Rilke und Paula Modersohn-Becker

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Geschrieben aus Anlass des hundertjährigen Todestages von Paula (1907) und des hundertjährigen Bestehens von Rilkes Dichtung "Requiem für eine Freundin" (1908)


Lesen Sie auch In memoriam Paula Modersohn-Becker (1876 - 1907).

 

Paula gehörte für Rilke zur Worpsweder Erde und den dort angesiedelten Künstlerfreunden dazu. Er hatte dort für eine Weile (1900 - 1902 mit Unterbrechungen) Heimat gefunden und sah sich als Mitglied der Künstlerkolonie. Er widmete den Künstlerfreunden sein 1902 erschienenes Buch "Worpswede". Allerdings hat er in diesem Buch nur die männlichen Künstler charakterisiert. Er hat Paula eben so wenig wie seine Frau Clara, die ja als Bildhauerin tätig war, erwähnt. Wahrscheinlich war der Ruf der beiden Frauen noch nicht so stark ausgeprägt wie in späterer Zeit, dass Rilke auf sie hätte eingehen müssen. Die Anregung, ein neues Buchprojekt über Rodin in Angriff zu nehmen, stammte übrigens von den beiden Frauen. Paula hatte Rodin schon 1900 kennen gelernt und Clara war seine Schülerin.

Um so überraschender war es ihm, die künstlerische Entwicklung wahrzunehmen, die sich in Paulas Bildern für Rilke ab 1901 zeigte. Rilke hat Paula sein poetisches Skizzenbuch überlassen. Paula lieh im dafür ihr Tagebuch aus Worpswede. Was Paula über die Landschaft und die Menschen in Worpswede schrieb, öffnete ihm die Augen und half ihm, seine eigenen Erlebnisse zu verarbeiten.1) Der neue Blick Rilkes für die Künstlerschaft Paulas zeigte sich auch 1905, als er ihr Atelier in Worpswede im Rahmen eines Heimaturlaubs in Deutschland besuchte.2) Im Jahr 1906 in Paris sahen sie sich fast jeden Tag. Sie wohnten beide in der gleichen Pension rue Cassette Nummer 29. Das berühmte Bildnis Rilkes ist zu diesem Zeitpunkt in Paulas Atelier in Paris entstanden. Die Tatsache, dass Paula dieses Bild malen durfte, drückt Rilkes höchste Wertschätzung aus. Es gibt nur noch ein weiteres Bildnis von hohem künstlerischen Rang, das Rilke darstellt. Es handelt sich um das 1916 in Wien gemalte Porträt von Lou Albert Lasard.

Als er Paulas Entwicklung hin zum eigenen Stil wahrnahm, wurde ihm klar, dass noch kein Maler vor Paula die Dinge in Worpswede so wie sie gesehen hat. Er fand sie "rücksichtslos und geradeaus malend, Dinge, die sehr worpswedisch sind und die noch nie einer sehen und malen konnte". Und er fand ihre Kunst auf diesem "ganz eigenen Weg sich mit van Gogh und seiner Richtung seltsam berührend." 3

Neben dieser und anderen positiven Würdigungen steht allerdings auch Rilkes zunächst unverständliche Ablehnung der Heirat Paulas mit Otto Modersohn. Er selbst heiratete ja im gleichen Jahr wie Otto Modersohn (1901), trennte sich dann aber von seiner Tochter Ruth und von seiner Frau Clara Westhof im Jahr 1902, um nach Paris zu gehen und dort seine künstlerischen Entwicklung zu vollenden. Nach Paulas Tod im November 1907 sah er in der Ehe mit Otto Modersohn einen Rückfall in familiäre Anbindungen, die der künstlerischen Entwicklung hinderlich sind.4

