Erläuterungen zur "Dritten Elegie"

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Dr. Johannes Heiner, März 2004

 

Beachten Sie auch die Publikation "Wege ins Dasein. Spirituelle Botschaften der "Duineser Elegien" von Rainer Maria Rilke."

 

(Die Zahlen bezeichnen die einzelnen Strophen. Die Nummern hinter den Sätzen verweisen auf den Anmerkungsteil.)

 

1

"Wehe" - Die Geste des Warnens findet sich in den Büchern der Propheten aus dem "Alten Testament". Der Sänger der Elegie lehnt sich an die prophetische Geste an und unterstreicht damit die Bedeutung seiner Ausführungen. 
Der "Fluss-Gott des Blutes" Neptun - "Neptun" ist der römische Name für Poseidon, den griechischen Gott des Wassers, der Flüsse und der Meere. Mit seinem Pferdewagen durchpflügt er die Meere und Flüsse; mit seinem Dreizack lässt er Quellen und Flüsse entspringen. Er gilt als der "Erderschütterer", d.h. als der Ursprung von Erdbeben. 
"Dreizack" - Das traditionelle Wahrzeichen des Gottes Poseidon, seine Waffe und sein Zauberstab. "unendlicher Aufruhr" - hier schwingt noch die Vorstellung Poseidons als Erderschütterer mit. "des Blutes Neptun" - Neptun ist der Gott des Wassers. Rilke bezieht die traditionelle Vorstellung von Poseidon auf die menschlichen Leidenschaften, die sozusagen im Blut des Menschen durch den Körper fließen und den Geist aufregen - so wie P. das Meer, die Flüsse "aufregen" und die Städte auf dem Land mit Erdbeben heimsuchen kann. 
"gewundene Muschel" - Rilkes Vorstellung ist, dass Neptun/Poseidon die Winde mit einem Muschelhorn wachruft. Auch in diesem Punkte "überschreitet" er die traditionelle Vorstellung von P. bzw. passt sie seinen Vorstellungen an. P.trägt den Dreizack, aber kein Muschelhorn. 
"ältere Schrecken" - auch in dieser Formulierung lehnt Rilke sich an die Vorstellung von Poseidon als dem Erderschütterer und Beweger der Meere und Flüsse an. Hinter der metaphorischen Ebene kündigt sich allerdings die Vorstellung an, dass die Liebe die Macht der Leidenschaften aufwühlt und damit Schicksalhaftes in Bewegung bringt, welches das Leben des einzelnen Menschen übersteigt. Der "Fluss-Gott des Blutes" Neptun steht als bildliche Vorstellung für diesen abstrakten Gedanken.

2

"die Bogen der Braun so zur Erwartung gespannt" - lies: Brauen. Rilke synkopiert gerne das "E". Ein Ausdruck höchster Anspannung, wenn die Augenbrauen sich einen "Bogen" bilden. 
"er entspringt und beginnt sich" - Gemeint ist der Jüngling, der von der Liebe berührt wird. Die Zu-Wendung durch die Geliebte gibt ihm das Gefühl, wirklich zu sein. Wie die folgenden Ausführungen des Sängers der Elegie zeigen, wiederholt sich im "Beginnen" des Jünglings die Liebes-Prägung durch die Mutter. Sie wird als eine ambivalente dargestellt: die Mutter mit ihrer Zärtlichkeit "fing ihn an"; doch findet sie nicht zu einer Begrenzung ihrer mütterlichen Zuwendung. Sie kann sich nicht zurücknehmen; deshalb "machte sie ihn klein". 

3

"schien ein Gehüteter" - Diese Formulierung betont noch einmal die Ambivalenz des Verhältnisses zur Mutter. 
"die Fluten der Herkunft" - Die Bedeutung dieses Bildes deckt sich mit den "älteren Schrecken" und dem "älteren Blut". Das Fließen der Herkunft spielt auf das unheilvolle Wirken des Fluss-Gottes Neptun an. 
"wie er sich einließ" - Der Jüngling lässt sich auf seine Liebesgefühle ein. Es erfolgt hier wie in den anderen Gesängen auch eine "Wendung nach innen", eine Art Innenschau auf den "Strom des Bewusstseins" in diesem Augenblick. Rilke löst damit seine berühmte Formulierung aus der "siebenten Elegie" ein: "Nirgends, Geliebte, wird Welt sein als innen". 
"liebte" - "liebte" - "liebte" - "liebend" - Die Vorstellung ist, dass der Jüngling in die Welt seiner durch die Liebe/Leidenschaft aufgewühlten Gefühle hinabsteigt, sie benennt und durch sein mutiges Hinschauen schließlich zu bannen vermag. Man muss hier an Orpheus und seinen Gang in die Unterwelt denken. Möglicherweise liegt an dieser Stelle der Ursprung der "Sonette an Orpheus". Die dritte Elegie wurde Anfang 1912 auf Schloss Duino begonnen und im Herbst 1913 in Paris beendet. Zur Vorstellung von Orpheus als dem Gott der beiden Reiche, die im Februar 1922 plötzlich da ist, ist es von hier aus nur noch ein kleiner Schritt gewesen. 
"Vor dir hat ers geliebt" - Rilkes Vorstellung ist, dass die Mächte der Leidenschaft und des Schicksals noch vor der Geburt des einzelnen Menschen "im Wasser" liegen würden. 

4

"unvordenklicher Saft" - aus der Zeit vor der Geburt.
"lautlose Landschaft" - Rilkes Beschreibung der Seele in Begriffen der Landschaft kündigt die zehnte Elegie an, welche über weite Strecken als eine Wanderung durch die Landschaft der Klage vorgeführt wird. 

5

"verläßliches Tagwerk" - Die Vorstellung ist hier, dass der Strom der Leidenschaft den Menschen in den Abgrund zu reißen droht, wenn er nicht arbeitet und z.B. einen Garten anlegt. Auch das Schreiben kann eine Form der Therapie sein. Das Arbeiten gewährt dem Menschen eine gewisse Beruhigung. "verhalt ihn" - halte ihn fest, dass er nicht hinweg geschwemmt werde.