Das Glasperlenspiel als Friedensutopie

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Ein Essay von Dr. Johannes Heiner aus Anlass des 140. Geburtstags von Hermann Hesse am 2. Juli 2017


A. Die „Einleitung“

B. Der kastalische Lebenslauf von Josef Knecht

C. Das „Erwachen“ im Lebenslauf von Josef Knecht

D. Die Gedichte

E. Die drei Lebensläufe aus dem Anhang

 

Wer Hesses „Das Glasperlenspiel“ aus welchen Motiven auch immer lesen möchte, hat gute Chancen, zu scheitern. Sehr verschieden sind die „Einleitung“, der „kastalische Lebenslauf“ Josef Knechts und die drei Lebensläufe im Anhang. An was soll sich der Leser halten? Womit beginnen? Gedichte runden das Ganze des Werks ab. Sie stammen angeblich aus der Studienzeit Josef Knechts.

Einfacher wird es, wenn man sich über die Intentionen klar wird. Was hat Hesse veranlasst, sich zehn Jahre lang mit diffizilen Recherchen zu plagen? Er war nicht davon abzuhalten, noch einmal tief in das künstlerische Schaffen einzutauchen. Ein Brief Hesses an Rudolf Pannwitz vom Januar 1955 gibt Aufschluss über die wichtigen Punkte.

Was Hesse erreichen wollte, lässt sich zusammenfassen wie folgt:

1. Die Heraufkunft der Nazis an die Macht ab 1930 erfüllte Hesse mit großer Sorge. „Es kam mit den Reden Hitlers und seiner Minister … etwas wie Giftgas aufgestiegen, eine Welle von Gemeinheit, Verlogenheit, hemmungsloser Streberei, eine Luft, die nicht zu atmen war.“ Und Hesse fuhr fort: „Dies war nun der Augenblick, in dem ich alle rettenden Kräfte in mir aufrufen und alles, was ich an Glauben besaß, nachprüfen und festigen musste.“ Der Erste Weltkrieg hatte Hesse schon Schlimmes abverlangt. Doch die Nazis an der Macht ließen ihn weit Schlimmeres befürchten.

2. „Inmitten dieser Drohungen und Gefahren für die physische und geistige Existenz eines Dichters deutscher Sprache griff ich zum Rettungsmittel aller Künstler, zur Produktion.“ Hesse beschäftigte sich mit den Naturvölkern, mit dem Pietismus im 18. Jahrhundert, mit den Wüstenvätern, dem Taoismus und Hinduismus. Er floh in die bessere geistige Welt und suchte sich dort zusammen, was sein Bild des Menschen untermauern konnte. Die Auseinandersetzung mit den Kulturen und Religionen Ostasiens wurden ihm zum Gegenentwurf zur Realität. Hesse sicherte sich damit die „Luft zum Atmen“.

3. Hesses Arbeit an der Entstehung des „Glasperlenspiels“ gab seinen Lesern in Deutschland den Mut, „im Widerstand auszuharren.“ Dieser Punkt war Hesse besonders wichtig. Wie wir aus den Lebensläufen der jüngeren Generation wissen, wurde die „Einleitung“ wie ein politisches Bekenntnis gegen Hitler gelesen und herumgereicht.

Damit kommt diese Betrachtung zu dem, was sie bewegt. Wer die politischen Zusammenhänge, in denen „Das Glasperlenspiel“ entstand, kennt, weiß von vornherein, dass es sich um einen ernst zu nehmenden Gegenentwurf zum Hitlerismus in Deutschland gehandelt hat. Hesse setzte dem Hitlerismus entgegen, was er „das Reich des Geistes und der Seele“ nannte. Wäre Kastalien also als eine Utopie des Friedens zu verstehen? Kastalien ist ein Gegenentwurf, so viel ist sicher. Mit welchen Inhalten Hesse die Republik der Musiker und Gelehrten gefüllt hat, möchte ich in der gebotenen Kürze zeigen.


