Gedichtbetrachtung

Gedanken zum Gedicht "Der Schauende"

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für Willigis Jäger zum 80. Geburtstag

Ich sehe den Bäumen die Stürme an
die aus laugewordenen Tagen
an meine ängstlichen Fenster schlagen,
und höre die Fernen Dinge sagen,
die ich nicht ohne Freund ertragen,
nicht ohne Schwester lieben kann.

Da geht der Sturm, ein Umgestalter,
geht durch den Wald und durch die Zeit,
und alles ist wie ohne Alter:
die Landschaft, wie ein Vers im Psalter,
ist Ernst und Wucht und Ewigkeit.

Wie ist das klein, womit wir ringen,
was mit uns ringt, wie ist das groß;
ließen wir, ähnlicher den Dingen,
uns so vom großen Sturm bezwingen, -
wir würden weit und namenlos.

( Die Strophen 4,5,6 folgen weiter unten)


Wenn wir uns ihnen zuwenden, bringen Gedichte Saiten in uns zum Erklingen, die uns selbst gar nicht so sehr bewusst sind. Wir wundern uns über uns selbst und über den Dichter. Wie konnte er dies nur wissen, so fragen wir uns dann. Dank des Gedichtes spüren wir, wo wir uns befinden. Was reif geworden ist und was noch Zeit braucht. Eine unschätzbare Rückmeldung also kann von der Begegnung mit Gedichten ausgehen. 

Manche Gedichte bringen diese Saiten immer wieder zum Erklingen. Ein solches Gedicht ist für mich "Der Schauende". Es begleitet mich seit drei Jahren. Da war es mir von einem Freund gezeigt worden. Nun zeige ich es dir, der du dies liest. 

Der Schauende ist der kontemplative Mensch. Ist der Mensch, der dem Überlebenskampf Zeit und Raum für ein Stündchen alleine mit sich und mit Gott abtrotzt. Im stillen Kämmerlein oder im Kontemplationshaus oder in der freien Natur. 

In der gesammelten Stille kann es dann geschehen, dass "die Fernen/ Dinge sagen - die ich nicht ohne Freund ertragen,/ nicht ohne Schwester lieben kann". Die Wahrheit kann schwer auf mir lasten. Manchmal lastet sie, manchmal beflügelt sie und macht leicht. Da spüre ich dann mein Angewiesensein auf das Gespräch mit dem Freund, mit der Freundin, in der Gruppe. Erst im Gespräch finde ich zu dem, der ich wirklich bin. Erst im Gespräch wird mir als Individuum die ungeteilte Aufmerksamkeit von einem Du zuteil. Etwas Wertvolleres als uns selbst und die liebevolle Zuwendung des Du haben wir in diesem Leben eigentlich nicht. 

In der gesammelten Stille erfahre ich das Gegenwärtigsein in einer Art Zeitlosigkeit. Der "Sturm" meiner Gedanken und Gefühle setzt mich auf einer Hochebene ab, auf der es nur noch still ist: "ohne Alter". Wie wunderbar der Vers: "und alles ist wie ohne Alter: / die Landschaft, wie ein Vers im Psalter,/ ist Ernst und Wucht und Ewigkeit"

In der gesammelten Stille schließlich kommt das rastlose Tun meiner hin-und hereilenden Gedanken zum Erliegen. Sie werden nicht mehr gefordert. Der Kontemplative fördert sie auch nicht, das ist ja sein "Job"- und irgendwann kehrt Ruhe ein. Wir sind "weit und namenlos" geworden. Wir haben uns darauf eingelassen, dass wir "ein Nichts" sind. In der Freiheit des Niemandseins können wir neu geboren werden. 

