Rilke und die Duineser Elegien - 5. Rilke und der Engel

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Jeder Mensch hat Anteil am göttlichen Wesen. Er kann es als "Gott" oder "Jesus Christus" außerhalb von sich oder als das "höheres Selbst" in sich begreifen. 4) Das Götlliche, wie ich es nenne, lebt im Innern eines jeden Menschen und kann durch Meditation und Beten erfahren werden. Es ist eines der Ziele im Leben, dass der einzelne Mensch "das Göttliche" erfahre. Der "Engel" kann ein Wegweiser bei der Suche nach dem Göttlichen im Innern sein. Das ist in der Tat der Kern des Inkarnationsgedankens, wie ich ihn verstehe. Durch das Geschenk seines Lebens hat der Mensch die Aufgabe erhalten, den göttlichen Geist zu manifestieren. Gelingt ihm dies zu seiner eigenen Zufriedenheit, kann er beruhigt, erlöst und gelöst, im Sterben von dannen ziehen. Es mag sein, dass sich dies, ob es ihr/ihm gelungen ist, erst im Sterben zeigen wird. Ich denke nicht, dass es eine Instanz außerhalb der Seele gibt, die das dann sozusagen prüfen wird. Ich denke vielmehr, dass jeder Mensch ein untrügliches Gefühl dafür hat oder im Sterben bekommt, ob sein Leben gelungen ist. 

Was nun ist die Erfahrung des Göttlichen, von der ich spreche? In Worten umschrieben ist es das reine Da-Sein. Alles ohne Ausnahme ist Energie, Schwingung, wechselndes Licht und Wärme. Alles prangt in den Farben der Liebe. Das sind meine Worte dafür. Im AT lesen wir von Jahwe als demjenigen, der da ist. Das "Himmelreich" von Jesus Christus zielt darauf. Rilke schreibt auf dem Höhepunkt der "Duineser Elegien": "Hiersein ist herrlich". 

Auf dem Weg der Inkarnation als einem zentralen Aspekt des Weges nach innen sind uns "gute Mächte beigegeben", die uns helfen, dass wir uns an den Ursprung in Gott erinnern und die uns Worte und Gebärden des Trostes und der Aufmunterung für den Alltag geben. In christlicher wie übrigens auch muslimischer Tradition sind diese Begleiter des Menschen die Engel. 5) 

Jeder Mensch hat also einen Engel. Jeder Engel schaut auf seinen Menschen und hat ihn lieb ("Schutzengel"). 

Jeder Mensch lebt mit seinem Engel in Symbiose. Er teilt mit ihm die innersten Gedanken. Selbst wenn es keine andere Menschen gibt - den Engel gibt es immer. 

Jeder Engel lebt mit seinem Menschen in Symbiose. Er hat ihn unaussprechlich lieb. Der Mensch kann aus der Anwesenheit des Engels Trost und Selbstwertgefühl beziehen.

Kein Mensch möchte sich deshalb von seinem Engel trennen. Kein Engel von seinem Menschen. Oder bist du des Todes? 

Und doch ist eine solche Trennung irgendwann einmal nötig oder sie passiert einfach. Mein Engel geht fort. Ich verabschiede mich von meinem Engel. 

Vielleicht passiert es, wenn der Mensch spirituell aufwacht und die Verantwortung für sein Leben übernimmt. Der mündige Mensch wird versuchen, sein Leben aus eigener Kraft zu gestalten. Wenn er das lange genug getan hat, kehrt er vielleicht zum Engel zurück. Aber auch der Engel hat sich verändert. Als Rilke zu seinem Engel zurückkehrte, war er ein Engel der Nacht geworden. 

Zuinnerst besteht die Sehnsucht nach dem Engel. Sie zeigt uns den Weg. Vielleicht gibt es keine Geborgenheit mehr. Es ist ein großer Schmerz, ohne den Engel leben zu müssen. Der Engel hat in mir die Illusion von Perfektion aufrecht erhalten. Nun muss ich mich in aller Unvollkommenheit annehmen. Ich umschreibe damit den innersten Kern dessen, was Inkarnation für mich meint. 

Dann, eines freien Tages, ist es so weit. Das ICH lebt sein eigenes, selbstständiges Leben. Es hat seine Be-Rufung erfahren. Es kennt seine Begabung und nutzt sie zum Wohl der Mitmenschen. Es braucht keine Abhängigkeiten mehr und keine künstlichen Haltegriffe. Es hat ein für allemal die Angst überwunden. Es ist in den Abgrund gestützt. Und daraus auferstanden. Vielleicht mit Hilfe des Engels. 

In der Sprache des Rilke-Gedichts ausgedrückt:

"Er lernte das Schweben, ich lernte das Leben, 
und wir haben langsam einander erkannt." 
(aus den "Engelliedern" in der frühen Sammlung "Mir zur Feier")

Rilke bearbeitete das Thema Engel von Anfang an. Und er endet gewissermaßen damit auf dem Höhepunkt der "Duineser Elegien" (1922). In den Elegien also kehrt der Engel in gesteigerter Gestalt zurück. Aber wie gesagt, es ist nicht mehr derselbe Engel. 