A. Die „Einleitung“

Sie umfasst das Motto und fünfzig Seiten, die wie Stufen wirken, die der Leser hochsteigt, und dann bis zur Pforte des Einlasses vordringt. Nehmen wir an, er ist oben angekommen bzw. er hat die Einleitung wirklich gelesen. Wie ist ihm zumute? Ist er oben angekommen, ist er schon gespannt auf die Konkretisierung der weit gespannten Ankündigung. Es ist ja nicht so, dass er eine klare Antwort auf die Frage, was das Glasperlenspiel sei, erhalten hätte. Die Einleitung vertröstet ihn von Absatz zu Absatz und eine gewisse Verwirrung nimmt von ihm Besitz. Immerhin: Er ist motiviert, in Erfahrung zu bringen, was denn das Glasperlenspiel wirklich sei. Und er schreitet in Hochstimmung durch die Pforte voran, weil die Ankündigungen und Umschreibungen allerhöchste geistige Genüsse versprechen.

Es wäre wenig sinnvoll, die vorbereitenden Ankündigungen, denen der Autor den bescheiden klingenden Titel einer „Einleitung in die Geschichte des Glasperlenspiels“ gegeben hat, noch einmal in Worte zu fassen. Stattdessen kann eine Erkenntnis weitergegeben werden, wie sie beim Leser beim Hochsteigen auf der Treppe vielleicht entstanden ist. Es gibt zwei große „Bewegungen“, die den so unüblichen „Roman“ prägen. Die erste ist das „Realisieren“ genannte Tun der Glasperlenspieler. Wie schon im Motto von Albertus Secundus ausgeführt, geht es ja darum, im Spiel das geistig Mögliche in die Wirklichkeit der Spielsprache zu überführen. Die Ausführenden befleißigen sich einer frommen Haltung. Sie wird im Begriff Kontemplation ausgeführt (S.48). „Die Wendung gegen (in) das Religiöse“, die damit zum Ausdruck kommt, ist ein wichtiger Bestandteil der Haltung, in dem das Glasperlenspiel aufgeführt wird. Das Motto hebt auch die „Gewissenhaftigkeit“ der Aufführenden hervor. Sie sind Meister in ihrer Disziplin, sei es als Mathematiker, Musiker oder Philologen. Es wird vorausgesetzt, dass sie ihre Wissenschaft beherrschen und sie zugleich übersteigen, zu jener Universalsprache hin, die erst das Glasperlenspiel ausmacht.

Neben dem Realisieren der Universalsprache im Spiel ist eine zweite Bewegung die des Transzendierens. Die Einleitung spricht nicht davon. Doch wir wissen ja aus dem Lebenslauf von Josef Knecht, dass er auf der Suche nach dem TAO sogar sein Amt als Glasperlenspielmeister aufgeben wird. Er durchläuft mehrer Stufen des geistigen Erwachens, bis er auf den Kern stößt, die Erfahrung der Einheit. „Transzendieren“ ist ein dialektischer Vorgang, der sich von der These zur Antithese und von der Antithese zur Synthese hin bewegt und in der Synthese nicht selten Neues erschafft, das These und Antithese übersteigt. Und so steht am Ende der Lebensbeschreibung Josef Knechts in der Tat ein offener Schluss. „Die Welt“ der Designoris wird von Kastalien als Antithese in die Enge getrieben. Die Synthese wäre das, was jetzt, nach Knechts Tod, uns, den Lesern aus der Zukunft, zu tun aufgegeben ist, nämlich das von Kastalien in der Welt zu realisieren, was ein neues Bewusstsein von der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins erfordern würde. Dazu gehören die Tugenden der Wertschätzung fremder Kulturen, wie auch die Haltung der Heiterkeit, die der Altmusikmeister so vorbildlich verkörpert.

Hat man sich durch die Einleitung hindurchgequält, wirkt der Beginn der Lebensbeschreibung Josef Knechts wie eine frische Brise. Endlich wird erzählt und die Leser dürfen sich endlich mit einer Person identifizieren. Doch der Erzähler, ein ungenannt bleibender Geschichtsschreiber aus Kastalien, damit beauftragt, die Lebensgeschichte des letzten großen Glasperlenspielmeisters aufzuschreiben, hält die Leser weiterhin auf Distanz. Keine Eltern treten auf, die den Wunderknaben zu verantworten hätten, alles Persönliche wird vermieden. Es gibt nur einen Musiklehrer, der den Knaben Josef Knecht zur Aufnahme an die Behörde in Kastalien gemeldet hat.

Doch mit der Vorbereitung auf den Besuch des Altmusikmeisters kommt dann doch die Seelenkunde, die in Hesses Erzählungen ja immer den breitesten Platz einnimmt, zur Geltung. Der Altmusikmeister mit seinem sympathischen Verhalten nimmt nicht nur den Knaben Josef für sich ein, sondern auch den Leser. Der Altmusikmeister ist die zentrale Gestalt aus dem „Glasperlenspiel“. Er lenkt das Leben von Josef Knecht in die richtigen Bahnen, begleitet ihn in den Anfängen seines Wirkens als Magister Ludi.