Rilke war ein Kontemplativer avant la lettre. Er hat die Schau erfahren, ohne von einem Lehrer angeleitet worden zu sein. Seine tiefsten Erfahrungen hat er in den "Duineser Elegien" niedergelegt. Wir müssen nur hinhören: "Aber das Wehende höre,/ die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet" (aus der ersten Elegie). In unserem Text heißt es: 

Wie ist das klein, womit wir ringen, 
was mit uns ringt, wie ist das groß; 
ließen wir, ähnlicher den Dingen, 
uns so vom großen Sturm bezwingen, - 
wir würden weit und namenlos. 

Was wir besiegen, ist das Kleine, 
und der Erfolg selbst macht uns klein. 
Das Ewige und Ungemeine 
will nicht von uns gebogen sein. 

Der kontemplative Mensch lebt also in der Hingabe an das, was ist. Kein Wille ist mehr nötig und kein Machen ist mehr erforderlich. Seine Haltung besteht im Warten auf das Wunderbare. Er lädt das Wunderbare ein, dass es sich in seinem Leben ereignen möge. Er lebt in der Nicht - Erwartung auf den "Engel". Das ist die beste Einladung an ihn. Und der Engel kommt ganz sicher - so wie alles Realität wird, was man sich sehnlichst wünscht: 

Das ist der Engel, der den Ringern 
des Alten Testaments erschien: 
wenn seiner Widersacher Sehnen 
im Kampfe sich metallen dehnen, 
fühlt er sie unter seinen Fingern 
wie Saiten tiefer Melodien. 

Ich lese diese Verse so: dem Engel ist die Leichtigkeit zu eigen. Er hat das Stadium des Kämpfens überwunden. 

Wen dieser Engel überwand, 
welcher so oft auf Kampf verzichtet, 
der geht gerecht und aufgerichtet 
und groß aus jener harten Hand, 
die sich, wie formend, an ihn schmiegte. 
Die Siege laden ihn nicht ein. 
Sein Wachstum ist: der Tiefbesiegte 
von immer Größerem zu sein. 

Ich habe schon gelegentlich meines Versuch einer Darstellung des spirituellen Lernprozesses von Rilke über den Malte-Roman gesagt, dass dieser meisterhaften Dichtung ein "gereiftes" Verhältnis zum Realitätsprinzip zugrunde liege(siehe die beiden Vorträge unter www.lyrikrilke.de /Studien). Unser Gedicht-Text, so scheint mir, führt einen großen Schritt weiter. Die Haltung der Kontemplation entspringt dem Geist der Annahme. Sie bewirkt im Bewusstsein des Menschen eine Umkehrung der Haltung des "Machens" in die des bereitwilligen Erduldens. Sie verändert die Perspektive vom Wahrnehmen des Individuellen und Singulären zu dem des Ganzen und Universellen. Im Erleiden wird mein Bewusstsein geschärft. Im Erleiden erfährt es seine Begrenzung und Schwäche. Es erhält dadurch die Chance, sich als Teil des Ganzen zu begreifen. Der seine Wünsche überwindende Mensch gelangt in den Zustand des Loslassens. Die Annahme des Widerstrebenden bewirkt, dass er die "harte Hand" des Lebens aushalten kann - und Heilung erfährt. 

Johannes Heiner im Januar 2005

 

Gedanken zum Gedicht "Wenn es nur einmal so ganz stille wäre..."

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Auch Gedichte drücken "es" - erstaunlicherweise aus. Vielleicht nicht mit christlichen Worten und Begriffen, aber doch in wunderbarer lyrischer Weise. Es gibt schöne - man könnte sagen spirituelle - Gedichte von Eichendorff, Mörike, Rilke, Kabir, Tagore... Bachmann... 


