6. Das Ganzwerden durch Dienen

Zuletzt aktualisiert am Samstag, den 24. Juli 2010 um 00:28 Uhr Geschrieben von: Administrator Freitag, den 23. Juli 2010 um 23:45 Uhr

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Hermann Hesse hat, wie wir schon gesehen haben, ein beeindruckendes Stück des Weges nach innen vollzogen. Er hat sich selbst als Ich geboren und gegen Widerstände von außen behauptet. Von dort aus ist er auf den Gegenpol des Nicht-Ichs zugegangen. Pol und Gegenpol, in dieser Dynamik vollzieht sich das Leben und Sterben auch im Geiste. Wer sein Ich herausgebildet hat, muss schließlich lernen es zu überwinden, will er im Einklang mit dem Gesetz des Lebens sein will. Wer als dienender Mensch beginnt, muss lernen, ein starkes Ich aufzubauen.

So jedenfalls sehe ich es selbst aufgrund meiner eigenen Erfahrungen. Vielleicht würde ich die Betonung des Willens in der Formulierung „er hat sich selbst als Ich geboren“ etwas abmildern oder zumindes betonen, dass der Prozess der Ich-Findung insofern mit Geburt zu tun hat, als man in den Prozess der Loslösung hineingeworfen und hineingedrängt wird. Ich muss es wollen - und dann geschieht es mit mir und „ich“ kann die Geschehnisse nicht mehr aufhalten.

Schon im „Demian“ bewegt Hesse sich auf das Nicht-Ich, den Gegenpol zum Ich, zu. Da gibt es so manches „Flügelrauschen“ des Engels der Selbstfindung in angedeuteten Führungen und Fügungen. Sinclair wird von Demian „geführt“. Da ist der Aspekt der Passivität schon angelegt. Doch erst im „Siddharta“ gestaltet Hesse den Gegenpol zum Ich unter dem doppelten Aspekt:

Wir haben den ersten Aspekt der Auflösung des Ichs in der All-Erfahrung schon dargestellt und besprochen. Es geht nun um den Aspekt der Überwindung des Ichs durch das Erlernen der Fähigkeiten, die dazu gehören, sich unterordnen und hingeben zu können.

Hesse gestaltet dieses Thema in Anlehnung an das „indische“ Modell des spirituellen Meisters und seines nach dem Sinn des Lebens suchenden „Schülers“. Siddhartha wird zum „Diener“ des Fährmanns Vasudeva, als er an den Fluss gelangt und innerlich umkehrt. Der alte und weise Fährmann verkörpert den spirituellen Meister. Siddhartha lebt mit ihm und kann ihn am Ende integrieren. Er lernt bei ihm, den Fluss, ein Symbol für den Lebensprozess schlechthin, in die eigene Leere hinein sprechen zu lassen. Er lernt bei ihm, einfach zu tun, was getan werden muss, die täglichen Verrichtungen und das Hinüberfahren der Reisenden zum anderen Ufer. Er lernt bei ihm das Loslassen der Vergangenheit und das Leben im Augenblick.

Auch der spätere Roman „Narziss und Goldmund“ gestaltet den „Ruf“ des Gegenpols, die Auflösung des Ichs und das Erlebnis der Einheit in Goldmunds Visionen von der großen Mutter. Ähnlich wie im „Demian der zum Symbol werdende Sperberkopf, der sich aus dem Ei  befreit“, werden in „Narziss und Goldmund“ die visionären Erlebenisse Goldmunds zum Symbol der inneren Umkehr. Sie helfen ihm, sich selbst im Widerstreit mit Narziss abzugrenzen und sie helfen ihm im Zurückfluss des Alters auf die Kindheit und Jugend, das starke Ich des Künstlers in den Dienst an der Gemeinschaft des Kloster zu stellen. Nach Jahren des Vagabundierens nämlich kehrt Goldmund in das Kloster seiner Jugend zurück und arbeitet hingegeben an verschiedenen Holzfiguren, die dann später in der Kirche aufgestellt werden. Dieses Dienen Tag für Tag fällt Goldmund alles andere als leicht. Er bricht immer wieder aus dem Klosterleben aus. Er tut sich schwer, auf die Freuden des weltlichen Lebens zu verzichten. Für seine Arbeit als Bildhauer, so Goldmund selbst, brauche er die Farben und Formen des Lebens auch außerhalb der Mauern. Es sind gerade diese Brüche und Widersprüche, die Hesses Darstellung der letzten Lebensjahre Goldmunds so glaubwürdig machen. Vergliche man sie mit dem Dienen Siddhartas, könnte man jene als noch etwas plakativ wirkend empfinden. Vom „Siddhartha“ zum „Narziss und Goldmund“, so mein Eindruck, hat Hesse eifrig an diesem Thema gearbeitet.

