Gedanken zu den Gedichten "Ausgesetzt..."

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"Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens..."
"Einmal noch kam zu den Ausgesetzten"

Der Text "Ausgesetzt..." beeindruckt mich maßlos, obwohl er Fragment geblieben ist. Eine Art Antwort erhielt Rilke vom Leben und seinen Launen selbst. Das launische Leben wollte, daß Rilke die werdende Malerin Lou Albert Lasard kennenlernte und die beiden sich sehr rasch und gründlich verliebten. Rilke trug das Gedicht in das Schreibheft für Lou Albert Lasard ein. Es trägt den Vermerk: "Aus den "Elegien". Abschrift".Der zweite Text findet sich als Nummer 5 unter den fünfzehn Gedichten, die Rilke zwischen dem 17. September und dem 10. Dezember 1914 für Lou Albert Lasard abgeschrieben und ihr gewidmet hat. Ich blende diese Zusammenhänge hier aus und verweise auf meinen Vortrag zum Thema.1)

Der Text beeindruckt maßlos, weil es ihm gelingt, die desolate Stimmung des modernen Menschen auszudrücken, der seinen "inneren Himmel"verloren hat. Denn an wen oder was soll sich der moderne Mensch denn halten, der den Glauben an Gott verloren hat? Der erste moderne Mensch in diesem Sinne war meiner Meinung nach Friedrich Nietzsche. Auch er hat um das Heil der Seele gerungen, ohne jedoch einen anderen Ausweg als den Wahnsinn zu finden. Während seines Besuches in Spanien hat Rilke diese Stimmung intensiv gespürt und in mehreren Gedichten zum Thema der "Nacht der Seele" (Johannes vom Kreuz) an ihrer Läuterung gearbeitet. 2)

Der moderne Mensch fühlt sich aus dem Paradies vertrieben und im Zwiespalt mit sich selbst. Er hat das Bewußtsein seiner Individualität und Freiheit erlangt. Aber er hat den Sinn des Lebens verloren. 3) Rilke verleiht diesen Gefühlen dichterischen Ausdruck. "Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens". Diese Formel umschreibt die Gipfel-Einsamkeit eines Menschen, der sich der Erfahrung der Tiefe hingegeben hat. Der Text wiederholt die Formel drei Mal. Die damit erreichte Steigerung ist nicht zu übersehen. In den "Elegien" findet man verschiedene Varianten von solchen Steigerungen. Eine der Augenfälligsten steht am Anfang der siebten Elegie. "Nicht nur die Morgen alle des Sommers, ...Nicht nur die Tage ..., Nicht nur die Andacht dieser entfalteten Kräfte, nicht nur die Wege..., sondern die Nächte". Merkwürdig, daß diese Steigerungen bei Rilke nicht pathetisch wirken.

Die Klage, die das lyrische Ich führt, stellt aber nur die mehr äußere Seite dar. Gleichzeitig nämlich findet der moderne Mensch nun endlich zu seinem eigenen Herzen. Er ist angekommen in sich selbst! Keine Macht der Welt kann ihn mehr in Ketten legen! Zwar ist sein inneres Land Wüste, aber es ist Herzland. Und schon beginnt das Land, das eben noch Öde war, zu sprießen. Zart zwar und spärlich, aber es ist unübersehbar das Leben, das sich im Frühjahr regt. Es handelt sich um Neues Leben. Das Neue Leben wird aus der Erfahrung des Nichts geboren. Außen und Innen verschmelzen zu einer neuen Einheit. Es entsteht die neue Qualität des "Weltinnenraumes", wie Rilke selbst es in einem Gedicht genannt hat.4

Also findet sich der moderne Mensch im Zentrum des Lebens ausgesetzt. Nicht verloren, sondern nur ausgesetzt. 

In diesem Moment beginnt die Rühmung, wie Rilke die komplementäre Haltung zur Klage genannt hätte. Die "Rühmung" besteht darin, dem Leben wie es ist, etwas Positives abzugewinnen. Der Sprecher des Gedichts hält Ausschau nach etwas, das Lebens-Sinn machen würde: Er läßt eine "letzte Ortschaft der Worte" und ein "letztes Gehöft von Gefühl" hinter sich und stößt in die dünner werdende Gipfelluft vor und auf den steinigen Boden vor ihm, zu seinen Füßen liegend, blüht es auf.

Der positive Aspekt erfährt im Bild des "Wissenden" eine weitere Steigerung. Doch die aufkeimende Hoffnung wird sofort zurückgenommen. Was ist, ist jenseits von Trauer und Freude. Es ist und es verweigert sich dem beurteilenden Denken. Es ist einfach da. Es handelt sich um "der Gipfel reine Verweigerung". 

Und so ist es kein Zufall, daß am Schluß des Fragments Formeln auftauchen, die Hoffnung andeuten: das "gesicherte Bergtier" und der"geborgene Vogel". Sie stehen für das, was man das "heile Bewußtsein" nennen könnte. Das Neue Leben, so Rilkes Entdeckung in den Jahren seiner größten Verfinsterung, treibt aus dem "Steingrund" und aus dem"Absturz" hervor.

Die achte Elegie wird diese Gedanken wieder aufnehmen und programmatisch vertiefen. Die Dialektik von Klage und Rühmung findet hier in der Darstellung des entfremdeten und des heilen Lebens der Kreatur einen Höhepunkt. Rilkes Hinweis auf die "Elegien" in dem Schreibheft, das er Lou Albert Lasard geschenkt hat, besteht zu Recht.5)

Die beiden Texte drücken das Lebensgefühl der Klage sehr präzise aus. Die Klage ist für Rilke immer auch Rühmung. Es gilt, das Herz in seiner Tiefe aufsuchen und sprechen zu lassen. In der Tiefe des Herzens wirkt das Heilsein der Seele auch in der modernen Welt fort. Die "Sonette an Orpheus" und die französischen Gedichte haben die Haltung des Rühmens noch um eine weitere Nuancen bereichert. 

27. Februar 2006 

Anmerkungen
1) Siehe dazu meinen Vortrag "Lou Albert Lasard und Rainer Maria Rilke. Bilder einer schwierigen, aber fruchtbaren Beziehung". Demnächst online. 
2) Siehe meinen Aufsatz "Rainer Maria Rilke als Mystiker" in: Peter Lengsfeld, Mystik - Spiritualität der Zukunft. Erfahrung des Ewigen. P. Willigis Jäger zum 80. Geburtstag. Herder Freiburg 2005 bes. S. 383 ff.
3) Willigis Jäger, Suche nach dem Sinn des Lebens. Bewußtseinswandel durch den Weg nach innen. Via Nova Verlag, Petersberg 1996 ff..
4) "Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen"
5) Siehe meine Deutung der achten Elegie in: Wege ins Dasein. Spirituelle Botschaften der "Duineser Elegien", Edition Goldbeck-Löwe, Berlin 2004, S.142 ff.