Zunächst geht es um die Stille, die der Mensch, der in diesem Gedicht spricht, sucht - und nicht so leicht findet. Er sucht sie zunächst, um wach zu sein, und dann um ein "dich" zu Denken, ein "Dich" zu besitzen und das "Dich" zu verschenken an alles Leben. Dieses "dich", das Rilke anspricht, könnte man, christlich ausgedrückt, als Gott bezeichnen, der im Christentum oft als Du, als Gegenüber, als Vater, als eine Art Person gesehen wird. 
(Interessant ist, dass in dem Gedicht - ohne das zu benennen - Eigenschaften von Meditation beschrieben werden. Gott, also das Du, das"Dich", kann ich möglicherweise erfahren, wenn es ganz still ist. An der Stille hindern mich die äußeren Geräusche und die inneren Geräusche, also das Denken, die Gefühle, das Geräusch, das meine Sinne machen.) 


Zeile für Zeile:

  1. Wenn es nur einmal so ganz stille wäre...
    Am Anfang steht ein Wunsch, ein Sehnen, eine Sehnsucht....
    Unser Kurs steht unter dem Thema: "Ruhe suchen - Stille finden"
    Ach - wenn doch nur einmal Ruhe wäre ..
    Ach - wenn doch einmal Friede wäre...
    Ach - wenn doch einmal Entspannung wäre...
    Ach - wenn doch einmal eine Lösung wäre...
    Solche Sätze kennt jeder, ein Ausruf, ein Wunsch.

  2. Was steht dem im Wege?
    Das Zufällige...
    Das Ungefähre...
    Vielleicht meint der Dichter damit die zufälligen Einfälle, was so einfach immer wieder in unseren Sinn kommt, was uns sozusagen"zu-fällt", von irgendwo her, die Gedanken, die Gefühle, die Erinnerungen, die in uns einfallen, die aus uns auftauchen... 
    Das Ungefähre: manchmal merken wir gar nicht genau, was es ist, was uns bewegt, was uns umtreibt, auch beim Spüren können wir oft nicht genau sagen, was es ist. Und das ist manchmal gar nicht so einfach, das wahrzunehmen. Es ist diffus, es ist noch nicht klar. 
    Und trotzdem, gerade auch das Ungefähre kann uns abhalten. Und auch das, auch wenn wir es nicht genau kennen oder wissen, sollen wir gehen lassen. 

  3. "Das nachbarliche Lachen...." das ist auch die tickende Uhr (für Johannes Heiner: im Raum, in dem wir üben, hängt eine tickende Wanduhr, die natürlich niemand bemerkt, nur wenn dann Stille ist, dann hört sie jeder...), das Geräusch der sprechenden Menschen vor der Tür, die Schritte auf dem Stein-Boden, die Musik im Nachbarhaus, das Rauschen der Heizung, wir kennen das gut... 

  4. "Das Geräusch, das meine Sinne machen"
    Wir haben fünf Sinne, vier davon sind im Kopf angesiedelt: das Sehen, das Hören, das Riechen, das Schmecken. Dann noch das Tasten. Diese Sinne machen "Geräusche" - ein interessanter Ausdruck. Das Sehen macht ein Geräusch. Das Wort Geräusch bezieht sich auch wieder auf "die Stille" in der ersten Zeile. Die Sinne stören die Stille. Das Sehen, das Hören, das Riechen .... stört die Stille. 
    (Hartmut würde noch für Johannes einfügen: für mich ist da ein Widerspruch: auf der einen Seite leite ich an zum "Spüren" und dazu, die Sinne zu gebrauchen, und dann sage ich, die Sinne machen "Lärm", "Geräusch", sie sind störend.) 

  5. Dies alles stört mich am Wachen. Ich würde sagen, ich kann nicht wirklich wach sein, wenn ich von meinen Sinnen, vom Geräusch meiner Sinne belegt bin. Wenn dauernd etwas Zufälliges in uns einfällt. 

Das Wach-sein ist die Voraussetzung zu einer Gottes-Erfahrung. Und wenn äußere, und dann innere Stille da ist, dann kann ich Gott denken, ich würde vielleicht sagen: Gott "erfahren", vielleicht einen Moment lang"besitzen" (Ich mag das Wort "besitzen" nicht, weil es eigentlich nicht stimmt, der Mensch kann Gott nicht besitzen - aber ich achte die Wortwahl des Dichters). 