Doch möchte ich nicht schließen, ohne auf die Figur des Josef Knecht und auf das „Glasperlenspiel“ (1943) hinzuweisen. Der Name „Josef“ steht für einen demütigen und Gott ergebenen Menschen. Mit dem Namen „Knecht“ drückt Hesse den Gedanken des Dienens in drastischer Weise aus. Den spirituelle Meister Josef Knechts erkennen wir in der Gestalt des alten Musikmeisters, der den begabten Jungen nach Katalien beruft. Aus der dienenden Verehrung des Musikmeisters durch Josef Knecht entsteht mit der Zeit eine innige Freundschaft, die bis ans Lebensende des Musikmeisters anhält. Ein weiterer „Seelenführer“ wird dem Josef Knecht in der Gestalt des „chinesichen“ Eremiten beigegeben. Das Meister-Schüler-Verhältnis wird hier in enger Anlehnung an die Zen-buddhistische Tradition gestaltet. Josef Knecht ist hier noch ganz Schüler. Erst in den Auseinandersetzungen mit dem Pater Jakobus erlangt Josef Knecht die geistige Unabhängigkeit von seinem zweiten Seelenführer.

Der „indische Lebenslauf“ im Anhang zum Roman „Das Glasperlenspiel“ gestalter den Gedanken des Dienens in seiner reinsten Form. Hesse kehrt damit zu seinen spirituellen Anfängen zurück - der Meister, um den es hier geht, trägt nicht zufällig wieder den Namen Vasudeva. Doch ist Vasudewa jetzt kein tätiger Mensch mehr, sondern ein Kontemplierender auf, der sich in die Einsamkeit des Dschungels zurückgezogen hat und dort in bescheidensten Verhältnissen lebt. Josef Knecht bzw.die Verkörperung Josef Knechts in Indien ist von der Gestalt des meditierenden Eremiten absolut fasziniert. Er wird dessen Schüler, erlangt die geistige Selbständigkeit und tritt nach dem Tod Vasudevas an die Stelle seines Vorbildes.

[Vom „Indischen Lebenslauf“ im „Glasperlenspiel“ zurückblicken auf die erste Darstellung eines meditierenden Menschen im „Demian“. Der Freund Demian meditiert während des Unterrichts! Sinclair ist fasziniert und probiert es ebenfalls, zu meditieren. Die Stellen findet sich am Ende des Kapitels „Der Schächer“.]

 

Der jugendliche Sucher, der uns kritisch begleitet, wird an dieser Stelle gewiss die Frage stellen, ob die poetischen Gestaltungen des Themas vielleicht nur „Literatur“ seien? Wie also, so fragt er, sieht es mit Hesses eigenem Dienen aus?

Hesse hat immer die Auffassung vertreten, dass ein Autor zum Wohl der Menschheit schreiben solle. Und er wußte sehr genau, dass sein Schreiben nur dann überzeugend wirkte, wenn er über das schrieb, war ihn wirklich umgetrieben hat. Mit anderen Worten: Es wäre ihm nicht möglich gewesen, über die Auflösung des Ichs, das Erlebnis der Einheit und die Überwindung des Egos im Dienst am Anderen zu schreiben, wenn er es nicht selbst erfahren hätte.

Schon ein öberflächlicher Blick auf die Biografie Hesses zeigt sehr eindrücklich, wie hilfsbereit er immer gewesen ist. Ich meine nicht nur die oft erwähnten Hilfeleistungen an die gefangenen Soldaten im Ersten Weltkrieg und an die Flüchtlinge, die er während der Nazizeit aufgenommen hat. Ich meine die Tausenden von Briefe, die er unverdrossen an die Menschen in Deutschland geschrieben hat, die nicht nur seine Werke lasen, sondern in einem gewissen Sinne auch an ihn selbst, seine Integrität glaubten. Dass es Hesse gab und dass er weiterschrieb, gab vielen Menschen auch während des Zweiten Weltkrieges und zur Zeit der Nachkriegs-DDR, als Hesse verboten war und trotzdem gelesen wurde, jenes Fünkchen Hoffnung und Mut, das der Mensch zum Weiterleben braucht.

Ich schließe mit einem Zitat aus dem Märchen „Piktors Verwandlungen“:

„Er war verwandelt. Und weil er dieses Mal die richtige, die ewige Verwandlung erreicht hatte, weil aus einem Halben ein Ganzes geworden war, konnte er sich von Stund an weiter verwandeln, so viel er wollte. Ständig floss der Zauberstrom des Werdens durch sein Blut, ewig hatte er Teil an der allstündlich entstehenden Schöpfung. Er wurde Reh, er wurde Fisch, er wurde Mensch und Schlange, Wolke und Vogel. In jeder Gestalt aber war er ganz, war ein Paar, hatte Mond und Sonne, hatte Mann und Weib in sich, floss als Zwillingsfluss durch die Länder, stand als Doppelstern am Himmel.“

 

[Als Einführung empfohlen die Biographie von Ralph Freedmann, Hermann Hesse.  Freedmann, US-Amerikaner, widmet sich der Biographie und dem Werk Hesses ohne Vorurteil. Es liest sich wie ein Roman.]

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