Rilkes Ablehnung der Ehe Paulas wurde nach ihrem Tod im Kindbett 1907 zu seiner Erklärung, warum sie "sterben musste", bevor sie ihre Kunst vollenden konnte. Der vorzeitige Tod einer Freundin, mit der er sich sehr verbunden fühlte, ließ ihm keine Ruhe. Rilkes "Requiem", ein Jahr nach Paulas Tod geschrieben, ist ein stummes Selbstgespräch mit der toten Freundin. Der Dichter inszenierte es, angeblich um "der Toten" zu helfen, die keine Ruhe finden wollte. Doch in Wirklichkeit ging es ihm um seine eigene Seelenruhe. Er war es, der in seiner Erinnerung an Paula nicht zur Ruhe kam. Das Schreiben des "Requiem" diente dem Dichter zum Trost über den Verlust der nahen Freundin. Er schrieb es, um sein Gewissen zu beruhigen, das ihn mit der Frage verfolgte, ob er alles in seiner Macht stehende getan habe, um die junge, von Vielen geächtete, Künstlerin zu unterstützen. Mit dem "Requiem" gelang es ihm wohl, Frieden mit sich selbst im Hinblick auf Paula und seine Verehrung für sie zu schließen. 

Nach heutiger einhelliger Auffassung ist es nicht so, wie Rilke annahm, dass Paula ihre Kunst nicht vollendet hätte. Man geht heute davon aus, dass Paula ihren frühen Tod geahnt hat und die Besessenheit ihres Kunstschaffens der letzten Jahre aus diesem Wissen herrührte. Es ist wiederum Rilke, der sein Gefühl auf Paula übertrug. Er wusste, dass er noch nicht gesagt hatte, was er als Dichter zu sagen hatte. Das "Requiem für eine Freundin" aus dem Jahre 1908 zeigt einen Dichter auf dem Weg zu sich selbst. Es lohnt sich deshalb, das "Requiem" Wort für Wort zu buchstabieren. Dann erschließt sich die Nähe zur späteren Dichtung, den "Elegien" und den "Sonetten", wie von selbst.

Nach neueren Gesichtspunkten wird die Ehe von Paula mit Otto als befruchtende Künstler-Gemeinschaft gesehen (siehe die Ausstellung "Paula Modersohn-Becker und Otto Modersohn. Ein Künstlerpaar um 1900" in Hannover). Otto hat das große Talent seiner Frau schon sehr früh erkannt und kräftig unterstützt, indem er ihr die Freiheit zugestand, alleine nach Paris zu gehen. Umgekehrt war es Paula, die Otto in seinen schwachen Stunden mit ihrer Überzeugung stützte, dass sein Kunstschaffen von großer Bedeutung für die Entwicklung der Malerei in Deutschland war. Es galt, die Genremalerei zu überwinden und die verborgene Tiefe der Dinge zu entdecken. Paulas künstlerische Programmatik und Rilkes späte Auffassung der Poesie als Kunde vom Dasein stehen dicht nebeneinander.

Es ist keine Geheimnis, dass Paula sich von Otto trennen wollte, als sie 1906 wieder nach Paris ging. In dieser Zeit waren sie und Rilke sehr intensiv zusammen. In seinen Briefen an Clara berichtete Rilke immer wieder darüber. Doch blieb diese Krise wohl einmalig und wurde dann ja auch überwunden. Paula kehrte zu Otto zurück und gebar ihm eine Tochter. Die Geburt der Tochter kostete sie das Leben. Paula starb am 20. November 1907.

Man muss nicht Rilkes Urteil über Paulas Ehe teilen, um die erstaunliche Tiefe seines Empfindens für Paula als Mensch und Künstlerin nachzuvollziehen. Rilke hat auf Paula wichtige Züge seines eigenen Künstlerethos übertragen. Wie sie hat Rilke in der Kunst die größere Aufgabe gesehen. Und es war Rilke ebenso wie Paula, der sie mit höchstem Engagement und einer gewissen Ausschließlichkeit praktizierte. Er hat wie sie Einsamkeit und Armut auf sich genommen, um die selbst gestellte Aufgabe, das künstlerische Erschaffen einer höheren, unvergänglichen, von den Zufälligkeiten des Lebens gereinigten Existenz, erfüllen zu können. 