Dieses Besitzen ist mit einem Lächeln verbunden, man könnte sagen, mit einem Gefühl von Glück, von Glückseligkeit. Und wie man von Erleuchteten weiß, ist dieser Augenblick meist nur kurz. Der Dichter (und die Erleuchteten, von denen berichtet wird) wollen diese Erfahrung nicht für sich behalten, sondern sie dem Leben schenken, ins Leben gehen damit, es allen verschenken in Freude und Liebe. Pater Willigis sagt, die Erfahrung Gottes, die Erfahrung der Einheit, ist nicht Selbstzweck, sondern sie ist der Weg in den Alltag, der Weg zu den Menschen. 

Gedanken von Hartmut Baur 




Lieber Hartmut,

hier also meine Ergänzung zu Deinen schönen und berührenden Worten. Sie kommt mehr aus meinem Wissen über die Figur des (russischen) Mönchs, dem Rilke ja den ersten Teil des "Stundenbuchs" in den Mund gelegt hat. Und da siehst Du schon, dass es Sinn macht, dies zu wissen: es ist ein inbrünstig Suchender, der hier spricht. Er würde gerne noch viel weiter über sich hinaus gehen. Er würde gerne - Gott richtig nahe sein. Rilke spricht zwar von "Gedanken" und sogar noch in einer potenzierten Form des "tausendfachen Gedankens"; aber man kann getrost das Fühlen an die Stelle des Denkens setzen. Es geht dem Mönch darum, eine gefühlsmäßige Nähe zu Gott herzustellen
Von hier aus gesehen, versteht man auch die Aussage besser, dass die Aktivitäten der Sinne der Erfahrung der vollkommenen Stille "im Weg"stehen. Die Sehnsucht des Mönchs ist eine pfingstlich brennende. Sie duldet werder Aufschub noch Trennung noch Ablenkung und Zerstreuung.
So viel für Jetzt. Ich werde gerufen, den Käse für das Mittagessen zu reiben.

Grüße von Johannes

 

Zur Einführung in die Gedichtsammlung: "Les Quatrains Valaisans"

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erschienen in Paris 1926
Die "Vierzeiler aus dem Wallis" erschaffen ein eigene poetische Landschaft. Rilke hatte den Turm von Muzot nahe Sierre im oberen Rhonetal im Herbst 1921 bezogen. Er blieb dort bis zu seinem Tod am 27. Dezember 1926 wohnen. Die Erfahrung mit den Gedichten dieser Sammmlung zeigt, dass der Zugang zu ihnen leichter wird, wenn man die poetische Idee dieser Landschaft verstanden hat. 
Rilkes Wallis ist ohne Zweifel ein "schönes Land" voller Farben und Gerüche. Rilke wird nicht müde, es in immer neuen Worten zu versichern. Wir fragen nach der Idee, die Rilkes Landschaftsgemälde zugrunde liegt. 
Der Dichter beschreibt zunächst die Struktur des Zeit-Erlebens und der Räumlichkeit. Er gewinnt sie auf dem Wege der Abstraktion von den konkreten Einzelheiten. Die Struktur der Zeit wird durch das Läuten der Glocken vermittelt. Das Glocken-Läuten regelt den Ablauf des Alltags für die Menschen, die hier auf dem Lande leben. Der Tag steuert auf den Abend zu, wenn nach dem letzten Läuten alles ruhig wird. Die Wochentage ihrerseits steuern auf den Sonntag zu als dem siebten Tag der Ruhe. Die Struktur des Raumes ist offensichtlicher. Die Landschaft des Tales wird vom Himmel bestimmt. Der Himmel scheint die Landschaft erbaut zu haben. Rilke kannte den unendlichen Himmel von seinen Aufenthalten in der Provence und von Spanien her. Im Wallis fand er ihn wieder. 
Beide Strukturen werden schließlich in dem Versuch verbunden, die Landschaft zu vergöttlichen. Die von Rilke beschworenen Göttinnen und Götter sind heidnischer Herkunft. Rilke hatte sich mit seinem "Brief eines jungen Arbeiters" (1922) vom Christentum los gesagt. Aus der Vergottung der Landschaft leiten sich die Eigenschaften der Klarheit, Einfachheit und der Stille ab. Die Gottheit hat sich der Landschaft sozusagen hingegeben. Wer in der Landschaft weilt, ruht im Herzen der Gottheit. Rilkes gühender und auf das Wesentliche gerichteter Blick hat die in die Landschaft eingeschlossene Gottheit aus ihrem Schlaf befreit. 
Literarisch gesehen, wird man sich an die erst eineinhalb Jahre zurück liegenden "Sonette an Orpheus" erinnern. Die Sonette waren dem Gott Orpheus dargebracht worden, dessen Körperteile bei seiner Ermordung durch die Furien der Legende nach über das Land ausgebreitet worden sind. Die "Sonette" wirken also nach. Wichtiger noch scheint mir allerdings die Inspiration zu sein, die das poetische Werk von Paul Valéry für Rilke bedeutet hat. Rilke war 1921 auf das "Grab im Meer" von Valéry gestoßen. In seiner Begeisterung hat er gleich damit begonnen, das umfangreiche Werk zu übersetzen. Mit der Dichtung Valérys war er auf eine kongenialen Deutung der Welt aus dem Geist der heidnsichen Götter gestoßen.


