"Sehnt es dich aber, so singe die Liebenden"

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Wohin führte der Vorschlag des Sängers dieser ersten Elegie, wenn man ihn ausprobieren würde? (Ich sage nicht "Rilke", sondern "der Sänger", um die Distanz der Fiktion zu wahren, die der Schreibende braucht, um sich einbringen zu können.) 
Nun, er selbst, der Sänger, macht es uns vor. Er führt uns zu den Verlassenen, die er so viel liebender fand als die Gestillten. Es wird der Name der italienischen Renaissance-Dichterin Gaspara Stampa genannt. Sie ist für ihre Liebesgesänge berühmt geworden. Rilke hat das eine und andere Gedicht von ihr übersetzt. Sie klagt über den Verlust ihres Geliebten und in der Klage findet sie zu sich selbst und zu ihrer wahren Liebe. Ihre wahre Liebe besteht in der nicht zu unterdrückenden Liebesfähigkeit. 
Da also haben wir es, wohin es führen würde, wenn man der Sehnsucht folgen würde. Eine Zeile später wird der mit der Person "Gespara Stampa" umschriebene Liebes-Ansatz zu einer Reihe von begrifflichen Formulierungen erweitert, die einen direkt anspringen. Ja, wie schön wäre es, wenn das viele Liebes-Leid nicht umsonst erlitten worden wäre! Es ist wie ein Innehalten, das hier stattfindet. Nicht in eine neue Beziehung gehen, wird als Medizin vorgeschlagen, sondern den Schmerz des Verlustes ertragen oder der Freiheit des Nicht-Wählens auszuhalten. 
"Sich liebend vom Geliebten befrein und es bebend bestehen" - wie ist das gemeint? Gemeint ist das Aushalten der Einsamkeit, die "dem einzelnen Herzen mühsam bevorsteht". Wie schon Pascal bemerkte, kommt das Unglück des Menschen nicht vom Hunger oder Durst, sondern von der Tatsache, dass er es nicht in seinen vier Wänden aushält. Dauernd sinnt er auf Ablenkung und setzt fieberhaft Mechanismen in Gang, die das Nicht-Gebrauchtwerden-Gefühl kompensieren. Wenn er es "bebend"aushalten würde, wäre er mit seinen "Löchern" konfrontiert. Das ist schwer zu ertragen. 
Der Vergleich mit dem Pfeil bringt das Vibrierende dieses neuen Liebesethos von Rilke zum Leuchten. "Mehr zu sein als er selbst" bezeichnet nicht die Liebes-Illusion des Beginnens, wo man liebt, weil man das Gefühl erhält, durch das Du "mehr zu sein als es selbst". Das Rilkesche Mehrsein hat die Phase der Illusion hinter sich gelassen. Es ist durch schlaflose Nächte hindurch geschritten und vorgedrungen zu siderischen Spären, in denen nichts mehr ist, als nur noch die Kälte und die Einsamkeit. 
Dieses "Mehr zu sein" enthält in sich den Mut der Verzweiflung. Der Vergleich mit dem "Helden" erfolgt nicht von ungefähr. Der gemeinsame Vergleichspunkt zwischen den Liebenden und dem Helden ist die gesteigerte Intensität des Daseinsgefühls. Darum geht es. Mehr zu sein als "Ich" und "Du", näher am Herz des wirklichen Geschehens, in der Mitte des pulsierenden Universums - kraft der Enthaltung von flüchtigen Kontakten, die zu keiner wirklichen Steigerung führen können. Alleinesein als die ehrlichere Lösung. 

Johannes Heiner am 15. September 2004

Lesen Sie auch den Kommentar zur ersten Elegie