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B. Der kastalische Lebenslauf von Josef Knecht

Es ist nun schon ein besonderer Augenblick, in dem der kastalische Lebenslaufs von Josef Knecht einsetzt. Als Bild fällt mir ein, wie es ist, nach längerem Aufstieg die Hochebene zu erreichen. Die Luft wird dünn und alle Zeichen von Tätigkeiten des Menschen liegen hinter dem Wanderer. Er schaut zurück auf die drei Täler des Stammeslebens vor 20.000 Jahren, der Wüste mit ihren Höhlen, in denen die Einsiedler ihr frommes Leben fern von den Menschen gelebt haben und das indische Tal mit seinem überbordenden Urwald, darin der Yogin in stiller Versenkung ruht.

Hesse hat nun auch die angemessene Sprache für seine Aufgabe gefunden, einen Lebenslauf zu erzählen, den es noch nicht gegeben hat; der Anleihen macht bei den Kulturkreisen der Naturvölker, des Urchristentums, des Hinduismus, des alten Chinas und zuletzt noch Japans. Er macht Anleihen und gibt doch etwas Eigenes und Neues. Er gibt sich abstrakt und ohne Lokalkolorit und wirkt doch höchst lebendig. Die Provinz Kastalien ist überall und nirgends. Sie kann überall und jederzeit auf der Welt gelebt werden.

Was die „Anleihen“ betrifft, fällt die Schüler-Lehrer-Beziehung ins Auge. Der Altmusikmeister nimmt seinen neuen Schüler Josef Knecht unter die Fittiche und Josef Knecht saugt alles auf, was der Meister seines Faches an Spielfreude, Versenkung, Heiterkeit und Stille zu bieten hat. Man erinnert sich an den Knaben Knecht, wie er den amtierenden Regenmacher umwirbt; man erinnert sich an Dasa, wie er vom Anblick des Yogin im Urwald getroffen und auf seine wahre Bestimmung gebracht wird. Nicht anders ergeht es dem jungen Knecht bei seinen Begegnungen mit dem Altmusikmeister, der ihm alsbald ein treuer Freund und wissender Berater wird. Der Altmusikmeister ebnet Josef den Weg zum Amt des Glasperlenspielmeisters. Kaum hat Josef diese Würde erlangt, macht der Altmusikmeister die Augen zu und stirbt. Josef geht mit seinem Leben noch über den Altmusikmeister hinaus, als er, nach achtjähriger Amtsführung, Kastalien verlässt, und ein neues Amt außerhalb von Kastalien antritt.

Hesse lässt seinen Heiligen und Helden Josef Knecht die Hierarchie Kastaliens Stufe um Stufe erklimmen. Das ist der Stoff, aus dem Romane gemacht sind und der Leser, bisher so spröde abgefertigt, jubiliert, dass er nun doch am „Leben“ von Josef Knecht teilnehmen darf. Hesse setzt starke Akzente. Er grenzt Josef Knecht von Plinio Designori, dem Feuerkopf, ab. Der Musikmeister stützt ihn, sonst wären Josef und die Sache von Kastalien unterlegen. Es folgen die chinesischen Studien von Josef Knecht, wieder grenzt der Autor seinen Helden vom chinesischen Einsiedler im Bambusgehölz ab. Und als letzte Stufe in der Entwicklung Josefs zum Meister folgen die Auseinandersetzungen mit Pater Jakobus. Sie legen den Grundstein für eine neue Sicht Knechts auf das Gebilde Kastalien, das sich gegen die Zeitläufte stemmt und ihnen doch ausgeliefert ist.

Diese Skizzierung bezieht sich auf die „äußere Entwicklung“ Josef Knechts. Aber es gibt auch eine innere Entwicklung, die Hesse als „Stufen des Erwachens“ bezeichnet hat. Ihr wollen wir unsere Aufmersamkeit widmen.