   

Gedanken zum Gedicht Todeserfahrung

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von Ulrike Sievert

Das Gedicht hat mich sehr angesprochen, weil es meine eigenen Erfahrungen in so wunderbarer Sprache wiedergibt. Rilke beschreibt, was der Tod einer nahestehenden Person im Leben der Hinterbliebenen bewirken kann. Der Tod führt dir vor Augen, dass das Leben endlich ist, dass auch du endlich und vergänglich bist. Im Lichte dieser Wirklichkeit, d.h. indem du dich dieser Wirklichkeit stellst, wird alles Leben echt und intensiv: grün wirklich grün, Sonne und Wald sind dann nur dazu da, gefühlt und geatmet zu werden, du erkennst inmitten der jahrhundertealten Bäume und unter der jahrmillionenalten Sonne deine eigene unabänderliche Vergänglichkeit mit einem siebzig-, wenn es hoch kommt achtzigjährigen Leben. Die Todeserfahrung macht, zumindest für einen Augenblick, Schluss mit dem Theater, das wir täglich abziehen - Rollen, die wir spielen, weil wir denken, wir müssten so oder so sein, um zu gefallen, um den Job zu behalten, um Anerkennung oder Liebe zu bekommen usw. Auch dem Tod haben wir eine Rolle zugedacht, in unserer Kultur ist er etwas Beklagenswertes. Aber diese Rolle entstellt ihn, denn er ist der, der unser Leben nicht nur zu einem Theaterstück macht, sondern erst zu einem wirklichen Leben - weil uns das Wissen um unsere Endlichkeit dazu bringt, wirklich mit jeder Faser unser Leben zu leben, oder, wie Rilke sagt, 'das Leben zu spielen' und nicht eine Rolle 'wie im Leben'. Ein Leben, wie es unserer ureigensten Bestimmung entspricht, egal, wie andere darüber denken, 'nicht an Beifall denkend'. Carpe diem, das lehrt mich der Tod. Das fällt schwer, wie Rilke es beschreibt, 'wir spielen weiter' unsere Rollen. Aber beim Gedenken an die Toten können wir der Wirklichkeit unserer Endlichkeit wieder ins Auge schauen. Das ist das große Geschenk, das die Toten uns machen. Bei allem Schmerz bin ich dankbar für diese Erfahrung. 
Unsere Gesellschaft schätzt Altern, Alter, Verfall und Tod nicht wert. Der herrschende Jugendwahn will diesen Aspekt des Lebens (noch) unter den Teppich kehren. Anti-Aging-Produkte legen nahe, dass Altern etwas ist, das bekämpft werden muss. Graue Haare sollen gefärbt, körperliche Verfallserscheinungen wegoperiert werden usw. Rilkes Text lehrt uns, dass erst die Anerkennung der Wirklichkeit des Todes uns zum richtigen Leben führt. Und so denke ich nicht, dass ihm die Todeserfahrung wichtiger ist als die Lebenserfahrung, wie du schreibst, sondern dass Leben unter Ausklammerung des Todes kein wirkliches ist. Wirklich in dem Sinne, dass wir unser Leben leben, nicht eines, das andere von uns erwarten bzw. eines, in dem wir uns in Rollen pressen lassen, die nichts mit unseren Sehnsüchten und Zielen zu tun haben.

