Narziss und Goldmund

Narziss und Goldmund - 3.3. "Mit offen Augen durch die Hölle" - Neue Selbstfindung als Künstler

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Die Erlebnisse, die Goldmund auf seiner zweiten Fahrt durch die Lande beschert werden, sind alles andere als schön und erbaulich. Goldmund begegnet dem Schatten ein weiteres Mal in Gestalt der Pest. Sein Erschauen der Gesichter und Figuren, die der Tod auf seinem Durchgang durch die Dörfer und Städte hinterlässt, zeigen einen Goldmund, der immer auch als Künstler schaut. Er kann sich, sehr zum Ärger seines Compagnons Robert, solange nicht von den Toten trennen, weil er sich ihre Züge eingeprägt. Er weiß, dass er sie später zeichnen wird.

Die Begegnung mit dem Tod mobilisiert in Goldmund den Wunsch nach dem Unvergänglichen in der Kunst. Dieser Aspekt scheint mir für diese zweite Phase der Wanderschaft von Goldmund sehr wichtig zu sein. Als Goldmund mit Viktor unterwegs war, war er auf Genuss und Überleben aus. Das Kunstschaffen hat damals noch keine aktive Rolle in seiner Wahrnehmung der Welt gespielt. Das ist jetzt anders geworden. Goldmund wandert als ausgebildeter Künstler durch die Lande. Er sammelt innere Bilder. Und er verzweifelt, wie schnell das Leben vergehen kann. Die grausigen Bilder der Pest stellen einen einzigen Totentanz dar. Der Erzähler präzisiert aber nachdrücklich, dass Goldmund nicht so sehr von der Tatsache der Sterblichkeit berührt wird, als vielmehr von Überlegungen, wie er als Künstler ein solches Thema gestalten würde. Für ihn hat der Tod auch eine liebevolle, ja zärtliche Seite. Im Tod empfängt die große Mutter ihre Kinder zurück in ihrem Schoß. 

Der Gedanke an das eigene Sterben mobilisiert in Goldmund den Wunsch nach dauerhafter Gestaltung in der Kunst. In der Nacht, bevor er getötet werden soll, erwacht der Trieb zum Leben so stark, weil Goldmund sich bewusst wird, dass er sein Lebensziel noch nicht erreicht hat. Er will nicht sterben wie jene Fische im Wasser, die er so oft geschaut hat. Er will Spuren hinterlassen, die ihn überdauern. Dieses Ziel vor Augen, erfindet Goldmund den Plan, den Geistlichen zu ermorden, der ihm die Beichte abnehmen soll. Zum Glück braucht er diesen Plan nicht auszuführen.

Goldmund ist nun reif für das beständige Schaffen in der Kunst. Er hat seine Anlagen zum sinnlichen Erfassen des Lebens und sein Können als Künstler so weit entwickelt, dass er es "verdient" hat, dass man ihm eine Werkstatt spendiert. Er hat auch genug vom Leben gesehen, um für längere Zeit das Gefühl des Eingesperrtseins hinten an stellen zu können. Er hat von Narziss die Anerkennung für seinen Weg als Künstler erhalten. Nun kann er loslegen und seine Figuren erschaffen.

 

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Narziss und Goldmund - 3.2. Erstes Künstlertum: Berufung und Ausbildung

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Nach der Krise fühlte Goldmund den Wunsch in sich stark werden, das Leben außerhalb der Klostermauern kennenzulernen. Er trinkt das Vagantenleben in heftigen Zügen, bis er auf Viktor stößt. Mit Viktor kommt der Schatten des Vagantentums zu ihm.6 Er findet wenig Geschmack an der Art und Weise, wie Viktor die Bauern ausnimmt. Er muss sein Leben gegen das von Viktor einsetzen, als Viktor ihn im Schlaf überfällt. Goldmund wird durch die Mordtat und in der Folge von ihr durch das schlechte Gewissen aus seiner Unschuld gerissen. Erst durch die Beichte finden seine Seelenkräfte zum Gleichgewicht zurück. Und in diesem Augenblick trifft ihn seine Berufung zum Künstler ähnlich wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel. 

