Lesehilfen zum Glasperlenspiel - 3. Zum Erwachen des Josef Knecht

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„Das Erwachen“ bei Hermann Hesse auf einen Blick

1. Definition

Hermann Hesse verwendet den Begriff ausdrücklich im Siddhartha (das entsprechende Kapitel steht am Ende des ersten Teils) und im Glasperlenspiel. Dort ist sogar von Stufen des Erwachens die Rede. Der Sache nach kommt es in fast allen seinen Erzählungen ab 1918 vor.

Der Begriff des „Erwachens“ steht bei Hesse in der Tradition des Pietismus, einer protestantischen Erweckungsbewegung, des Buddhismus (angelehnt an das Begriffspaar Sansara – Nirvana) und der christlichen Mystik von Meister Eckehardt und Jakob Böhme. Hesse hat aus diesen religiösen Traditionen geschöpft und einen eigenen Begriff erschaffen, der Bedeutungen aus den genannten Traditionen aufnimmt und sie neu zusammenfügt. Beispiele für den Zusammenhang mit den Traditionen sind: Der Gedanke der Gnade; der Mensch kann das Erwachen nicht „machen“; oder das Bild der Geburt aus dem Geist Gottes für den Prozess der Sinnfindung und Umgestaltung in der Krise.

Als Definition lässt sich angeben: Das Erwachen ist ein mystisches Ganzheitserlebnis, das den Protagonisten zum Innewerden seiner Lage führt und ihm zeigt, wie es für ihn weitergehen kann. Es ist mit einer Erweiterung des individuellen Bewusstseins verbunden und macht den Weg frei für eine Neuorganisation des eigenen Lebens.

2. Zusammenhang mit „Krise“

Die Krise disponiert den Menschen zu Erwachen und Umkehr. Der Mensch muss nach Hesse erst das ganze Leid durchlaufen, bevor er innerlich bereit zu Einsicht, Aufbruch und Neubeginn wird. Allerdings besteht von „Krise“ zu „Erwachen“ kein automatischer Übergang. Es ließe sich auch eine „negative Lösung“ denken, die als Ausweg aus der Verzweiflung nur den Tod zulässt. „Erwachen“ ist das Sich-Ereignen einer „positiven“ Lösung. Sie führt den Menschen in neue Bereiche seines sich erweiternden Bewusstseins.

3. Bedeutungsschichten des Begriffs

Grundlegend ist die Bedeutung von „Aufwachen“. Der Mensch, der am Morgen aufwacht, gute Laune verspürt und sich mit Freude seinen Aufgaben zuwendet – diese Grundbedeutung schwingt immer mit und wurde von Hesse in den Schriften vor dem Krieg und in Verbindung mit Wandern oft gestaltet.

Die Erfahrung der eigenen Krise hat Hesse dazu geführt, in Anlehnung an C. G. Jung die Existenz eines „Selbst“ anzunehmen, der das Ich/ Ego übersteigt und ihm  Impulse zum Weiterenwickeln und Fortschreiten auf der Stufenleiter des Bewusstseins gibt. Hier entsteht die zweite Bedeutungsschicht von Erwachen als einem Bewusstwerden des Selbst. Das Ego wird sich bewusst, dass seine Betrachungsweise nicht die einzig mögliche ist.

Die dritte Schicht führt den Menschen an seine Bestimmung heran, am Göttlichen teilzuhaben. Das Bewusstwerden der göttlichen Einheit allen Seins  stellt die höchste Stufe dar, die dem menschlichen Bewusstsein möglich ist.

(Zusammenfassung des Vortrags auf dem Hesse-Tag 2009 in Calw)

© Johannes Heiner

 

Stufen des Erwachens von Josef Knecht

Josef Knecht erfährt schon als Schüler mit zwölf Jahren eine Berufung zur Musik. Diese „Berufung“ wird vom Erzähler noch zwei weitere Male aufgegriffen und als Stufen der geistigen Entwicklung ausgebaut. Der „Erwachen“ genannte Prozess des Zusichselbstkommens beginnt erst später, beim Besuch des alten Chinesen im Bambusgehölz. Der Erzähler benutzt den Begriff des Erwachens hier zum ersten Mal innerhalb des Werkes „Das Glasperlenspiel“. Von hier aus gesehen kann es sich bei den drei Stufen der Berufung nur um Vorstufen des Erwachens handeln.

Auch die zweite Stufe des Erwachens ist deutlich markiert. Sie findet in den Gesprächen mit Pater Jakobus statt. Josef Knecht wird die gesellschaftliche Bedingtheit und Vergänglichkeit alles Gewordenen bewusst. Er entwickelt, ganz untypisch für einen Kastalier, ein politisches Bewusstsein, dass Kastalien als Insel in einer historisch gewordenen Gesellschaft nicht ewig Bestand haben kann.

Diese zweite Stufe klingt später immer wieder an. Sie ist es, die Knecht aus Kastalien herausführen wird.

Als dritte Stufe kann man als das Verglühen des Egos von Josef Knecht verstehen. Josef Knecht war kaum zum Glasperlenspielmeister gekürt worden, da musste er sich in hartem Kampf gegen die Elite durchsetzen. Er musste seine eigenen Vorlieben zugunsten des Ganzen zurückstellen. Dabei verletzte er den feinfühligen Freund Fritz Tegalarius, ohne sich dessen bewusst zu werden. Als der Kampf siegreich bestanden war, dämmerte ihm die Veränderung, die während dieser Zeit in ihm selbst stattgefunden hat. Man kann sicher darüber streiten, ob dieser von Josef Knecht erreichte Zustand von Klarheit und Distanz zum eigenen Ich eine eigene Stufe innerhalb des Erwachens darstellt. Wichtig ist allein, die Richtung der Entwicklung von Josef Knecht zu verstehen. Sie zielt auf das Entwerden des Ichs.

Auf der vierten Stufe legt Josef Knecht sein Amt als Glasperlenspielmeister nieder, übernimmt einen Erziehungsauftrag außerhalb von Kastalien und begibt sich zu den Designoris. Josef Knecht ist willens, seine kontemplativen Fähigkeiten in den Dienst der Welt zu stellen. Doch der Tod beendet diesen letzten Abschnitt in der Entwicklung von Josef Knecht. Man darf hoffen, dass der Geist Kastaliens, den Josef Knecht in vollender Weise verkörpert hat, auf den jungen Tito übergegangen ist. Unser Welt dürstet nach diesem Geist der Kontemplation.

© Johannes Heiner

 

>> 4. Mögliche Anwendungen in der Praxis

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