 

Gedanken zu den Gedichten "Ausgesetzt..."

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"Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens..."
"Einmal noch kam zu den Ausgesetzten"

Der Text "Ausgesetzt..." beeindruckt mich maßlos, obwohl er Fragment geblieben ist. Eine Art Antwort erhielt Rilke vom Leben und seinen Launen selbst. Das launische Leben wollte, daß Rilke die werdende Malerin Lou Albert Lasard kennenlernte und die beiden sich sehr rasch und gründlich verliebten. Rilke trug das Gedicht in das Schreibheft für Lou Albert Lasard ein. Es trägt den Vermerk: "Aus den "Elegien". Abschrift".Der zweite Text findet sich als Nummer 5 unter den fünfzehn Gedichten, die Rilke zwischen dem 17. September und dem 10. Dezember 1914 für Lou Albert Lasard abgeschrieben und ihr gewidmet hat. Ich blende diese Zusammenhänge hier aus und verweise auf meinen Vortrag zum Thema.1)

Der Text beeindruckt maßlos, weil es ihm gelingt, die desolate Stimmung des modernen Menschen auszudrücken, der seinen "inneren Himmel"verloren hat. Denn an wen oder was soll sich der moderne Mensch denn halten, der den Glauben an Gott verloren hat? Der erste moderne Mensch in diesem Sinne war meiner Meinung nach Friedrich Nietzsche. Auch er hat um das Heil der Seele gerungen, ohne jedoch einen anderen Ausweg als den Wahnsinn zu finden. Während seines Besuches in Spanien hat Rilke diese Stimmung intensiv gespürt und in mehreren Gedichten zum Thema der "Nacht der Seele" (Johannes vom Kreuz) an ihrer Läuterung gearbeitet. 2)

Der moderne Mensch fühlt sich aus dem Paradies vertrieben und im Zwiespalt mit sich selbst. Er hat das Bewußtsein seiner Individualität und Freiheit erlangt. Aber er hat den Sinn des Lebens verloren. 3) Rilke verleiht diesen Gefühlen dichterischen Ausdruck. "Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens". Diese Formel umschreibt die Gipfel-Einsamkeit eines Menschen, der sich der Erfahrung der Tiefe hingegeben hat. Der Text wiederholt die Formel drei Mal. Die damit erreichte Steigerung ist nicht zu übersehen. In den "Elegien" findet man verschiedene Varianten von solchen Steigerungen. Eine der Augenfälligsten steht am Anfang der siebten Elegie. "Nicht nur die Morgen alle des Sommers, ...Nicht nur die Tage ..., Nicht nur die Andacht dieser entfalteten Kräfte, nicht nur die Wege..., sondern die Nächte". Merkwürdig, daß diese Steigerungen bei Rilke nicht pathetisch wirken.