Nun weiß ja jeder Leser und jede Leserin des Romans, dass das Erlebnis mit der Madonna aus Holz in der Kirche recht eigentlich den Anfang von Goldmunds Leben als Künstler darstellt. Der Erzähler lässt daran keinen Zweifel. Das Leben von Goldmund erhält durch dieses Erlebnis Ziel und Richtung. Er wird den Meister Niklaus in der Bischofsstadt aufsuchen und sich von ihm zum Bildschnitzer ausbilden lassen.

Goldmund erreicht mit dieser Ausbildung die Stufe des Könnens. Er gestaltet das innere Bild seines Freundes Narziss und legt damit sein Gesellenstück und den Beweis seines Könnens ab. Nun möchte der Meister einen wohlhabenden Bürger aus ihm machen und ihm seine hübsche Tochter zur Frau geben. Doch die innere Stimme von Goldmund möchte etwas anderes. Zu deutlich hat er den Widerspruch im Wesen des Meisters studiert, um in einen ähnlichen Fehler zu verfallen. Der Künstler, der zu lange sesshaft bleibt, verdirbt zum Kunsthandwerker, so der Erzähler und in seinem Gefolge Goldmund, der hier als Sprachrohr der Ansichten von Hermann Hesse auftritt. Soll seine Kunst authentisch bleiben, muss Goldmund wieder das Leben des Vaganten aufnehmen. Es fehlen ihm die inneren Bilder, die er gestalten könnte. Er ist noch nicht reif für den Beruf des Künstlers.7

 

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Narziss und Goldmund - 3.1. Die mütterliche Herkunft

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Die Geschichte von Goldmund als Künstler beginnt mit dem Bewusstwerden seiner Herkunft von der Mutter. Die Mutter ist südländischer Abkunft und hat den Vater verlassen, als Goldmund noch ein Bub war. Es rinne Zigeunerblut in ihren Adern, berichtet der Erzähler. Sie habe es nicht über sich gebracht, nach der Verheiratung lange sesshaft zu bleiben. Goldmund hatte die Erinnerung an seine Mutter verdrängt. Nun bricht sie mit Macht aus dem Unbewussten hervor und das Gesicht der Mutter erscheint ihm. Es wird Goldmund auf seinem Weg begleiten. In kritischen Situationen, in denen er Hilfe braucht, schaut er das Bild der Mutter in seinem Innern. Doch das Bild der Mutter bleibt sich nicht gleich. Der Erzähler vertieft es immer mehr, bis es schließlich zum Urbild der Eva-Mutter wird. Die Eva-Mutter umfasst das Leben und den Tod, das Leiden und die Ekstase. Sie wird zum Sinnbild eines ganzheitlich erfahrenen Lebens.3

Ob die Mutter eine künstlerische Begabung besaß, wird nicht gesagt. Der Erzähler berichtet nur, dass sie von leidenschaftlichem Temperament war. Goldmund ererbt diese Anlage von seiner Mutter. Sie befähigt ihn, eine starke Intuition zu haben. Intuition und Inspiration sind ja miteinander verwandt. Die Intuition bezieht sich auf die Auswahl. Die Inspiration ist die Quelle des inneren Schauens. Sie bringt die Bilder, Ideen, Vorstellungen, Visionen hervor, die später gestaltet werden. Der Erzähler spricht von "Seelenbildern". In diesen Bildern nimmt eine bestimmt Bedeutung oder ein bestimmter Sinn eine dem Traum verwandte Gestalt an.4 Die von der Mutter ererbten weiblichen Anlagen befähigen ihn, sich hinzugeben und das Leben zu genießen. Sie verleihen seinem Wesen Spontaneität, Kreativität und Lebensfreude.

Die Verbindung zur Mutter ist Goldmund allerdings nicht in den Schoß gelegt worden. Er musste sie sich erkämpfen. Genauer gesagt, musste er sie erleiden. Goldmund wurde krank vor Scham über sein erstes Liebensabenteuer jenseits der Klostermauern. Erst durch diese Krise gelangte er zu einem neuen Bild seines Ichs. Er ist ja beim Vater aufgewachsen und hat von ihm ein falsches Bild der Mutter empfangen. Der Vater wollte, dass ein frommen Mönch aus ihm würde. Diese Konstruktion brach mit Hilfe von Narziss zusammen. Dann erst konnte Goldmund die Verbindung zur Mutter herstellen.5

 

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Narziss und Goldmund - 1. Der Inhalt: Die Geschichte von Goldmund

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Hesse nennt seine Geschichte im Untertitel eine "Erzählung". Die Bezeichnung erstaunt. Man würde heute von einem "Roman" sprechen. Hesse hat die bescheidenere Bezeichnung bevorzugt. Einer der Gründe dafür könnte sein, dass nur die Figur des Goldmund plastisch gestaltet ist. Von einem "Roman" erwartet man vielleicht doch noch mehr, als nur das Schicksal einer Hauptperson dargestellt zu finden.

