Narziss und Goldmund - 2. Lebensentwürfe: Zur "Seelenbiographie" von Goldmund

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Wie entwickelt sich Goldmund im Lauf des Romans? Welche Stadien der Entwicklung lassen sich ausmachen?

1. Mit "Persona" bezeichnet man das erste Stadium der Naivität. Die "Persona" ist der Teil von mir, den ich gerne zeige. Goldmund verfügt über ein gefälliges Äußere und hat es leicht, sich beliebt zu machen. Doch er verhält sich nicht ganz wie ein Klosterschüler. Narziss wird auf ihn aufmerksam.

2. Die Krise. Narziss sagt zu ihm: Du bist nicht du selbst. Du bist nicht zum Mönch geeignet. Das Selbstbild, das Goldmund von sich hat, wird erschüttert. Er erkrankt und beginnt zu verstehen, dass er an Erwartungen festhält, die der Vater an ihn gestellt hat. Seine Seelenkräfte regen sich und aus dem Abgrund der Angst steigt die rettende Erinnerung an die Mutter herauf. Goldmund überwindet die Krise und verfügt jetzt über ein eigenes Leitbild, das ihm Führung gibt.

3. Das neue Selbstbild. Goldmund grenzt sich von Narziss ab. Er macht eigene Erfahrungen auch außerhalb der Klostermauern. Jetzt ruft ihn das Leben. Goldmund verlässt das Kloster. In der Krisis hat sich die eigene Stimme befreit. Sie spricht zum Ich und das Ich folgt ihrem Ruf. An dieser Stelle setzt das Vagantentum von Goldmund ein und durch das Vagantentum gelangt Goldmund in Berührung mit den wirklichen Kräften des Lebens. Das Leben ist für Goldmund wie der Anblick des Januskopfes. Auf der einen Seite verheißt es Lust, Leidenschaft, Kreativität, Abenteuer und vieles mehr, auf der anderen Seite lauern Tod und Vernichtung. 

4. Die Begegnung mit dem Schatten. Als "Schatten" bezeichnet man die dem Inneren zugewandte Seite des Ichs. Dort schlafen die verdrängten Inhalte, die man vor den anderen Menschen und sich selbst verbergen möchte wie z.B. Hass und Gewaltätigkeit. Die Begegnung mit der Sterblichkeit des Menschen und mit der Vergänglichkeit des Lebens erzeugen eine unbewusste Traurigkeit, vielleicht sogar einen Lebensüberdruss.
Das elementare Leben als Landstreicher bringt die Kräfte des Schattens an die Oberfläche des Bewusstseins. Goldmund hat Lust, viele Frauen zu besitzen und er handelt danach. Er empfindet Genugtuung darüber, wehrhaft zu sein und er tötet Viktor. Er hat sogar Lust am Morden, wie in der Szene eindrücklich geschildert wird, als Goldmund den Vergewaltiger von Lene grausam umbringt.

5. Die Reue und Umkehr ist ein Ergebnis des schlechten Gewissens und der Einsicht. Goldmund übernimmt Verantwortung für seine Schlechtigkeit und beichtet. Die Beichte befreit ihn von den Schuldgefühlen.

6. Die Integration des Schatten. Als Künstler beugt sich Goldmund erneut über die Erfahrungen seines Lebens und gestaltet sie. Dadurch transformiert der die rohen Kräfte und verfeinert seine Wahrnehmung der Wirklichkeit. 
Das Kunstschaffen trennt das Wesentlich vom Unwesentlichen und verleiht dem flüchtig Vergänglichen eine gewisse Stabilität und Dauer. Die Kunst kann aber das Leben als die Erfahrung der Tiefe nicht ersetzen. Sie nimmt diese Erfahrung vielmehr auf , drückt sie aus und stellt sie auf eine andere Stufe. Wenn dieser Prozess gelingt, gewinnt das Kunstschaffen des Einzelnen Bedeutung für die Allgemeinheit.


Das Kunstschaffen

Die Kunst von Goldmund besteht darin, Figuren aus Holz herzustellen, die dem Betrachter Urbilder der Seele vor Augen führen. In der Terminologie von Carl Gustav Jung sind dies die Archetypen. In der Figur des Johannes bzw. Narziss gestaltet Goldmund das Urbild der Vergeistigung (die langen Hände, die asketische Lebensführung usw.). In der Figur der Madonna ist es das Urbild der weiblichen Unschuld, das immer auch Schönheit und Anmut ausstrahlt. 

Goldmund bleibt nicht auf einer bestimmten Stufe stehen. Auch das Künstlertum ist kein Idealzustand, weil es dazu neigt, den Künstler zu isolieren. Goldmund durchläuft immer neue Stufen der Wandlung. Der "Ruf des Lebens" an seine Seele ertönt immer wieder und bis zuletzt.

Allerdings verschafft die Erfahrung des Gelingens in der Kunst so etwas wie Seelenfrieden. Das Gelingen ist etwas anderes als der Erfolg. Mit "Gelingen" ist gemeint, dass der Künstler in der Lage ist, die Urbilder seiner Seele aus dem Innern nach außen zu bringen und ihnen eine materielle Gestalt zu geben, die vom Betrachter nachvollzogen werden kann. Die Bedingung dafür ist, dass der Künstler selbst eine gereifte Persönlichkeit im Sinne von Goldmund ist. Er muss die Tiefe des Lebens gekostet haben, wenn er seinen Mitmenschen Wein einschenken will und nicht Wasser.

 

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