Die Klage, die das lyrische Ich führt, stellt aber nur die mehr äußere Seite dar. Gleichzeitig nämlich findet der moderne Mensch nun endlich zu seinem eigenen Herzen. Er ist angekommen in sich selbst! Keine Macht der Welt kann ihn mehr in Ketten legen! Zwar ist sein inneres Land Wüste, aber es ist Herzland. Und schon beginnt das Land, das eben noch Öde war, zu sprießen. Zart zwar und spärlich, aber es ist unübersehbar das Leben, das sich im Frühjahr regt. Es handelt sich um Neues Leben. Das Neue Leben wird aus der Erfahrung des Nichts geboren. Außen und Innen verschmelzen zu einer neuen Einheit. Es entsteht die neue Qualität des "Weltinnenraumes", wie Rilke selbst es in einem Gedicht genannt hat.4

Also findet sich der moderne Mensch im Zentrum des Lebens ausgesetzt. Nicht verloren, sondern nur ausgesetzt. 

In diesem Moment beginnt die Rühmung, wie Rilke die komplementäre Haltung zur Klage genannt hätte. Die "Rühmung" besteht darin, dem Leben wie es ist, etwas Positives abzugewinnen. Der Sprecher des Gedichts hält Ausschau nach etwas, das Lebens-Sinn machen würde: Er läßt eine "letzte Ortschaft der Worte" und ein "letztes Gehöft von Gefühl" hinter sich und stößt in die dünner werdende Gipfelluft vor und auf den steinigen Boden vor ihm, zu seinen Füßen liegend, blüht es auf.

Der positive Aspekt erfährt im Bild des "Wissenden" eine weitere Steigerung. Doch die aufkeimende Hoffnung wird sofort zurückgenommen. Was ist, ist jenseits von Trauer und Freude. Es ist und es verweigert sich dem beurteilenden Denken. Es ist einfach da. Es handelt sich um "der Gipfel reine Verweigerung". 

Und so ist es kein Zufall, daß am Schluß des Fragments Formeln auftauchen, die Hoffnung andeuten: das "gesicherte Bergtier" und der"geborgene Vogel". Sie stehen für das, was man das "heile Bewußtsein" nennen könnte. Das Neue Leben, so Rilkes Entdeckung in den Jahren seiner größten Verfinsterung, treibt aus dem "Steingrund" und aus dem"Absturz" hervor.

Die achte Elegie wird diese Gedanken wieder aufnehmen und programmatisch vertiefen. Die Dialektik von Klage und Rühmung findet hier in der Darstellung des entfremdeten und des heilen Lebens der Kreatur einen Höhepunkt. Rilkes Hinweis auf die "Elegien" in dem Schreibheft, das er Lou Albert Lasard geschenkt hat, besteht zu Recht.5)

Die beiden Texte drücken das Lebensgefühl der Klage sehr präzise aus. Die Klage ist für Rilke immer auch Rühmung. Es gilt, das Herz in seiner Tiefe aufsuchen und sprechen zu lassen. In der Tiefe des Herzens wirkt das Heilsein der Seele auch in der modernen Welt fort. Die "Sonette an Orpheus" und die französischen Gedichte haben die Haltung des Rühmens noch um eine weitere Nuancen bereichert. 

27. Februar 2006 

Anmerkungen
1) Siehe dazu meinen Vortrag "Lou Albert Lasard und Rainer Maria Rilke. Bilder einer schwierigen, aber fruchtbaren Beziehung". Demnächst online. 
2) Siehe meinen Aufsatz "Rainer Maria Rilke als Mystiker" in: Peter Lengsfeld, Mystik - Spiritualität der Zukunft. Erfahrung des Ewigen. P. Willigis Jäger zum 80. Geburtstag. Herder Freiburg 2005 bes. S. 383 ff.
3) Willigis Jäger, Suche nach dem Sinn des Lebens. Bewußtseinswandel durch den Weg nach innen. Via Nova Verlag, Petersberg 1996 ff..
4) "Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen"
5) Siehe meine Deutung der achten Elegie in: Wege ins Dasein. Spirituelle Botschaften der "Duineser Elegien", Edition Goldbeck-Löwe, Berlin 2004, S.142 ff.

   

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