1,5 „Errichtet keinen Denkstein. Laßt die Rose“

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Der orphische Gesang in seinem intensiven Sein, magisch und mystisch, hat keine feste Form. Die feste Form eines Gedenksteins würde die falsche Botschaft senden. Es geht aber vielmehr darum, eine neue Sensibilität zu entwickeln, die den Menschen dafür empfänglich macht, dass die Schwingungen des Gottes allem beigemischt sind.

„Laßt die Rosen

nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn.“

„Ists nicht schon viel, wenn er die Rosenschale

um ein paar Tage manchmal übersteht?“

Freilich muss der Mensch an seiner Wahrnehmung arbeiten. Die Existenz des Gottes in „Rose“ wie „Staub“ (7. Sonett) kann nur wahrnehmen, wer es dauerhaft versucht. Es ist keine leichte Sache. Die Wahrnehmung, um die es geht, gilt dem Unsichtbaren. Und nun folgt der Wink des Dichters, der wie eine Selbstdarstellung anmutet:

Er gehorcht, indem er überschreitet“.

Von hier aus gesehen, „erklären sich“ die zahlreichen Hinweise auf die orphische Existenz, die der Dichter von Anfang an in seinen Text einstreut. Wörter wie „Übersteigung“, „Überschreitung“, „Wink und Wandlung“ aus dem 1. Sonett legen die Spur, nun heißt es: Ankommen. Aber worin? Ankommen im innersten Kreis der Existenz, die mit dem Namen des Gottes Orpheus angedeutet wird. Wer seiner Existenz habhaft werden möchte, kann ihn nicht besitzen. Der Wunsch zu besitzen würde ihn töten. Wir erinnern uns an die Sage. Orpheus saß in seiner Höhle in den thrakischen Bergen, spielte die Zither und sang. Die Frauen, Nymphen und Mänaden, die in der Umgebung lebten, wurden auf ihn aufmerksam und drängten sich an ihn heran. Doch er verweigerte sich und sie beschlossen, ihn zu töten.

Orpheus entzieht sich dem, der ihn auf vulgäre Weise fassen möchte. Und doch ist er für alle da, die nach ihm suchen, und bietet sich ihnen z.B. als Rose an.

 

© Johannes Heiner, November 2012

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