Rilke und die Duineser Elegien - Einführungsvortrag

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Die Gliederung:

  1. Vorstellung der Duineser Elegien
  2. Die Entstehung der Elegien 1912-1922
  3. Rilkes spirituelle Entwicklung - ein Überblick
  4. Rilke als Mystiker - eine Zusammenfassung
  5. Rilke und der Engel
  6. Anmerkungen

 

1. Vorstellung der Duineser Elegien

Die "Duineser Elegien" beziehen ihren Namen von Schloss Duino. Schloss Duino liegt an der Steilküste der Adria zwölf Kilometer östlich von Trient und verfügt über eine große Terasse zur Meerseite. Rilke hat sich im Winter 1911/12 auf Einladung der Fürstin von Turn und Taxis im Schloss aufgehalten. Er ging gerne im Garten des Schlosses spazieren. Der Garten von Schloss Duino ist der Entstehungsort der Duineser Elegien. Rilke hat mit diesem Titel "Duineser Elegien" die Erinnerung an die Fürstin Marie von Turn und Taxis, der das Schloss gehörte, und eine seiner Sponsorinnen war, verewigt. Die Elegien tragen deshalb den Vermerk: "Aus dem Besitz der Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe". 
Es hat dann noch zehn Jahre gedauert, bis Rilke die Elegien als sein lyrisches Hauptwerk vollenden konnte. Der Durchbruch geschah im Februar 1922 im Turm von Muzot. Muzot liegt bei Sierre in der französisch sprachigen Schweiz. Rilke hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg in die Schweiz zurückgezogen. Nun, im Februar 1922 konnte er die Duineser Elegien in wenigen Tagen fertigstellen. Er arbeitete ununterbrochen bei Tag und Nacht. Gleichzeitig mit den Elegien entstand im Februar 1922 die Gedichtsammlung "Sonette an Orpheus" und der "Brief des jungen Arbeiters". 

Während die Sonette in einer gebundenen Form, der des Sonetts, Rilkes neu gewonnene Lebenseinstellung verkünden, tun die Elegien dies in einer frei rhythmisierten Form ohne Reime. Die Zeilen der Gesänge strömen wie die Hexameter aus der "Odyssee" des Homer. Der sprachliche Ausdruck ist sehr gewählt. Man würde ihn dem hohen Stil der Tragödie zuordnen. Die Duineser Elegien bezaubern durch das Treffende ihrer Metaphern. Sie erinnern wegen ihrer Vernetzung untereinander an das Gewebe eines kunstvoll geknüpften Teppichs. Sie sind Gesänge der Klage ("Elegie") und des Lopreises (Rilkes Worte dafür sind "Rühmung" und "Verkündigung"). 

Und aus welchen Inhalten ist dieser Teppich geflochten?
Welche "Farben" und "Fasern" hat der Künstler verwendet?

Die Duineser Elegien tragen die Form eines Selbstgesprächs des Sängers der Elegien. Er spricht zu sich selbst über die großen Themen des menschlichen Lebens: den Tod, die Liebe, die Kinder, die Tiere. Die fünfte Elegie schildert das Leben der Fahrenden, Gaukler, Artisten, Akrobaten. Die sechste entwirft das Bild des Helden. Die achte beschäftigt sich mit den Tieren und den Kindern. 
Der Sänger der Elegien ist nicht ganz allein. Es gibt auch eine Mutter (in der dritten Elegie), einen Vater (in der Vierten), die Mädchen, die Liebenden, die Toten, die überall präsent sind. Es gibt die moderne Großstadt und das Urland der Klage. Vor allem aber gibt es den Engel. An ihn wendet sich das lyrische Ich mit seiner Klage und mit seinem Lobpreis auf das Leben. Der Engel bewahrt in seinem Herzen für die Ewigkeit, was im menschlichen Leben echte Kunst (s. Chartres), Größe (s. den Helden), Ganzheit (s. die Liebenden) und Heilung (s. die Tiere und die Kinder) erreicht hat. Ich möchte es noch anders ausdrücken: Im Selbstgespräch und im Beisein des Engels fügt der Dichter Rilke die Fragmente der menschlichen Lebenserfahrung zu einem neuen dichterischen Ganzen zusammen. Mit dieser Sinnstiftung regt er dazu an, über den Sinn des Lebens, auch des eigenen, nachzudenken und die eigene Sinnfindung zu überprüfen.

 

>> 2. Die Entstehung der Elegien 1912-1922