; der Aufsatz ist soeben im "Publik-Forum Extra Stille. Der Klang der Ewigkeit" erschienen.

   

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