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C. Das „Erwachen“ im Lebenslauf von Josef Knecht

Am Anfang steht die Initiation in den Geist der Musik durch den Altmusikmeister. Man erinnert sich an den alten Mann mit der besonderen Ausstrahlung. Er verzichtete darauf, den Schüler Josef Knecht auszufragen. Der Altmusikmeister führte ihn liebevoll in die Begegnung mit der Musik hinein. Josef ließ sich vom Geist der Musik an die Hand nehmen und erfuhr ein bisher ungeahntes Entzücken. In der kleinen Erzählung „Der Regenmacher“ im Glasperlenspiel-Roman nimmt Hesse das Motiv der Initiation als der ersten Stufe des Erwachens wieder auf.

Verfolgen wir den Weg Josef Knechts auf der Stufenleiter des Erwachens. Auch die zweite Begegnung mit dem Altmusikmeister hat den Charakter einer Initiation, auf die das Erwachen folgt. Josef Knecht ist jetzt siebzehn Jahre alt. Die dritte Stufe ist unschwer in der Begegnung mit dem Alten im Bambusgehölz auszumachen. Knecht ist vom Geist des Tao fasziniert. Er bewundert den „Chinesen“, der sich von der Welt zurückgezogen hat, über alle Maßen. Natur und Geist befinden sich hier in einem wunderbaren Einklang. Doch Knecht distanziert sich mit dem Argument, dass dieser spirituelle Weg in die Absonderung, und nicht in das Leben führe.

Die Darstellung der vierten Stufe nimmt zwei Kapitel ein. Sie kann als besonders wichtig angesehen werden, weil sie das noch immer im Ich eingekapselte Bewusstsein Knechts für die Wirklichkeit des Werdens und Vergehens außerhalb des Ichs öffnet. Es handelt sich um die Diskurse Knechts mit Pater Jakobus in Kloster Mariazell. Erst jetzt gelangt Knecht zu einem umfassenden Bewusstsein seiner Lage als Kastalier in der Wirklichkeit.

Die fünfte Stufe entsteht mit der Amtsübernahme als Glasperlenspielmeister. Knechts Amtsführung ist vorbildlich. Seine Hingabe an die Hierarchie ist ehrlich. Und doch kann auch er sein Menschsein nicht verleugnen. Als der Jugendfreund Plinio Designori wieder auftaucht, wird Knechts Neugierde für das Weltleben von neuem wach. Er wird sich bewusst, dass das Leben als Kastalier nicht alles gewesen sein kann. Er entschließt sich, das Amt des Glasperlenspielmeisters niederzulegen und mit einem Erziehungsauftrag „in die Welt“ zu gehen.

Die sechste Stufe ereignet sich beim Aussteigen aus dem Leben in Kastalien. Knecht findet seine frühere Unbekümmertheit wieder und weiß sich nun auf dem richtigen Weg. In unserer Erinnerung taucht an dieser Stelle Siddhartha auf, der nach dem Todeserlebnis am Fluss zu neuer Lebensfreude findet.

Die siebte Stufe wäre die Grenzüberschreitung zu einem tranzendentalen Bewusstsein. Das eigene Leben ist nicht mehr wichtig. Es geht um das Ganze und der Tod ist nur eine Zwischenstation. In dieser letzten Stufe, die alles hinter sich lässt, kann man die Erleuchtung aus dem „Siddharta“ wiedererkennen.

Man wird über die Zuordnung dieser Stufen des Erwachens im Glasperlenspiel verschiedener Meinung sein können. Es mag sein, dass man nur fünf oder drei Stufen unterscheiden möchte. Doch wichtig scheint mir, dass es sie gibt und dass sie in die Mitte von Hesses geistig-spirituellen Anliegen führen. Auf der höchsten Stufe findet der suchende Mensch zum Göttlichen Geist in sich. Es braucht keinen äußeren GOTT mehr. Es ist der kontemplative Mensch, dem das Licht der Gnade als Erleuchtung zuteil wird. Auf dieser Stufe der Hingabe an das Ganze des Kosmos wird das eigene an die Person geknüpfte Leben unwichtig. Ich spiele damit auf den offenen Schluss im Glasperlenspiel an.

Von den Inhalten her gesehen, zeichnet der von Hesse eingeführte Begriff des Erwachens zur Charakterisierung der inneren Entwicklung Josef Knechts ein interkulturelles Bild. In ihn eingegangen sind Hesses indische, christliche und taoistische Studien. Er bezieht sich auf Bewusstseinszustände, die in allen Kulturen und Religionen der Welt, die einen mystischen Weg aufweisen, zu finden sind. Ich sehe diese Arbeit Hesses durchaus parallel zu Hans Küng und dem interreligiösen Dialog. Hans Küng hat die goldene Regel als für alle Religionen gültige Maxime aufgestellt. Aus Hermann Hesses asiatischen Studien ist als Errungenschaft für das moderne Bewusstsein der Begriff des Erwachens hervorgegangen.