Die Geschichte von Goldmund ist in die der Freundschaft mit Narziss eingebettet. Beide leben im Kloster Mariabronn (Kapitel 1 - 5) zu einer Zeit, die dem Mittelalter angehört (eventuell das 15. Jahrhundert). Narziss ist ein junger, begabter, aber auch etwas hochmütiger Lehrer, der großen Einfluss auf seinen Schüler Goldmund gewinnt und ihm hilft, zu sich selbst zu finden. Während Narziss das Mönchsgelübde ablegt, verlässt Goldmund das Kloster. Die Freundschaft zwischen den beiden bleibt aber bestehen. Narziss kann Goldmund viele Jahre später das Leben retten und Goldmund revanchiert sich, indem er sein Kunstschaffen dem Kloster Mariabronn zur Verfügung stellt, das inzwischen vom Abt Johannes, dem früheren Narziss, geleitet wird (Kapitel 18 - 20). In diesem Schlussteil des Romans findet die Freundschaft zwischen den beiden gegensätzlichen Naturen ihre Erfüllung.

Der mittlere Teil des Romans erzählt von zwei großen Wanderschaften Goldmunds. Die erste Wanderschaft führte ihn zu einem Rittergut, wo es neben dem Ritter, der ihn mit gelehrten Schreibarbeiten beauftragt, zwei hübsche Mädchen gibt. die von Goldmund heftig angezogen sind, sich aber nicht dazu durchringen können, ihm zu gehören. Diese sittenwidrige Leidenschaft wird aufgedeckt und Goldmund muss das Rittergut verlassen. Er trifft auf Viktor, den Schnapphahn und muss ihn umbringen, weil Viktor ihn bestehlen will. Nach diesem Mord geht es Goldmund nicht mehr gut. Das schlechte Gewissen bringt ihn in Bedrängnis, bis er in einer Kirche die Beichte ablegt und auf das wunderbare Bildnis einer Madonna trifft. Die Madonna führt ihn zum Meister Niklaus in der Bischofsstadt (Kapitel 11 + 12). Goldmund legt hier eine dreijährige Pause ein und bildet sich zum Bildschnitzer aus. Es gelingt ihm, die Figur des Jüngers Johannes bzw. seines alten Freundes Narziss zu gestalten. Doch dann schlägt er das ehrenvolle Anerbieten des Meisters aus, sein Compagnon und Schwiegersohn zu werden. Er verlässt die Bischofsstadt und begibt sich in den zweiten Teil seiner Wanderschaft (Kapitel 13-17).

Man sieht an diesem Aufbau, dass die Handlung zielstrebig auf die Ereignisse in der Bischofsstadt zuläuft. Goldmund trägt in sich die Doppelnatur eines Fahrenden ("Vaganten") und eines Künstlers. Seine Lebensaufgabe besteht in der Versöhnung dieser Pole. Es wird das Kunstschaffen sein, in dem Goldmund eins und ganz wird. Die Bischofsstadt ist in diesem Prozess der Selbstfindung derjenige Ort, an dem Goldmund den zweiten Pol seines Wesens, das Künstlertum, ausbildet. Er wird von Goldmund später ein zweites Mal aufgesucht und trägt dann die Spuren des Verfalls durch das Wüten der Pest. Der Meister ist gestorben und die Jungfer Lisbeth ist "vertrocknet". Goldmund hat gerade ein paar Tage Zeit, die Gesichte aufzuzeichnen, die ihm während der Pest begegnet sind. Und schon hebt das neue Abenteuer mit Agnes, der "Kebse" des Grafen Hermann, an.

