Gedanken zu einem Sommer-Gedicht der besonderen Art

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Über den Sommer lässt sich viel und gut reden. Während des Sommers sitzt man gerne draußen und redet miteinander. Im Sommer duften die Gärten, Gräser und Garben. Aber den Sommer fühlbar in die Sprache zu bringen, so dass jeder Mensch meint, den Sommer wirklich vor sich zu haben, das kann nur ein so großer Dichter wie Rainer Maria Rilke. 
Die Dichtung Rilkes gibt immer die Essenz der Dinge. Und was ist die Essenz des Sommers in diesem Gedicht? 
Die dritte Strophe der siebten Elegie – denn um sie handelt es sich – folgt chronologisch dem Ablauf des Tages. Erst der Morgen, dann der Tag. dann der Abend, schließlich die Nacht – und in der Nacht öffnet sich das Universum auf die Sterne am Himmel. Der Schlussakkord mit dem„Sondern“ ist gewaltig, weil er den Menschen in das Ganze des Weltalls hinein stellt. 
Die große Bewegung in der Zeit vom Morgen, der heraufleuchtet, bis zum Abend, wo er verdämmert, stellt aber nur das magere Gerüst, das Skelett dieses Sprach-Gebildes dar. Die eigentlichen „Fleischbrocken“ sind darin aufgehängt. Sie sind es erst, die uns den Geschmack des Sommers auf die Zunge treiben. Sie sind kurz gefasst und treffen den jeweiligen Sachverhalt mit akurater Präzision: 

Die Morgen „leuchten vor Anfang“ – das kennt jeder, der frühmorgens den Sommer betritt. Es leuchtet unmittelbar ein. Es entspringt einem tiefen Sehen, wie die Dinge wirklich sind. 
Auch die Tage, die „zart sind um Blumen“ usw. Sie lassen die Natur nicht verwahrlosen. Sie kümmern sich. Und dann, als eine vorläufige Zusammenfassung dieser Sommerkräfte die Zeile: „die Andacht dieser entfalteten Kräfte“ . Es braucht viel „Andacht“ und vertiefendes Schauen, Sommer-Morgen-Andacht, um die Essenz eines einzigen Sommer-Morgens so treffend beschreiben zu können. 

Ich will die Reihe nicht weiter fortsetzen. Der große Schwung dieses Textes, seine weit ausholende Bewegung bis hinein ins Kosmische dürfte klar geworden sein. Ich will nur noch auf die paradoxe Formulierung: die„Sterne der Erde“, hinweisen. Sie ist zum Verständnis der siebten Elegie von Bedeutung. 

Als nämlich der Lobpreis aus dem Dichter herausbricht – Rilkes Wort dafür ist die „Rühmung des Daseins“ – nach so vielen Jahren des Wartens auf den künstlerischen Durchbruch; nach so vielen Jahren des Erleidens der Trockenheit des inneren Brunnens; da entstand in ihm zusammen mit dem Lobpreis auf das Leben und auf „unsere“ Erde, auch ein neues Selbstbewusstsein, ein Stolz auf das Mensch-Sein an und für sich. Die Sterne sind die der Erde. Sie gehören schicksalshaft zum Menschsein hinzu. Manchen der ganz Großen – Rilke würde von den Heiligen und von den Helden sprechen – ist es gelungen, die Sterne auf die Erde hinunter zu biegen. Diese Formulierung stammt aus der „Helden-Elegie“. Sie drückt das Besondere am Lebens eines „Helden“ aus. 
„Die Sterne der Erde“, das ist also eine programmatische Wendung. Es drücken sich in ihr die Bestrebungen auch von Friedrich Nietzsche und Hermann Hesse aus. Seit der Jahrhundertwende wird von vielen Autoren, Dichtern, Philosophen und Mystikern, intensiv am Programm des „neuen Menschen“ gearbeitet. Nietzsches Zarathustra, Rilkes Orfeus und der Steppenwolf von Hermann Hesse sind drei unterschiedliche Entwürfe des„neuen Menschen“

Und der Sommer? Er ist die hohe Zeit des neuen Menschen.

Johannes Heiner am 14. Juni 2004

Lesen Sie auch den Kommentar zur siebten Elegie