Im Unterschied zu Paula war es Rilke vergönnt, sein Dichtertum mit den "Duineser Elegien" und den "Sonetten an Orpheus" im Jahre 1922 zu vollenden. Sie gehören zum Größten, was das barbarische 20. Jahrhundert der Menschheit überliefert hat. Um was es dem Dichter Rilke letztlich ging, lässt sich schon im "Requiem" für Paula nachlesen. Er hat es kurz vor seinem Tod in noch einfacheren Worten ausgedrückt:

C`est notre extrême labeur :
de trouver une écriture
qui résiste aux pleurs
et qui devant nous re-figure,
précis dans leur clarté pure,
les beaux adieux navigateurs. 
5)

Meine Übersetzung: Unsere höchste Anstrengung gilt dem Finden einer Schrift, die den Tränen widersteht und vor uns hinstellt in genauer und reiner Klarheit die schönen Abschiede der Schiffsreise.6)

Rilke hat als einer der Wenigen7) die Größe und Eigenart von Paulas Kunstschaffen bereits zu ihrer Lebenszeit erkannt. Paulas Größe ist es, die Einfachheit darzustellen, die das menschliche Dasein in seiner Tiefe hat. Sie ist ähnlich wie van Gogh zu dieser Auffassung durchgestoßen und ihr treu geblieben. Der späte Rilke kommt ihr in diesem Kunstwillen sehr nahe. 

Man wird von hier aus das 1906 gemalte Bildnis Rilkes besser verstehen. Rilkes Dichtung wollte nichts anderes, als die erhabene Einfachheit der Dinge darzustellen. Rilke ist ganz ãMund" für das wahre Dasein der Dinge. Er hat wie Paula alles Persönliche, Subjektive und Intellektuelle (nur dem Verstand Angehörende) aus seiner Kunst herausgehalten bzw. hinter sich gelassen. Das überzeugt und macht betroffen, bei Paula wie bei Rilke.

© Dr. Johannes Heiner, November 2007 


1) Siehe ausführlich Rainer Stamm, "Ein kurzes, intensives Fest. Paula Modersohn-Becker. Eine Biographie." 2. durchgesehene Auflage Reclam 2007 S. 110
2) Siehe den Brief an Karl von der Heydt vom 16. Januar 1906, der darüber berichtet. Wiederabgedruckt im Inselbuch 2546 mit dem Titel "Rainer Maria Rilke, Über moderne Malerei", zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Martina Krießbach-Thomasberger, S.22 f. 
3) Zitate aus dem Brief Rilkes an Karl von der Heydt vom 16. Januar 1906 aus Meudon. 
4) Rilkes Vorurteil wird in der ãKommentierten Rilke-Ausgabe", KA I, S.854 erwähnt. Es geht auf Katharina Kippenberg zurück, die es an die Nachwelt überliefert hat: "Von Paula Modersohn-Becker sagte Rilke, sie hätte den großartigen Versuch gemacht, zu einer Einheit zu kommen, "und", setzte er hinzu, während seine Augen traurig wurden, "sie ist die einzige Tote, die mich beschwert". Mit "Einheit" dürfte gemeint sein, dass das Leben und das Werk der Künstlerin ein Ganzheit bilden. Die jungen Künstler wie Paula, Clara und Rilke schauten auch auf den Lebensstil der berühmten Zeitgenossen und nahmen sich die Lebensweise der von ihnen bewunderten "Meistern" zum Vorbild. 
5) Muzot, 26.6.1926, gewidmet der Schweizer Malerin Sophy Giauque, deren Bilder Rilke geschätzt hat. Zitiert im Inselband "Rilke und die moderne Kunst", S. 139. 
6) Rilke nimmt den Topos vom menschlichen Leben als einer Schiffsreise auf und bringt ihn bezeichnender Weise in die Richtung des Abschiednehmens.
7) Zu nennen ist neben Otto Modersohn, der die künstlerische Bedeutung des Schaffens seiner Frau von Anfang an erkannt hat, Dr. Pauli von der Bremer Kunsthalle und der Malerfreund in Paris Bernd Höttger, der eine ganze Sammlung von ihren Bildern aufgebaut hat. Eine größere Anzahl von diesen Bildern sind z.Zt. in Worpswede ausgestellt.