Die Erlebnisse Goldmunds während der Pest (Kapitel 14) gehören zum tief Beeindruckenden dieser Erzählung. Goldmund denkt nicht daran, sich zu schützen. Er ist hingegeben an das Schauen. Die Figur des Robert bildet den Kontrast zu Goldmund. Robert ist überaus ängstlich, sich anzustecken und wirkt etwas lächerlich. Was Goldmund sieht, prägt sich ihm tief ein. Er wird auf diese Erlebnisse während der Pest später in seinem Schaffen als Künstler zurückgreifen.

Das Liebesabenteuer mit Agnes stellt Goldmunds letztes Aufbäumen gegen die Mächte des Todes dar. Die beiden Liebenden werden beim zweiten Treffen überrascht. Goldmund wird gefangen gesetzt und soll sterben. Doch der Abt Johannes bzw. Narziss, der sich mit einer Delegation auf dem Schloss aufhält, wo Goldmund festgehalten wird, bekommt mit, dass sein Freund vom Tode bedroht wird und kann ihn mit Zugeständnissen an den Grafen Heinrich retten. Narziss nimmt sich des heruntergekommen Landstreichers an. Er sieht in ihm seinen geliebten Jugendfreund und ahnt, dass Goldmund inzwischen seine künstlerischen Fähigkeiten entwickelt hat.

Der Roman endet, wie gesagt, damit, dass die beiden Freunde ausführliche Berichte von ihrem gegensätzlichen Leben abgeben, sich wieder annähern und sogar die Liebe erfahren. Narziss ist es jetzt, dem klar wird, wie sehr er Goldmund liebt. Er gesteht dem schon kranken Goldmund seine bis hierher zurückgehaltenen Gefühle. Mit diesem Geständnis beseitigt er das noch immer bestehende Gefälle zwischen den beiden. Der Weg von Narziss zum Geist und der Weg von Goldmund in das Leben und zur Kunst erscheinen nun als gleichwertige, wenn auch gegensätzliche, Möglichkeiten des menschlichen Daseins. Narziss anerkennt, dass das Kunstschaffen eines Bildschnitzers wie Goldmund Ausdruck einer spirituellen Suche sein kann, die seinem Schaffen als Gelehrter und als Ordensmann sehr ähnlich ist.

Ein Wort zum Eindruck, den der Roman auf mich gemacht hat. Ich habe das Werk innerhalb von zehn Jahren zum dritten Mal gelesen. Ich tat es aus Gründen der Vorbereitung und ohne rechte Motivation, so wie ein Lehrer in der Regel den Unterricht vorbereitet. Doch dann geschah es, dass die Lektüre mich ergriffen und zum dritten Mal tief beeindruckt hat. Was mich ergriffen hat, ist die Größe und Weite dieser Seelenschilderung. Man wird als Leser in die Tiefe des Menschseins geführt. Ich werde "Narziss und Goldmund" in ein paar Jahren sicher ein viertes Mal lesen.

P.S.: Ich schreibe "Narziss" in der heutigen reformierten Rechtschreibung. Dazu habe ich mich aber erst in diesem Text durchgerungen. Meistens habe ich "Narziß" so wie Hesse geschrieben.

 

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Narziss und Goldmund - 2. Lebensentwürfe: Zur "Seelenbiographie" von Goldmund

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Wie entwickelt sich Goldmund im Lauf des Romans? Welche Stadien der Entwicklung lassen sich ausmachen?

1. Mit "Persona" bezeichnet man das erste Stadium der Naivität. Die "Persona" ist der Teil von mir, den ich gerne zeige. Goldmund verfügt über ein gefälliges Äußere und hat es leicht, sich beliebt zu machen. Doch er verhält sich nicht ganz wie ein Klosterschüler. Narziss wird auf ihn aufmerksam.

2. Die Krise. Narziss sagt zu ihm: Du bist nicht du selbst. Du bist nicht zum Mönch geeignet. Das Selbstbild, das Goldmund von sich hat, wird erschüttert. Er erkrankt und beginnt zu verstehen, dass er an Erwartungen festhält, die der Vater an ihn gestellt hat. Seine Seelenkräfte regen sich und aus dem Abgrund der Angst steigt die rettende Erinnerung an die Mutter herauf. Goldmund überwindet die Krise und verfügt jetzt über ein eigenes Leitbild, das ihm Führung gibt.

