„Stufen des Erwachens“ im Lebenslauf des Magister Ludi Josef Knecht

Drucken

Der Begriff „Akte des Erwachens“ findet sich im „Glasperlenspiel“ (S. 517 f). Gleichwertig wird von Hesse der Begriff „Stufen des Erwachens“ gebraucht. Den Unterschied zwischen beiden Begriffen könnte man vielleicht folgendermaßen präzisieren: „Stufen“ suggeriert einen hierarchisch geordneten Gang wie über eine Treppe und „nach oben“ auf ein finales Ziel hin. „Akte“ betont mehr den Prozess des Loslassens und Wiedergeborenwerdens auf einer bestimmten Lebensstufe. Der Mensch im Prozess seines Erwachens weiß nicht, dass es mehrere „Stufen“ geben, ja dass die „spirituelle Entwicklung“ bis zum eigenen Sterben über viele „Stufen“ weitergeht. Der in seinem Prozess befangene Einzelne sieht nur die einzelne Stufe, auf der er sich bemüht und an der er sich abarbeitet. Es kann die Aufgabe der spirituellen Begleitung sein, ihm zu einer Bewusstwerdung des Ganzen seiner jeweiligen Lebensstufe wie auch des Lebens an und für sich zu verhelfen. 
Hesse spricht vom „Erwachen“ als einem Prozess, in dem der Mensch plötzlich zum Bewusstsein des Ganzen vordringt. Jede Lebensstufe kennt ein solches „Erwachen“. In der pietistischen Tradition, aus der Hesse stammt, wird man den Begriff „Erweckung“ finden. Die „Stillen im Lande“, wie man sie nannte, wurden von Gott erweckt und dazu auserwählt, SEINE Stimme in einer verderbten Welt zur Geltung zu bringen. In der buddhistischen Tradition spricht man von der „Erleuchtung“, die Buddha unter dem Bodhi-Baum erfahren durfte und die das Ziel der Selbstvervollkommung darstellt. In allen diesen Begriffen schwingt die Einsicht mit, dass das Erwachen nicht mit dem Willen gemacht werden kann. Es wird von Gott als Gnade geschenkt. 


Welche „Stufen“ oder „Akte“ lassen sich im „Glasperlenspiel“ ausmachen? 


Die erste Stufe von Knechts spirituellem Lernen beginnt mit der Berufung durch den Altmusikmeister. Josef Knecht ist zwölf Jahre alt, als er seine „Initiation“ zur Musik erfährt. 

Die zweite Stufe besteht in der Einführung in die musikalische Meditation/Kontemplation, auch wieder durch den Altmusikmeister. Josef Knecht ist 17 Jahre alt. Das Initiationserlebnis wird vertieft.

Die dritte Stufe spielt sich zwischen Josef Knecht und dem „Alten im Bambusgehölz“ ab. In der Darstellung und Bewertung dieser Stufe verwendet Hesse erstmals den Begriff des „Erwachens“. Josef Knecht ist jetzt 27 Jahre alt. Am Beispiel des alten „Chinesen“, der sich in sein Bambusgehölz von der Welt zurückgezogen hat, wird Josef Knecht klar, dass die Erleuchtung kein Selbstzweck sein kann. Der Mensch, der die Erleuchtung erfahren hat, so Knecht in seiner Reflektion über die Erfahrungen mit dem Alten, sollte ins Leben zurückkehren und sich dort bewähren. 

Die vierte Stufe: Angeregt durch die Gespräche mit Pater Jakobus erwacht Josef Knecht zum Bewusstsein der geschichtlichen Realität. Auch Kastalien hat ein Werden und Vergehen, kennt den Aufstieg und Niedergang, in den die Menschen schicksalhaft eingefügt sind. Josef Knecht setzt sich von nun an dafür ein, dass dieses umfassendere Bewusstsein in Kastalien Einzug halten möge. 

Die fünfte Stufe erreicht Josef Knecht als selbstloser Zuhörer seines alten Freundes Plinio Designori. Josef Knecht begleitet seinen „abgestürzten“ Freund mit großem Feingefühl. Es gelingt ihm, ihn wieder aufzurichten. Dafür empfängt er von Designori seinen letzten Auftrag, der darin bestehen soll, den Sohn Tito zu erziehen. 

Die sechste Stufe erreicht Knecht, indem er sein Amt niederlegt und sich für das umfassendere Leben außerhalb Kastaliens zur Verfügung stellt. Er überwindet damit die letzte „Anhaftung“ an weltliche Dinge und macht seinen Geist „leer“. Er hat das Amt des Glasperlenspielmeisters acht Jahre lang vorbildlich ausgefüllt. Er ist 48 Jahre alt, als er „aussteigt“. 

Bemerkung zur „fünften und sechsten“ Stufe: Man kann das Zuhören Knechts auch als sechste und die Amtsniederlegung als fünfte Stufe betrachten. Die Reihenfolge ist nicht zwingend. Knecht verkörpert von Anfang an den Typus des selbstlos Dienenden. Interessant aber, dass Knechts Seele nicht ganz bei der Selbstlosigkeit bleiben konnte. Wie ihm nach dem Ausstieg aus Kastalien bewusst wird, gibt es Anteile, die er nicht gelebt hat und die nun nach Verwirklichung drängen. Dieser Punkt ist für das Verständnis des Glasperlenspiels von größter Bedeutung.

Die siebte Stufe ist wieder sehr klar ausgeprägt. Josef Knecht erlangt sie in der Hingabe an seinen Zögling Tito. Er setzt dem Ertrinken im Bergsee keinen Widerstand entgegen. Josef Knechts Geist geht auf Tito über. 

Diese siebte Stufe stellt also die Verschmelzung mit dem Universum/Auflösung im All/Stufe des „kosmischen Bewusstseins“ nach Ken Wilber dar. Das Ego erklärt sich damit einverstanden, zu sterben und im Tod eine andere Form anzunehmen oder auf einen anderen Menschen überzugehen. Es wäre dies eigentlich die Stufe der Erleuchtung, die Josef Knecht im Tod erreicht. 

In diesem Stufenschema nicht enthalten ist die Stufe der Verklärung; so möchte ich sie gerne nennen. Gemeint sind der Zustand, in den der Altmusikmeister eintritt, kurz bevor er stirbt. Es ist ein langsames Hinübertreten. Hesses Darstellungen der „Verklärung“ des Altmusikmeisters gehören zu den schönsten Stellen im „Glasperlenspiel“. Auch wenn sie von Josef Knecht nicht selbst erfahren wird, ist sie doch als Ergänzung des Stufenschemas wichtig. 

Die Verklärung des Altmusikmeisters erinnert an das Sterben von Vasudeva, dem alten Fährmann im „Siddharta“. Seine Weisheit und Hingabe hatte ja den Brahmanensohn angezogen, der dann bei ihm blieb und das „Amt“ von ihm übernahm. 

© Dr. Johannes Heiner 16.02.2005