B.6 Meditationen zu Texten aus dem "Stundenbuch"

Drucken

I,6 Du, Nachbar Gott


Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manches Mal
in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, -
so ists, weil ich dich selten atmen höre
und weiß: Du bist allein im Saal.
Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da,
um deinem Tasten einen Trank zu reichen:
ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen.
Ich bin ganz nah.

Nur eine schmale Wand ist zwischen uns,
durch Zufall; denn es könnte sein:
ein Rufen deines oder meines Munds -
und sie bricht ein
ganz ohne Lärm und Laut.

Aus deinen Bildern ist sie aufgebaut.

Und deine Bilder stehn vor dir wie Namen.
Und wenn einmal in mir das Licht entbrennt,
mit welchem meine Tiefe dich erkennt,
vergeudet sichs als Glanz auf ihren Rahmen.

Und meine Sinne, welche schnell erlahmen,
sind ohne Heimat und von dir getrennt.


Dass Gott „ganz nah“ und wie „ein Nachbar“ für den Menschen sein könnte, ist eine kühne Vorstellung. Wir Menschen neigen ja eher dazu, ihn ins Jenseits zu verfrachten, damit wir auf Erden unsere Ruhe haben. Nicht so der Mönch. Er spricht Gott mit „Du“ an. Das Wort wiegt schwer. Der Dichter hat ein Komma nach dem „Du“ gesetzt. Es gehört Mut dazu, Gott direkt anzusprechen.

Nun wird die Sehnsucht des Mönchs nach Gott noch weiter ausgemalt. Er stellt sich vor, dass er an der Tür, die zu Gott führt, anklopfen würde. Der „alte Mann“ Gott befindet sich allein im Saal. Er ist bedürftig und braucht die Hilfe des Menschen. Hier wird das traditionelle Verhältnis des Menschen zu Gott umgekehrt. Gott ist allein und er „tastet nach einem Trank“. Die Alliteration hebt den bildlichen Vorgang hervor.

Die zweite Strophe steigert das Bild. Es braucht vielleicht keine Anstrengung, um Gott nahe zu sein. Ein Rufen könnte genügen. Der Mönch ist sich aber nicht sicher. „Es könnte sein“, sagt er. Das Bild von der zusammenbrechenden Trennungswand zwischen Gott und dem Menschen empfinde ich als nicht weniger großartig als das Bild vom Nachbarn Gott. Es entspringt dem Wunschdenken des Mönchs.

Was mich an dem Text begeistert, ist seine Schlichtheit. Es gibt keine „Nacharbeitungen“ und keine Schnörkel, die befremden würden.

Die dritte Strophe besteht aus einem einzigen Vers, der damit hervorgehoben wird. Der Vers knüpft an I,4 an, wo es hieß: „Wir bauen Bilder vor dir auf wie Wände;/ so daß schon tausend Mauern um dich stehn.“ Mit dem Ausdruck „deine Bilder“ sind die Vorstellungen gemeint, die sich die Menschen im Lauf der Geschichte von Gott gemacht haben.

Die vierte Strophe führt in eine gewisse Dunkelheit, aber auch Schönheit hinein. „Namen“ und „Rahmen“ spielen auf die Ikone an. Es ist die Frömmigkeit des Mönchs, die sich auf der Ikone „vergeudet“. Das Wort drückt eine gewisse Resignation aus. Was vergeudet wird, geht verloren. Doch wie kann der Mönch traurig werden, wenn er eben noch das Zusammenbrechen der Trennungswände herbei gesehnt hat?

Der Schluss bringt die schleichende Resignation der vierten Strophe an die Oberfläche. Du, Gott, bist zu weit weg und unerreichbar, klagt der Mönch.

Die Klage und die Rühmung als Haltungen des Beters liegen nahe beieinander und gehen teilweise ineinander über. In den „Duineser Elegien“ werden wir diesem Phänomen erneut begegnen.

 

 

© Johannes Heiner 01/2013

<< zurück

weiterlesen >>