3. Das neue Selbstbild. Goldmund grenzt sich von Narziss ab. Er macht eigene Erfahrungen auch außerhalb der Klostermauern. Jetzt ruft ihn das Leben. Goldmund verlässt das Kloster. In der Krisis hat sich die eigene Stimme befreit. Sie spricht zum Ich und das Ich folgt ihrem Ruf. An dieser Stelle setzt das Vagantentum von Goldmund ein und durch das Vagantentum gelangt Goldmund in Berührung mit den wirklichen Kräften des Lebens. Das Leben ist für Goldmund wie der Anblick des Januskopfes. Auf der einen Seite verheißt es Lust, Leidenschaft, Kreativität, Abenteuer und vieles mehr, auf der anderen Seite lauern Tod und Vernichtung. 

4. Die Begegnung mit dem Schatten. Als "Schatten" bezeichnet man die dem Inneren zugewandte Seite des Ichs. Dort schlafen die verdrängten Inhalte, die man vor den anderen Menschen und sich selbst verbergen möchte wie z.B. Hass und Gewaltätigkeit. Die Begegnung mit der Sterblichkeit des Menschen und mit der Vergänglichkeit des Lebens erzeugen eine unbewusste Traurigkeit, vielleicht sogar einen Lebensüberdruss.
Das elementare Leben als Landstreicher bringt die Kräfte des Schattens an die Oberfläche des Bewusstseins. Goldmund hat Lust, viele Frauen zu besitzen und er handelt danach. Er empfindet Genugtuung darüber, wehrhaft zu sein und er tötet Viktor. Er hat sogar Lust am Morden, wie in der Szene eindrücklich geschildert wird, als Goldmund den Vergewaltiger von Lene grausam umbringt.

5. Die Reue und Umkehr ist ein Ergebnis des schlechten Gewissens und der Einsicht. Goldmund übernimmt Verantwortung für seine Schlechtigkeit und beichtet. Die Beichte befreit ihn von den Schuldgefühlen.

6. Die Integration des Schatten. Als Künstler beugt sich Goldmund erneut über die Erfahrungen seines Lebens und gestaltet sie. Dadurch transformiert der die rohen Kräfte und verfeinert seine Wahrnehmung der Wirklichkeit. 
Das Kunstschaffen trennt das Wesentlich vom Unwesentlichen und verleiht dem flüchtig Vergänglichen eine gewisse Stabilität und Dauer. Die Kunst kann aber das Leben als die Erfahrung der Tiefe nicht ersetzen. Sie nimmt diese Erfahrung vielmehr auf , drückt sie aus und stellt sie auf eine andere Stufe. Wenn dieser Prozess gelingt, gewinnt das Kunstschaffen des Einzelnen Bedeutung für die Allgemeinheit.


Das Kunstschaffen

Die Kunst von Goldmund besteht darin, Figuren aus Holz herzustellen, die dem Betrachter Urbilder der Seele vor Augen führen. In der Terminologie von Carl Gustav Jung sind dies die Archetypen. In der Figur des Johannes bzw. Narziss gestaltet Goldmund das Urbild der Vergeistigung (die langen Hände, die asketische Lebensführung usw.). In der Figur der Madonna ist es das Urbild der weiblichen Unschuld, das immer auch Schönheit und Anmut ausstrahlt. 

Goldmund bleibt nicht auf einer bestimmten Stufe stehen. Auch das Künstlertum ist kein Idealzustand, weil es dazu neigt, den Künstler zu isolieren. Goldmund durchläuft immer neue Stufen der Wandlung. Der "Ruf des Lebens" an seine Seele ertönt immer wieder und bis zuletzt.

Allerdings verschafft die Erfahrung des Gelingens in der Kunst so etwas wie Seelenfrieden. Das Gelingen ist etwas anderes als der Erfolg. Mit "Gelingen" ist gemeint, dass der Künstler in der Lage ist, die Urbilder seiner Seele aus dem Innern nach außen zu bringen und ihnen eine materielle Gestalt zu geben, die vom Betrachter nachvollzogen werden kann. Die Bedingung dafür ist, dass der Künstler selbst eine gereifte Persönlichkeit im Sinne von Goldmund ist. Er muss die Tiefe des Lebens gekostet haben, wenn er seinen Mitmenschen Wein einschenken will und nicht Wasser.

 

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