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D. Die Gedichte

Sie sind mit den Lebensbeschreibungen verbunden und stellen so etwas dar wie das emotionale und mentale Ausagieren auf der Suche nach dem wirklichen Glasperlenspiel. Josef Knecht soll sie geschrieben haben, als er noch ein Student war. Zu einiger Berühmtheit ist das Gedicht „Orgelspiel“ aufgestiegen. Aber noch berühmter wurde das Gedicht „Stufen“. Der Leser der Lebensbeschreibung erfährt, dass das Gedicht ursprünglich „Transzendieren“ heißen sollte. Der urprüngliche Titel drückt die Bewegung des Voranschreitens hin zum Sterben aus. Das Gedicht „Stufen“ markiert die Etappen und reiht sie wie Perlen auf: Die Jugend, das Mannesalter, das Alter, der Tod. Unter Hesse-Fans wird das Gedicht „Stufen“ als Vermächtnis Hermann Hesses gelesen.

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E. Die drei Lebensläufe aus dem Anhang

Es folgen die drei Lebensläufe Josef Knechts als Regenmacher bei den Naturvölkern, als Einsiedler in der Wüste, und als indischer Yogin. Alle drei tragen, wenn auch leicht verfremdet, den Namen Josef Knechts. Es ist unschwer zu erkennen, dass es Geschichten aus den Vorleben Josef Knechts sind. Der Josef Knecht aus Kastalien wäre demnach die letzte Reinkarnation eines Menschen, der sich in den Dienst der Menschheitsentwicklung gestellt hat.

1. Der Regenmacher (1933-34)

„Der Regenmacher“ ist der erste Lebenslauf, in dem Josef Knecht die Hauptfigur abgibt. Hesse hat ihn 1934 in der Literaturzeitschrift „Die neue Rundschau“ veröffentlicht und seine Leser in Deutschland erreicht. Mit dieser Erzählung begann Hesses „Realisierung“ seiner Suche nach dem Glasperlenspiel. Es stand zur Zeit der Arbeit am „Regenmacher“ noch nicht fest, dass es den kastalischen Lebenslauf geben würde. Fest stand nur, dass es einen christlichen und einen zukünftigen Lebenslauf geben würde. Hesse hat die 12 Kapitel des kastalischen Lebenslaufs erst in den Jahren 1938 bis 1942 geschrieben.

Schauen wir auf Aspekte, die beide Lebensläufe miteinander verbinden. Außer dem Namen „Josef Knecht“ und dass er eine Waise ist, wird man kaum gemeinsame Züge ausmachen. Und doch – es lohnt sich, genauer hinzuschauen.

In beiden Erzählungen wird Knecht als ein ehrfürchtiger Mensch dargestellt. Die Ehrfurcht war Hesse sehr wichtig. In seiner Betrachtung „Ein Stück Theologie“ unterscheidet er zwischen den Typen des Vernünftigen und des Frommen. Kein Zweifel, Knecht gehört zu den Frommen. Doch die Konstellationen, die diesen Charakterzug zur Entfaltung bringen werden, sind in beiden Erzählungen sehr verschieden. Josef Knecht als Lehrling und dann Meister des Wettermachens ist noch ganz Naturmensch. Er analysiert die ihn umgebende Natur nicht mit dem Verstand – genauso wenig, wie der Musiker Knecht die Kunst der Fuge von Bach analysieren würde – er nimmt sie wahr, lässt sie in sein Herz hineinwachsen und verkehrt mit den Mächten der Natur in höchster Achtung. Er ist bereit, die Erscheinungen der Natur hinzunehmen, wie sie sind. Und wenn die Natur von ihm fordern sollte, dass er sein Leben für den Frieden mit den Dämonen hingeben müsste, wo würde er es ohne zu zögern tun.

Der Regenmacher und Josef Knecht haben auch gemeinsam, dass sie Wissende sind. Der Naturmensch gewinnt sein Wissen aus der Beobachtung der Naturvorgänge. Er bewahrt es auf und gibt es in gemessener Form weiter an seinen Stamm, damit Jagd und Ernte günstig ausfallen. Außer Josef gibt es als Wissende im Dorf noch die Stammesmutter. Die Geschichte „Der Regenmacher“ wurde von Hesse auf 20.000 Jahre vor Christus datiert und in die Lebensform des Matriarchats eingebettet. Die Stammesmutter bezieht ihr Wissen noch aus den Erzählungen ihrer Vorgängerinnen.

