LZO No. 3 - Editorial

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Gespräch über „Begegnung“

Joachim hatte eine Künstlerin interviewt, sich dann in seinem Sessel niedergelassen und, etwas zerstreut, das schmale Bändchen zur Hand genommen, das neben dem Sessel auf dem Boden lag. Das intensive Gespräch wirkte nach. Er las mit den Augen, dann mit dem Mund den Satz von Martin Buber Alles wirkliche Leben ist Begegnung . Der Untertitel hieß: Hundert Worte von Martin Buber. Verlag Neue Stadt. Wie wahr, dachte Joachim, und versank in philosophische Gedanken über den Ausspruch des jüdischen Philosophen und Mystikers.

Da schaute seine Frau zur Tür herein und schreckte ihn aus seinen Träumereien auf. Sie fragte: Darf man denn wissen, was du gerade denkst? und setzte sich in den Sessel neben ihn. Du siehst so vertieft aus?

Joachim musste nicht lange überlegen. Die Sätze sprudelten nur so aus ihm heraus. Ich denke über „Begegnung“ nach. Ich hatte gerade eine Begegnung, ganz unverhofft und unmittelbar, mit einem Menschen, der mir nahe steht. Ich hatte den Eindruck, mit ihr über dem Leben zu schweben und ihr Leben und meines zu verstehen. Wir haben einen tiefen Blick in uns hineingeworfen und uns verstanden, obwohl wir sehr unterschiedliche Charaktere sind. Das Gespräch mit ihr hat mich angerührt. Ich versuche gerade herauszufinden, was genau mich berührt hat. Ich kann es dir noch nicht sagen. Ich glaube, es liegt an der Art, wie wir unser Gespräch geführt haben; anders gesagt, wie wir als „Ich“ und „Du“ vorbetaltlos und vertrauensvoll schon unser Gespräch begannen. Es gab keine Peinlichkeiten, auch dann nicht, wenn das „Ich“ oder das „Du“ Dinge von sich preisgegeben hat, die sonst nicht gezeigt werden. Es kommt mir vor, als hätten wir uns „aus der Deckung gewagt“.

Monika bestätigte den Gedanken von Joachim. Sie sagte: Eine Begegnung findet statt, wenn das „Ich“ einem „Du“ gegenübertritt. Ja, sagte Joachim, das ist doch banal. Monika verdeutlichte: Ich würde lieber sagen: Es klingt banal, ist es aber keineswegs. Das „Ich“ muss in mindestens zwei Richtungen agieren können. Es muss sich zeigen können, ganz authentisch, aber auch sich zurücknehmen, um dem „ Du“ Raum zu geben. Ja, stimmte Joachim zu, ganz richtig. Das „Ich“ muss das „Du“ anerkennen. „Anerkennen“ ist wohl zu schwach ausgedrückt. Das „Ich“ muss das „Du“ positiv wahrnehmen, vielleicht sogar wertschätzen. Sonst kann es keine Begegnung zwischen beiden Polen geben. Und er fügte hinzu: Das Zeigen, wie du es nennst, ist kein Angeben, sondern ein Sich Outen, um einen modernen Ausdruck zu benutzen. Das „Ich“ gibt sich ein Stück weit preis und macht sich damit angreifbar. Genau, pflichtete ihm Monika bei, das „Ich“ macht sich angreifbar. Es braucht Mut, in den Ring zu steigen. Aber das „Ich“ wirft keinen Handschuh hin und fordert nicht heraus. Das „Ich“ bekennt sich vielmehr zu seiner Begrenzung als „Ich“ und ist dann auch bereit, Schwächen des „Du“ zu dulden.

An dieser Stelle wurde das Gespräch durch den Lärm einer Kettensäge unterbrochen. Schon wieder ein Nachbar, der seine Bäume umsägt, stellte Joachim verärgert fest. Monika ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Sie sagte: Wenn der Nachbar eine Beziehung zu uns hätte, hätte er bei uns wohl gefragt, wie wir das sehen, dass die Aussicht auf die Bäume verändert wird. Aber er hat diese Beziehung nicht. Er schaltet und waltet nach Gutdünken. Deshalb ist es zu keiner „Begegnung“ mit uns gekommen.

Ganz richtig, antwortete Joachim, wenn die Menschen sich begegnen würden, müssten sie sich nicht bekämpfen. Begegnungen mit anderen Menschen erfüllen tiefe Sehnsüchte. Deshalb machen uns Begegnungen friedfertig.

Ja, sagte Monika, da ist noch ein anderer wichtiger Punkt. Ich habe es gerade gestern wieder bei meinen Kindern in der Schule erlebt. Es entsteht Gemeinschaft. Begegnung, Beziehung und Gespräch ermöglichen das Entstehen von Gemeinschaftsgefühlen. „Ich“ und „Du“ haben im Gefüge der Gemeinschaft einen Platz gefunden und nehmen ihn ein. Ist das Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören, erst einmal entstanden, lässt es sich immer wieder abrufen und aktivieren. Man muss nicht jedes Mal bei Adam und Eva anfangen.

Ja, sagte Joachim, das „Ich“ ist dann bereit, etwas für die Gemeinschaft zu tun, auch ohne auf Belohnung zu warten. In der Begegnung mit den verschiedenen „Du-s“ fühlt sich das „Ich“ gewürdigt und gestärkt. Das „Wir“ ist ihm wichtig geworden.

Jetzt konnte Joachim sich die Bemerkung nicht verkneifen: Wir reden nun schon wie in den Lehr-Dialogen von Platon!

Monika lachte. Wir sind ein „Wir“ geworden und trotzdem ist jeder ein „Ich“ geblieben. Ich brauch nur einen Blick in unsere Beziehung zu werfen, um zu wissen, was „Begegnung“ ist und mir bedeutet.

© Johannes Heiner