Gedanken zum Gedicht: "Buddha in der Glorie"

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Rilke hat zwischen 1905 und 1908 in Paris drei Anläufe genommen, das Thema des Buddha in seine Gedichte aufzunehmen. Sie gehen alle drei auf ein Erlebnis im Garten von Rodin zurück. Rilke entdeckte eine Buddha-Statue. Sie machte großen Eindruck auf ihn. In einem Brief an Clara spricht er von der "uralten Gleichgültigkeit", die von der Figur ausstrahlen würde1). "Buddha in der Glorie", das dritte Gedicht, stellt den letzten Anlauf des Dichters dar. 

Das erste Gedicht ist 1905 unter dem unmittelbaren Eindruck dieses Erlebnisses geschrieben worden. Es steht in den "Neuen Gedichten" vor den Chartres-Gedichten, die mit "L´ange du méridien" anheben. "O er ist Alles. Wirklich, warten wir,/ dass er uns sähe? Sollte er bedürfen?/ Und wenn wir hier uns vor ihm, niederwürfen,/ er bliebe tief und träge wie ein Tier." "Als ob er horchte. Stille, eine Ferne.../ Wir halten ein und hören sie nicht mehr."

Das zweite Gedicht ist 1906 geschrieben worden. Es hat die Form eines Sonetts und führt die Erzählperspektive eines "fremden scheuen/ Pilgers" ein. Der Pilger nähert sich der Skulptur. "Aber näher kommend wird er irre/ vor der Hoheit dieser Augenbraun...". Er fragt sich, "welche Dinge eingeschmolzen wurden, um / dieses Bild auf diesem Blumenkelche / aufzurichten". Herausgearbeitet wird die goldgelbe Farbe der Statue und dass sie "rundherum/ auch den Raum berührend wie sich selber" sei. Der Eindruck uralter Gleichgültigkeit des ersten Gedichts tritt zugunsten von plastischen Details im Aussehen zurück.

Das dritte Gedicht "Buddha in der Glorie" entstand 1908 und beschließt die Sammlung der "Neuen Gedichte II". Es erreicht eine gewisse Geschlossenheit in der Gestaltung, von der aus gesehen die beiden früheren Gedichte mehr wie Vorarbeiten wirken. 

Nun zum Gedicht im Einzelnen. Die erste Strophe stimmt das Lob der Mitte an. Mit "Kern" wird der abstrakte Begriff "Mitte" zur Anschauung gebracht. Mit "Mandel" erhält er eine Form in sprachlicher Anlehnung an die Mandorla 2). Für den Buddha als Kern und Mandel ist alles Seiende wie "Fruchtfleisch". Es wächst aus dem Inneren hervor. Sein Geschmack ist bitter und süß. Manches Mal muss das Bittere in Süße verwandelt werden. Der Buddha ist die Mitte des Universums. Daher auch der Titel "Buddha in der Glorie". Er verdrängt den Christus in der Mandorla, wie er über den Portalen der Kathedralen von Paris und Chartres als Weltenherrscher thront. 
Nach dieser Apotheose des Buddha in den ersten drei Zeilen wirkt die letzte Zeile "Sei gegrüßt", ziemlich verblüffend. Es gibt keinen Pilger mehr, der sich dem Buddha in Demut nähern würde; es gibt keine Reue mehr für irgendwelche "Sünden"; es gibt nur noch ein aufgerichtetes Du, das dem göttlichen Nicht-Ich gegenüber tritt.
Die zweite und die dritte Strophe knüpfen in der Wahl der Metaphern an die erste an und vollenden sie. Dabei verlagert sich die Aufmerksamkeit auf das mit dem "Unendlichen" Gemeinte. Das Sein, von dem der Buddha Zeugnis gibt, ist nicht das materielle, sondern das geistige kosmische Sein 3). Man denke hier an den Begriff des Unsichtbaren in seiner für das Spätwerk von Rilke tragenden Bedeutung. Die Dichter sind die "Bienen des Unsichtbaren". Sie verwandeln die sichtbare materielle Welt in die unsichtbare geistige 4). Die "Sonnen" gehören noch der physischen Welt an. Doch was sich im Innern des Buddha ("in dir"!) ereignet, trägt das Gepräge der Zeit-losigkeit.
Rilke hat im Laufe seines Lebens immer wieder Orte der Stille aufgesucht. Er konnte nicht ohne sie leben und arbeiten. Die Stille war ihm ein Ort der Sammlung nach Zeiten der Zerstreuung. Im Rückzug auf die Stille kann der Mensch zu seiner Mitte zurück finden. Aus der Erfahrung der Mitte entstehen kreative Impulse und eine Leichtigkeit des Lebens, die voller Dankbarkeit ist. Die Stille-Erfahrung verwandelt auch den Schmerz in "Süße". Sie schärft den Geist, der aus eigenem Antrieb zu tiefer Erkenntnis gelangt. In Wahrheit gibt es keine Einsamkeit und keine Trennung. Alles, was ist, ist gebend und nehmend ineinander verflochten. Der Wahrheit dienen heißt, sich dieser Zusammenhänge bewusst zu sein und danach zu leben.

Anmerkungen
1) zitiert in der "Kommentierten Ausgabe" von Rilkes Werken, Bd. 1 S.910
2) Die Mandorla hat die Form einer Mandel. Das Heilsgeschehen um Christus wird in den mittelalterlichen Kirchen gerne als Mandorla dargestellt. Christus thront als Pancreator (Schöpfer des Alls) in der Mitte.
3) Siehe zum Begriff des geistigen Seins Ken Wilber, Das Spektrum des Bewusstseins.
4) Siehe den Brief Rilkes an Witold Hulewicz von 1923, in dem Rilke seine Auffassung der "Duineser Elegien" in unmissverständlich klaren Worten darstellt.