1,20 „Dir aber, Herr, o was weih ich dir, sag“

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Rilke weiht dem Orpheus eine wichtige Erinnerung an sein Erlebnis in Russland. Das Erlebnis wird eingehend geschildert: „Herüber vom Dorf kam der Schimmel allein“. Er hatte sich vom Pflock befreit und galoppierte in die Weite der russischen Steppe, „um die Nacht auf den Wiesen allein zu sein“. Rilke hatte die Schönheit eines sich befreienden Wesens gesehen. Das Erlebnis hat ihn, der auf der Suche nach Vorbildern war, tief beeindruckt. Auch er hat sich immer wieder von den Zwängen seiner Beziehungen befreit, um in der Einsamkeit zum Wort der Dichtung zurück zu finden.

An diesen Zusammenhängen wird deutlich, wie sehr die Botschaft von Orpheus befreiend wirken soll. Sie wurde ihm im russischen Schimmel gegenwärtig, als er noch nichts von Orpheus wusste. Erst viele Jahre später, in den Vorträgen von Alfred Schuler 1914 /15 in München, dürfte er den Orpheus-Mythos vertieft haben.

Das zwanzigste Sonett nimmt die breitere Gangart der früheren Gesänge wieder auf. Auch das folgende 21. Sonett zum Thema Frühling bleibt auf dieser Spur. Doch die Nummern 22 und 23 gehen wieder in die „schmalere Gangart“ des hymnischen Tonfalls zurück.

 

© Johannes Heiner, November 2012

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