Gedanken zum Gedicht "Du siehst, ich will viel"

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Wer dieses Gedicht aufmerksam liest, spürt sofort: Ja, da sagt der Dichter die Wahrheit. Seine Wahrheit. Rilke war als Dichter alles andere als bescheiden. Sein dichterischer Ehrgeiz war maßlos. Von Anfang an schrieb er mit dem Ziel des Welterfolgs. Nur so ist die Schreibwut des jungen Rilke zu erklären. Davon zu unterscheiden ist allerdings das menschliche Verhalten Rilkes. Er gab sich mit der größten Bescheidenheit und Freundllichkeit. 
Die Zeile: "Vielleicht will ich alles" kann man sich also getrost ohne das"vielleicht" denken. Ich will das Leben in seiner Ganzheit, spricht der junge Mönch zu sich selbst. Ich will des Lebens Schattenseite (das "Dunkel jedes unendlichen Falles") und die Sonnenseite ("jedes Steigens lichtzitterndes Spiel") kennenlernen und erfahren. Das unterscheidet den Sprecher des Gedichts, der in die Rolle des frommen Mönchs geschlüpft ist, von den Mitmenschen, die in ihrem Leben die Entscheidung getroffen haben, an der Oberfläche festhalten zu wollen. Mit der sprachlichen Neuprägung"gefürstet" könnte "gefirstet" gemeint sein. Im Dachfirst stoßen die beiden Seiten zusammen und gewähren Schutz. Es könnte aber auch "geadelt" "gehoben" gemeint sein (von "Fürst"). Der Dichter zielt auf die Maske, hinter der viele Mensch ihre Gefühle und Gedanken verbergen. Ich denke, dass die zweite Lesart besser in den Zusammenhang dieses Textes passt. 
Rilke hat in der Pariser Zeit für die Gleichzeitigkeit des Auf und Ab im Leben das Bild des Wasserstrahls gefunden (siehe das Gedicht "Römische Fontäne"). Die zehnte Elegie endet mit dem "Glück", das "fällt" - hier finden beide entgegengesetzte Bewegungen: die aufsteigende des Glücks und die fallende des Sterbens, zu einer Einheit zusammen. 
Schwieriger ist die Zeile zu verstehen:
"Du freust dich Aller, die dich gebrauchen wie ein Gerät".
Die Gedichte des "Stundenbuchs" kreisen unablässig um das große Thema Gott und gewinnen ihm viele neue Aspekte ab. In seinen Briefen an Lou aus der Zeit der Entstehung des "Stundenbuchs" 1899 bis 1904 spricht Rilke gern von seinem "Großprojekt Gott". Mal ist "Gott" im Erleben des Mönchs wie zum Greifen nahe. Mal ist er fern und nicht mehr zugänglich. "Dich gerbrauchen wie ein Gerät" heißt, dass Gott in Allem ist, auch im alltäglichen Handeln mit den "Dingen". Gott lässt sich gebrauchen, ohne sich zu wehren, so scheint es zumindest. Das drückt die Nähe Gottes zum Mönch aus. Und Gott erschließt sich in der Tiefe. Der Gegensatz "werdende Tiefe" und "ruhig verrät" zielt auf das eigentliche, verborgene Leben. In der Tiefe waltet Gott und Gott verhilft dem Menschen zum wahren Leben, der sich auf seine Tiefe einlässt. 

Das Gedicht zeigt an, wie sehr der Dichter bemüht ist, nach der Auflösung der Gegensätze zu suchen, die das Erleben des Menschen prägen. Der Mensch erlebt die Höhe und die Tiefe, die Dunkelheit und das Licht, das Böse und das Gute, das entstehende und das absterbende Leben. Wie sollte der Mensch, sobald er sich Gedanken darüber macht, an diesen Gegensätzlicheiten nicht verzweifeln? Der Dichter mit seiner großen Sensibilität ist diesem Hin- und Her und Auf und Ab in besonderer Weise ausgeliefert. Er kann sich nicht so gut davor schützen wie einer, der einem praktischen Beruf nachgeht und gelernt hat, sich zu panzern. Doch gerade dadurch hat der Dichter erkannt, dass das Spiel der Gegensätze nur scheinbar besteht. Denn im Fallen steckt bereits das Auferstehen und im neu Geborenwerden das Erlöschen. Rilke sieht und begreift das Leben nicht als Chaos, sondern als eine sinnvolle Bewegung hin zum Werden des Ganzen. Das Sterben und das Neugeborenwerden gehören gleichermaßen dazu. Auch das Leid ist sinnvoll. In ihm "verrät" sich die Lektion, die das Leben uns erteilen möchte. 

Johannes Heiner am 16. November 2004