5. Die Weisheit jeder Lebensstufe

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Es sind vier Stufen, die das Leben des Menschen umspannen: die Kindheit und Jugend, das Erwachsensein und das Alter. Ausdrücklich genannt werden im Gedicht die Jugend und das Alter. Die Kindheit und die Mannesjahre werden nicht benannt, werden aber mitgedacht. Das ganze Leben von der Geburt bis zum Tode vollzieht sich in „Stufen“.

Auf der Ebene des Werdens der Natur vollzieht das Leben den Wechsel von der einen zur nächsten Stufe sozusagen von alleine.  Eines Tages kann ich die Anzeichen des Alters an meinem Körper nicht mehr übersehen. Vielleicht sage ich dann : Jetzt werde ich alt.  Dem Werden und Vergehen der körperlichen Kräften folgt  eine entsprechende geistige Einstellung nicht von alleine. Es kommt oft zu krassen Misstönen im Verhältnis zwischen dem Alter eines Menschen und seinem konkreten Verhalten, z.B. wenn ein alter Mann ein junges Mädchen heiratet. Das Gedicht „Stufen“ könnte dazu beitragen, ein Bewußtsein für die Notwendigkeit einer echten geistigen Einstellung zu jeder „Lebensstufe“ zu schaffen.

Die Jungen sollen nicht verächtlich auf die Alten schauen und umgekehrt: Warum? Hermann Hesse behauptet sogar, dass der alte Mensch dem Tod  mit der Qualität des Jungseins begegnen könne. Kann auch der junge Mensch „alt“ aussehen?

Es hängt von der inneren Einstellung ab, wie der Mensch sein jeweiliges  Lebensalter gestaltet. Die im Gedicht aufgezeigten Fehlhaltungen sind das Festhalten („lähmende Gewöhnung“) und die Mutlosigkeit. Werden diese überwunden, kann der Mensch den „ Lebensruf“ wahrnehmen. Dann  kann er z.B. die Aufgaben seines Alters erkennen und sich bewußt darauf einstellen. Wir kommen darauf am Ende dieser Betrachtung zurück.

 

Jede Lebensstufen wird im Gedicht als ein besonderer „Raum“ vorgestellt. Jeder „Raum“ könnte „heiter“ durchschritten werden, so Hesse, wenn die innere Einstellung stimmig wäre. Was „heiter“ meint, wissen wir aus dem „Steppenwolf“: die Fähigkeit, die sich entwickelt, wenn der Mensch erst einmal gelernt hat, über sich selbst lachen zu können.

Das Gedicht verleiht dem Leben des Menschen, als Ganzes betrachtet, einen zweifachen Sinn. Zum Einen zeigt es auf, dass jede Alterstufe für sich genommen werden muss und einen spezifischen, eigenen Wert besitzt. Wenn der Mensch das Besondere dieser seiner Alterstufe erkennt, kann er sich bewußt in Übereinstimmung mit den speziellen Aufgaben der Alterstufe bringen. Dazu gehört auch, dass er das, was die frühere Alterstufe gekennzeichnet hat, loslassen kann.

Jeder kennt die passenden Beispiele. Der Erwachsene, der in seinem Herzen noch immer ein Jugendlicher geblieben ist und deshalb die gesteigerten Verantwortung des Erwachsenenlebens scheut. Der gealterte Mensch, der seinen Beruf und das damit gegebene Ansehen nicht loslassen kann.

Zum Anderen gibt das Gedicht zu verstehen, dass der Gesamtverlauf des Lebens einen tieferen Sinn hat. Diese Sinnhaftigkeit drückt Hesse im Bild der “Stufen“ aus. Durch das Voranschreiten auf den Stufen des Lebens findet eine Erweiterung des geistigen Horizontes statt. Es ist, wie wenn der älter werdende Menschen auf den Stufen einer Leiter zu einem Aussichtspunkte gelangte, von wo aus er einen Überblick über das Leben insgesamt gewinnt. Von Stufe zu Stufe voranschreiten, heißt reif und vielleicht auch weise werden. Das Gedicht spricht von einem „Weltgeist“, der mit seinem Wirken den Menschen „heben will und weiten“ (Vers 13f.). In dieser Formulierung klingt die Suche von Sinclair, Harry Haller,  Siddhartha und Goldmund nach dem Sinn ihres je eigenen  Lebens an.

Oberstes Ziel ist bei Hesse immer die Verwirklichung der eigenen individuellen Gaben und Fähigkeiten. Für Hesse ist das Leben dazu da, dass der Mensch lerne, seine ihm von Gott verliehenen Gaben zu entfalten und sie zum Besten seiner Mitmenschen einzusetzen.

 

Wenn der Mensch nun alt wird, bedeutet dies auf der einen Seite ganz sicher einen Verlust an Jugendlichkeit und Schönheit und Kraft. Auf der anderen Seite aber bringt es dem Menschen einen Zuwachs an Wissen und Erfahrung. Erreicht er im Alter den Zustand der Gelassenheit, hat sich der Sinn des Lebens in ihm  erfüllt. Er ist weise geworden - so wie der Autor, als er das Gedicht im Alter von 64 Jahren schrieb. Gestorben ist er  im Jahre 1962  mit 85 Jahren. In den 21 Jahre zwischen der letzten Fassung des Gedichts vom 4.5.1941 und seinem Tod  liegen noch die großen Ereignisse des Fertigstellens des „Glasperlenspiels“ (1943) und der Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1946.

