4. Tafel: Nur eine Rose als Stütze mit Kommentar

Zuletzt aktualisiert am Donnerstag, den 22. Mai 2014 um 12:37 Uhr Geschrieben von: Administrator Samstag, den 08. März 2014 um 10:57 Uhr

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Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft

unter den Akrobaten und Vögeln:

mein Bett auf dem Trapez des Gefühls

wie ein Nest im Wind

auf der äußersten Spitze des Zweigs.


Ich kaufe mir eine Decke aus der zartesten Wolle

der sanftgescheitelten Schafe die

im Mondlicht

wie schimmernde Wolken

über die feste Erde ziehn.


Ich schließe die Augen und hülle mich ein

in das Vlies der verlässlichen Tiere.

Ich will den Sand unter den kleinen Hufen spüren

und das Klicken des Riegels hören,

der die Stalltür am Abend schließt.


Aber ich liege in Vogelfedern, hoch ins Leere gewiegt.

Mir schwindelt. Ich schlafe nicht ein.

Meine Hand

greift nach einem Halt und findet

nur eine Rose als Stütze.

 

Sämtliche Gedichte S.48

 

Die Erfahrung der Vertreibung, Flucht und des Exils als einem Leben in der Fremde bewegen die Dichterin, sich „ein Zimmer in der Luft“ einzurichten. Dort oben ist genügend Platz, während hier unten auf der Erde kein richtiger Ort zu finden ist. Die Dichterin nimmt uns mit in den Vorgang der Einrichtung hinein. Die Strophen zwei bis vier schildern ihn. Der Leser erlebt den aus Verzweiflung und Not geborenen Vorgang aus nächster Nähe. Er kann nacherleben, was von der Dichterin fantasiert wurde. Die kompensierende Fantasietätigkeit wird zur Sinn stiftenden Tätigkeit.

Der Text besticht durch seine Bilder. „Trapez des Gefühls“ nimmt zusammen, was getrennt ist. Er verschmilzt das Äußere („Trapez“) mit dem Inneren („Gefühl“) zu einer neuen Seinsweise im Geist. Man kann annehmen, dass Hilde Domin dieses Verfahren der „Romantisierung der Wirklichkeit“ u.a. bei den Surrealisten spanischer Sprache kennen gelernt hat.

 

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