Auch der Weg, den Josef Knecht zurücklegt, um Nachfolger des Wettermachers Turu zu werden, erinnert schon an den Weg des Knaben Knecht bis zu seiner Ernennung zum Glasperlenspielmeister. Es handelt sich um dasselbe Muster, dass ein Knabe die Aufmerksamkeit des Meisters auf sich lenkt und es schließlich erreicht, als Lehrling von ihm angenommen zu werden. Dieses werbende Umschleichen der bewunderten Autorität des Meisters, der dem Adepten zunächst die kalte Schulter zeigt, entlockt dem Autor Hesse feinstes Können als Erzähler. Beeindruckend geschildert wird die Stunde der Initiation des Adepten durch den Meister. Auch dies ein Moment im Muster der Aneignung der Kunst des Meisters durch den Schüler, der in beiden Lebensläufen ähnlich gestaltet wird.

Interessant scheint mir der Gedanke, dass beide Erzählungen ein zentrales Thema haben, die Musik ist das Hauptthema im kastalischen Lebenslauf. Das Walten der Naturkräfte im Alltag des Stammeslebens, das Thema im Lebenslauf des Regenmachers. Das naturnahe Leben bildet also den Ausgangspunkt von Hesses Suche nach dem Glasperlenspiel. Der ehrfürchtige Umgang mit dem Wissen und die Demut, die es braucht, die Macht nicht zu missbrauchen, die es verleiht, ist sozusagen eine erste „Realisierung“ von Hesses Botschaft gegen den Nationalsozialismus, dass der Mensch nach geistigen Werten streben und sie vorleben sollte.

2. Der Beichtvater (1936)

Die Erzählung „Der Beichtvater“ wurde 1936 in der Literaturzeitschrift „Die neue Rundschau“ veröffentlicht. Sie ist vermutlich auch in diesem Jahr entstanden. In dieser großartigen Erzählung verwirklicht Josef Knecht sein Leben als Christ. Josephus Famulus beendete sein „sündiges“ Leben mit 36 Jahren und schloss sich den Christen an, die in der Wüste als Einsiedler lebten. Er folgte dem Beispiel der heiligen Wüstenväter Paulus und Antonius. Für sie alle galten ja die Hinweisen im Neuen Testament vom Rückzug Jesu Christi in die Wüste. Sie griffen auf Formen des Einsiedlerlebens zurück, wie es sie schon immer und überall auf der Welt gegeben hat. Sie erschufen, was später in das Klosterleben als vita contemplativa eingegangen ist. „Er (Jesus) lebte bei den wilden Tieren und die Engel dienten ihm“, heißt es bei Markus 1, 13. Doch die Realität der Wüstenväter und –mütter sah anders aus. Sie führten einen harten Kampf gegen ihre eigenen Gelüste, die ihnen als „Dämonen“ frech ins Gesicht grinsten. Die angestrebte „Läuterung“ war sehr viel schwerer zu erreichen, als von ihnen angedacht. Bestanden sie die Anfechtungen, stellten sie sich den Menschen als Berater zur Verfügung. Hesse als Erzähler legt den Schwerpunkt auf die Begegnung von zwei verzweifelten Beichtvätern. Der eine ist der schon alt gewordene Josephus Famulus. Er behandelt die Büßer, die zu ihm kommen, freundlich und verabschiedet sie mit einem Kuss auf die Stirne. Der andere ist Dion Pugil, der „Faustkämpfer“, vom Volksmund so genannt, weil er den Büßern, die ihn aufsuchen, ihre Sünden sozusagen „um die Ohren haut“, damit ihnen recht ordentlich Angst und Bange vor der Hölle werde. Beide Beichtväter sind Alterszweifeln erlegen, beide fliehen sie von ihrer Arbeit hinweg und wollen einander aufsuchen, um Rat und Trost zu erfahren. Josephus beichtet zuerst und erfährt Erleichterung. Er fügt sich der Anordnung von Dion Pugil und dient ihm bis ans Ende der Tage. Damit löst er noch einmal mehr ein, was sein Name „Famulus“ bzw. Knecht aussagt. Der Erzähler entwickelt den Gegensatz und die Gleichheit zwischen beiden Figuren mit großer Freude am Vertauschen der Rollen. Er lässt schließlich Verständnis und Ehrehrbietung aus dem Gegensatz hervorgehen. Josephus erkennt durch den Gegensatz zu Dion seine eigene Art besser und findet dahin, sie zu bejahen, ohne die Art von Dion negativ zu bewerten. Wir sehen in der Begegnung der beiden Beichtväter ein kleines Modell entstehen, wie Menschen, die sich zunächst ablehnen, dahin finden können, einander zu verstehen und miteianander in Frieden und Freundschaft zu leben.