In diesem Sinne ist auch der „Widerspruch“ in der letzten Strophe zu lösen. Der alte Mensch bleibt „jung“, der  sich  in seinem Geist über den Verfall seines Körpers erhebt. Dies ist freilich etwas, denke ich, was der alternde Mensch von langer Hand vorbereitet haben müsste. Hat er z.B. sein Gedächtnis trainiert hat, dann darf er sich noch im hohen Alter an seiner geistigen Regsamkeit erfreuen.

 

Auf der einen Seite also verlangt das Leben vom Menschen die Umstellung und das Loslassen des Vergangenen. Auf der anderen Seite aber wird auch eine gewissen Vorausschau  und Vorsorge verlangt. Ich kann z.B. kein materiell gesichertes Alter erwarten,  wenn ich nicht vorgesorgt habe. Diese „Lebensgesetze“ sind unerbittlich. Getroffene Entscheidungen können nicht rückgangig gemacht  werden. Es bleibt einem dann nur noch übrig,  die Verantwortung für die misslichen Folgen zu übernehmen.

Das Gedicht spricht denjenigen Menschen Mut zu, die bis an ihr Lebensende bereit sind, dazu zu lernen und zu neuen Ufern der Erkenntnis aufzubrechen. In ihnen erfüllt sich die große Lebensspirale, die uns - in Stufen  - zur Weisheit und zu Gott hinführt.

 

Das Gedicht „Stufen“ wird von vielen Menschen und zurecht als ein geistiges Vermächtnis Hermann Hesses aufgefasst. Er hat es im Alter von 66 Jahren vollendet. Neun Jahre später, mit 75 Jahren hat er einen kleinen Aufsatz über das Alter geschrieben. Wir werfen einen Blick hinein und stellen die Frage, die Jugendliche immer stellen, wenn sie Vorbilder prüfen:

Hat er denn selber verwirklicht, was er in „Stufen“ verkündet hat?

 

Der Aufsatz „Über das Alter“ aus dem Jahre 1952 antwortet auf unsere Frage wie ein Echo. Er beginnt mit den Worten: „Das Greisenalter ist eine Stufe unsres Lebens, und hat wie alle andern Lebensstufen ein eigenes Gesicht, eine eigene Atmosphäre und Temperatur, eigene Freuden und Nöte. ... Altsein ist eine ebenso schöne und heilige Aufgabe wie Jungsein, Sterbenlernen und Sterben ist eine ebenso wertvolle Funktion wie jede andre...“  Hesse verschweigt nicht  die Schattenseite des Alters: die Beschwerden und die Nähe des Todes. Er beschreibt sie sehr konkret und führt dann aus: „Aber ärmlich und traurig wäre es, sich einzig diesem Prozess des Verfalls hinzugeben und nicht zu sehen, dass auch das Greisenalter sein Gutes, seine Vorzüge, seine Trostquellen und Freuden hat. Wenn zwei alte Leute einander treffen, sollten sie nicht bloß von der verfluchten Gicht, von den steifen Gliedern und der Atemnot beim Treppensteigen sprechen, sie sollten nicht bloß ihre Leiden und Ärgernisse austauchen, sondern auch ihre heiteren und tröstlichen Erlebnisse und Erfahrungen.“

 

So weit, so gut, wird unser Jugendlicher denken. Theoretisch lässt sich vieles behaupten, Herr Hesse. Was sind denn nun die von Ihnen gepriesen Vorzüge des Alters?

Hesse läßt sich von dem so forsch auftretenden jungen Mann nicht aus der Ruhe bringen. Er lächelt ein bissele (auf Schwäbsich!) und antwortet dann versonnen:

„Die mir teuerste dieser Gaben (des Alters) ist der Schatz an Bildern, die man nach einem langen Leben im Gedächtnis trägt und denen man sich mit dem Schwinden der Aktivität mit ganz anderer Teilnahme zuwendet als jemals zuvor.... Hier, in diesem Garten der Greise, blühen manche Blumen, an deren Pflege wir früher kaum gedacht haben. Da blüht die Blume der Geduld, ein edles Kraut, wir werden gelassener, nachsichtiger, und je geringer unser Verlangen nach Einfriff und Tat wird, desto größer wird unsre Fähigkeit, dem Leben der Natur und dem Leben der Menschen zuzuschauen und zuzuhören, es ohne Kritik mit immer neuem Erstaunen über seine Mannigfaltigkeit an uns vorüberziehen zu lassen, manchmal mit Teilnahme und stillem Bedauern, manchmal mit Lachen, mit heller Freude, mit Humor.“


Ich denke, dass Hesse das Kreuzfeuer der Fragen unseres Jugendlichen bestanden hat. Zurückbleibt der Eindruck von Glaubwürdigkeit. Da steht ein Mensch, der sagt, was er lebt. Der dichtet, was  er erlebt hat. Der weiß, was er erfahren hat.

Der die Kluft zwischen Wissen und Leben überwunden hat.

Wir sehen Hermann Hesse am Ende seines ebenso schwierigen wie auch  schönen Weges in die Tiefen der eigenen Seele angelangt. Wenn wir an den feurigen Eigensinn des Kindes von protestantischen Eltern zurückdenken, dem das Missionieren sozusagen mit der Muttermilch vererbt worden ist und dann den duldsamen Greis, wie eben, sprechen hören: Da kann der Leser nur über die unglaubliche Wegstrecke staunen, die dieser Mensch in seinem Innersten zurückgelegt hat.

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