Von Anfang an eine Schutzmacht, die meine Schritte in einem als schwierig empfundenen Leben lenkt und mir das Vertrauen gibt, dass es eine "höhere Macht", dass es "Gott" gibt, in dem ich mich als Mensch geborgen fühlen kann. Die Engel halten sich nach traditioneller christlicher Vorstellung im "Garten Gottes" auf, sind wunderbar anzuschauen mit ihren langen Flügeln in verschieden Farben und schweigen und singen Halleluja und preisen die göttliche Vollendung. 
Rilke in seinen Engelgedichten noch der mittleren Phase im "Buch der Bilder" lehnt sich an diese Vorstellung in vielfacher Weise an. Die Engel deuten immer auf die zentrale Gestalt Gottes, der sie "am siebten Tage" erschaffen haben soll. Auf ihrem "Flügelschlag" liege sozusagen der Glanz des "Anbeginns". Sie kommen, wenn der Mensch sie ruft. Sie verbreiten allerdings nicht nur neue Zuversicht, sondern beunruhigen auch. Rilke hat diese Bedeutung der Engel in das Bild eingeschrieben vom Engel als dem "Wecker des Winds". Der Engel stellt den Menschen in das Leben und seine Verantwortung für das Ganze. Er verschont nicht, sondern fordert von jedem einzelnen Menschen ein "absolutes" Engagement für das Leben. Ich denke, dass in dem Bild von den "Scharlachfahnen", die der Engel auf "alle Türme" hisse, genau dieser Sachverhalt angesprochen ist. Von hier aus ist es nicht mehr weit zum späten Engel der "Duineser Elegien".

In den "Duineser Elegien" gewinnt der Engel noch einmal ein glänzendes Profil. Aber er hält sich nicht mehr nur "im Garten Gottes" auf, ist schön anzuschauen usw. Die Bedeutung des Engels als Verkörperung himmlischer Schönheit hat sich verändert. Im Vordergrund steht nun das Erschrecken vor dem Absoluten, das mit der Ankunft des Engels im Leben des Menschen sozusagen in die Sphäre des Menschen hineinbricht und einen "Sturm" entfaltet, der mit dem Tod verwandt ist. Das Absolute wäre der Blick Gottes auf unser Leben, das uns zwischen den Fingern zu zerrinnen scheint und wir - merken es noch nicht einmal richtig, wie schnell unser Leben und wie flüchtig. Die Begegnung mit dem Engel der Elegien wirft die Frage auf, was in unserem Leben Bestand hat. Ist es das Göttliche? Ist es die Liebe? die Kunst? der Tod? Rilke geht in jeder seiner Elegien dieser Frage nach und gelangt je nach Zusammenhang zu unterschiedlichen Antworten. Die ersten Elegien geben noch vorwiegend "negative" Antworten im Sinne des Psalmisten: Alles ist eitel. Doch ab der fünften Elegie werden die Antworten "positiver". In der "siebenten Elegie" preist der Dichter das Leben und rühmt es mit einigem Stolz und Selbstbewusstein sogar vor dem Engel. Der Begriff, der die positive Wende der Elegien andeutet und in dem sie aufgehoben erscheint ist der des Daseins. Für kurze Zeit erlangt das Leben eines jeden von uns das volle Da-Sein. Dies ist es, war der Dichter der siebten Elegie dem Engel zeigt und ihn auffordert, es weiter zu sagenÖ Das Da-Sein erschließt sich dem Menschen durch ein Leben in Einfachheit. Dies ist die abschließende Aussage am Ende der neunten Elegie. "Preise dem Engel die Welt, nicht die unsäglicheÖ". Sie bildet in meinen Augen "das dichterische Vermächtnis" Rilkes. 

Der Rilke-Kenner weiß, dass es Rilke vergönnt war, am Ende seines Lebens zu einem Leben in Einfachheit zu finden. Er war gesundheitlich schon angeschlagen und doch immer wieder neu berührt von der Landschaft und den Menschen des Wallis. Der Wallis ein Bergtal, durch den die obere Rhone fließt. Die Menschen dort lebten damals das beschwerliche und kärgliche Leben der Bergbauern und Winzer. Die harte Arbeit machte sie einfach. Ich habe mir sagen lassen, dass das Tal heutzutage vom Auto- und Fremdenverkehr ziemlich verdorben sei und man hoch hinauf müsse, wenn man noch die Natur erleben wolle... 

In den französischen Gedichten ab 1921 hat Rilke diese für ihn neue und berührende Einfachheit sprachlich gestaltet. Er ist von seinem Turm in Muzot aus viel spazierengegangen und hat seine Eindrücke notiert. Manches Gespräch mit den Bergbauern wird überliefert. Ich denke, es hat da keines metaphysischen Wesens (des Engels) mehr bedurft, um ihm, dem problematischen Dichter, die ersehnte Ruhe von den Anstrengungen des Lebens zu bringen. 


© Dr. Johannes Heiner, August 2004 

 

 

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