Vielsagend ist auch die Begegnung zwischen den beiden Beichtvätern im Anschluss an den Besuch eines gelehrten heidnischen Mythologen und Sterndeuters. Josephus wirft Dion vor, der das Gespräch geführt hatte, dass er den Heiden nicht bekehrt habe. Es wäre dies die Argumentation der Eltern von Hesse gewesen. Missionieren hieß für sie: die Heiden zum Glauben an Christus zu bekehren. Der Sohn Hermann hingegen hielt nichts davon. Er praktizierte die Gleichberechtigung der eigenen christlichen mit der fremden Kultur und Religion. Er lässt Vater Dion deshalb in dem Streitgespräch sagen: „Für jene aber, die unsern Glauben noch nicht gefunden haben, … ist ihr Glaube, aus alter Väterweisheit stammend, mit Recht ehrwürdig. Gewiss, Lieber, ist unser Glaube ein anderer, ein durchaus anderer. Aber weil unser Glaube der Lehre von den Gestirnen und Äonen, von den Urwassern und Weltmüttern und all dieser Gleichnisse nicht bedarf, darum sind jene Lehren an sich keineswegs Irrtum, Lug und Trug.“ (S. 699 )

Anders als im Fall Indiens, spielt das Christentum aber nicht nur im zweiten Lebenslauf mit dem Titel „Der Beichtvater“, sondern auch im Roman selbst eine große Rolle. Zum einen in der Figur des Pater Jakobus zu nennen. Zum anderen ist ein bestimmtes Verständnis von der Musik Johann Sebastian Bachs grundlegend für das Verständnis des „Glasperlenspiels“. In der Figur des Pater Jakobus äußert Hesse seine Bewunderung für die Tradition der Katholischen Kirche. Und es ist Pater Jakobus, der Josef hilft, das abstrakte, sich der Geschichte und Gegenwart enthebende Wesen von Kastalien zu durchschauen. Wenn man so will, erhält Josef durch Pater Jakobus einen ersten „Kratzer“ in seiner Identifikation mit Kastalien.

Der Altmusikmeister vermittelt dem Knaben Josef die Liebe zur Kunst der Fuge. Diese Musik steht für die Ordnung des Kosmos. Sie verkörpert die Sprache Gottes in der Kunst. Wir erinnern uns, dass Hermann Hesse als Knabe bei den Aufführungen der Johannes-Passion mitgesungen hat und für die evangelischen Christen das Hören der sakralen Musik einen Gottesdienst der besonderen Art darstellt. Etwas überspitzt formuliert, könnte man sagen, dass der Musikmeister zwei Gesichter hat: Als Musiker ist er dem christlichen Gott nahe, auch wenn er nicht von ihm spricht, und in seiner Kunst des Sterbens, des „Entwerdens“, steht er den alten Chinesen nahe.

3. Der indische Lebenslauf (1937)

Ein gutes Jahr vor dem Beginn der Arbeit am kastalalischen Lebenslauf Josef Knechts hat Hesse den dritten Lebenslauf von Josef Knecht geschrieben. Nachdem er als Wettermacher und Wüstenvater gelebt hat, wird er in das ferne Indien versetzt, und darf nun den lang gehegten Wunsch verwirklichen, im indischen Urwald das beschauliche Dasein eines Yogin zu leben.

Josef Knecht, der nun den Namen DASA trägt, kam schon als junger Mensch in Berührung mit einem Yogin. Er lebte als Hirte und vergaß, dass er einmal ein Fürstensohn gewesen ist. Die Hirten versteckten ihn vor den Verfolgungen seiner Schwiegermutter. Eines Tages holte er Honig im Wald und stieß auf den bewegungslos dasitzenden Yogin. Dasa wird vom Erkenntnisblitz getroffen.

Doch um wie der Yogin zu werden, muss er seine Anhaftungen ablegen. Er muss sich erst ins Getümmel des Weltlebens stürzen, um herauszufinden, was das Leben in Wirklichkeit sei. In einer in die Erzählung eingelagerte Vision erlebt Dasa seine Begierden und Kämpfe. Er durchleidet alles Leiden des Weltlebens, vom Gewinn der Macht bis zu ihrem Verlust und vom Gewinn der Liebe bis zu ihrem Verlust. Als er alles verloren hat, erkennt er. dass er, wie alle Menschen, an das Rad der Maya gebunden ist. Mit jedem neuen Loslassen begibt er sich mehr in die Mitte des Rads, dort wo die Narbe ist, die sich nicht mitdreht. Dasa ist jetzt reif dafür, ein Yogin zu werden. Der Meister im Urwald nimmt ihn als Schüler an, wissend, dass Dasa einen langen Weg des Erwachens vor sich hat.

Wir erinnern uns das „Transzendieren“ des Gedichts „Stufen“. Der indische Lebenslauf führt vor, was es heißt, Stufe um Stufe voranzuschreiten. In der Jugend ist es die Stufe der Liebe, die es zu meistern gilt. Es folgt die Stufe der Machtentfaltung des Ichs. Auf dem Höhepunkt der Macht kommt der Absturz in Krankheit und Alter. Es scheint keinen Ausweg aus dem Drehen des Rads zu geben. Und doch spürt jeder Mensch, der kämpft, die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden. Der Yogin steht für diese Alternative des Aussteigens aus dem Kreislauf. Im „Siddhartha“ hatte Hesse ja einen ersten indischen Lebenslauf gegeben. Der „Indischen Lebenslauf“ von 1937 knüpfte an die vorbuddhistische Zeit der indischen Mythologie an. Heinrich Zimmer, der Indologe, dürfte Hesse mit seinem Buch „Maya“ von 1936 dazu angeregt haben, sich ein letztes Mal mit dem Hinduismus zu beschäftigen. Hesse hat das Buch besprochen und gelobt. Heinrich Zimmer und seine Frau haben Hesse in Montagnola 1934 besucht. 1938 musste der Heidelberger Professor dem Druck der Nazis nachgeben und emigrieren, weil er Jude war.

Außer dem Namen „Knecht“ als Dasa, und dem Heranpirschen des jungen Dasa an seinen späteren Yoga-Meister, ist es die wundervoll beschriebene Bewegung des Transzendierens, die zum eigentlichen Glasperlenspiel hinführt. Dasa findet seine Vollendung in der radikalen Abkehr von der Welt. Nach Josephus Famulus also ein weiterer Einsiedler! Der „indische Lebenslauf“ aus dem „Glasperlenspiel“ führt vor Augen, was im kastalischen Lebenslauf als das „Erwachen“ von Josef Knecht bezeichnet wird. Der Mensch wird sich seiner Lage ohne beschönigende Illusionen bewusst und kann sich für Umkehr und Neuanfang entscheiden.

Ich komme zum Schluss. Ich hatte in meiner Einleitung davon gesprochen, dass Hesse vor dem Andrang des Hitlerismus in die geisten Welten Asiens und des Christentums „geflüchtet“ sei. Er brauchte Raum zum Atmen und weilte gerne bei den alten Chinesen. Er sah es als seine Aufgabe an, sich als Kulturschaffender der brauen Flut entgegen zu stemmen. Dabei nutzte er seine umfassenden Kenntnisse der Kulturen Indiens und Chinas. Er beschäftigte sich noch einmal mit dem Pietismus seiner Herkunft. Er verlieh den Figuren aus Kastalien: Dem Altmusikmeister, dem Älteren Bruder, und Josef Knecht Züge der „asiatischen“ Vollendung des Menschseins. Sie kommen in Qualitäten wie Erwachen, Gelassenheit und Humor zum Ausdruck.

Auch wenn der Leser und die Leserin nicht wüssten, dass das Werk eine politische Stoßrichtung besitzt und uns heute deshalb nahe steht: Hesses ideale Charakterisierung der Figuren wirkt in dem Sinn, in welchem Hesse immer gewirkt hat: Man muss lernen, zu sich selbst zu finden und zu sich zu stehen. Hermann Hesse hat diese Qualitäten vorgelebt. Mit seinen Schriften hat er sie für viele Menschen erlebbar und nachvollziehbar gemacht.

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© 2017 Johannes Heiner