Die Musik als Motiv in Rilkes Spätwerk
für die Komponisten Heinrich Hartl und Holmer Becker
Die Gliederung:
- Initiation durch die Pianistin Magda von Hattingberg (Benventua) 1913/1914
- Die Musik als Motiv in den "Duineser Elegien" 1922
- Die Musik in den "Sonetten an Orpheus" 1922
Initiation durch die Pianistin Magda von Hattingberg (Benventua) 1913/1914
Rilkes Biographie weist neben den so entscheidenden Begegnungen mit Lou Andreas-Salome - entscheidend für Rilkes Selbstwerdung als Mann und frommer Mensch - und Auguste Rodin - entscheidend für das künstlerische Ethos Rilkes - eine weitere Begegnung auf, die weniger bekannt ist. Es handelt sich um die Begegnung mit der jungen Pianistin Magda von Hattingberg. Von den "Sonetten an Orpheus" und den "Duineser Elegien" her gesehen, wird man die herausragende Bedeutung von Rilkes Öffnung für die Welt der Musik, die mit dieser Liebesbeziehung einherging, sofort erfassen. Man kann also die Begegnung mit Magda von Hattingberg als eine der Hauptbegebenheiten im Entstehen der "Elegien" und der "Sonette" verstehen. Ich möchte hier nur zu beschreiben versuchen, was genau Rilke an der Musik fasziniert hat. Ich beziehe mich dabei auf das Spätwerk Rilkes.
Die Fakten der sich anbahnenden Brieffreundschaft zwischen Magda und Rainer und der sich daraus ergebenden Liaison hat Ralph Freedmann im Einzelnen zusammengetragen und nacherzählt (Band II der Biographie im Inselverlag S. 198 ff.) Ich erinnere nur in groben Zügen daran, daß sich die junge Frau an Rilke als den Verfasser der "Geschichten vom lieben Gott" gewandt hatte. Rilke in seiner seelischen Notlage - es ging ihm damals nicht gut, unter anderem, weil es mit den "Elegien" nicht voran ging - griff nach den sich darbietenden freundschaftlichen Gefühlen und offenbarte sich der jungen Frau in seiner Liebesbedürftigkeit, aber auch in seinem Vorsprung an Welterfahrung. Aus den intensiven Wünschen auf beiden Seiten entstand das erste Treffen und die Liebesbeziehung. Wie Ralph Freedmann meint, verlief sie in dem für Rilke typischen Muster der Steigerung zum Höhepunkt und des anschließenden Abschiednehmens. Höhepunkt der Beziehung waren wohl die Aufenthalte in einem Zimmer unter vier Augen, als Magda sich an den Flügel setzte und Rainer einfach nur zuhörte. Sie spielte Bach und Beethoven und er konnte sich ganz für das "Übersteigende" der Musik im Verbund mit der Liebe öffnen. Die "Elegien" und "Sonette" umkreisen diesen Aspekt der erfüllenden Hingabe an die Kunst in immer neuen Bildern und Chiffren.
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Die Musik als Motiv in den "Duineser Elegien" 1922
" ... Es muteten manche
Sterne dir zu, daß du sie spürtest. Es hob
sich eine Woge heran im Vergangenen, oder
da du vorüber kamst am geöffneten Fenster,
gab eine Geige sich hin."
(Die erste Elegie, zweite Strophe. Hervorhebungen durch mich, J.H. )
Die erste Elegie eröffnet einen ersten Ausblick auf das Motiv der Musik. Es handelt sich um ein eher unauffälliges Motiv. "Der Engel", "die Nacht" und "die Liebenden" sind auffällige Motive. Sie stehen im Vordergrund. Fragen drängen sich auf: Was ist das für ein Engel? Was meint Rilke mit der Nacht? Welche Auffassung von Liebe gestaltet er? Man könnte das Musikmotiv mit dem Lächeln als eines ebenfalls unauffälligen Motivs parallelisieren. Wie das Lächeln wird es in den Elegien nach und nach über Zwischenstufen zu einem Höhepunkt hin entfaltet. Die "siebente Elegie" bringt diesen Höhepunkt. Vorher aber ist noch der Schluß der ersten Elegie mit der "Klage um Linos" zu lesen. Linos war der antiken Sage nach ein musizierender Jüngling. Er wurde umgebracht, weil seine Schüler, unter ihnen Herakles, es nicht aushielten, weniger Erfolg als er zu haben. Wie der Frühling durchbricht der Gesang des Linos die seelische Dürre und Erstarrung. Er versetzt "das Leere" "in jene Schwingung", "die uns hinreißt und tröstet und hilft".
An dieser Stelle wird jedem Leser bewußt, wie gewichtig für den Sänger der Elegien (in meinem Buch über die Elegien habe ich diese Figur bewußt eingeführt) der Beitrag der Musik zur Klage und Rühmung des "Daseins" sein muß. Der Hinweis des Sängers ist diffus und in einen komplexen Satz eingefügt. Es braucht einige Geduld, bis das Gemeinte entschlüsselt werden kann. Dann löst sich der Sinn von den komplizierten poetischen Gestaltung ab: Die Musik besitzt die Zauberkraft zur Verwandlung einer verstockten und/oder verhärteten Seele.
Ich versuche eine erste Zusammenfassung: Der Klang einer Geige gibt sich dem Lauschenden hin, der zufällig an einem geöffneten Fenster vorbeikommt. Das ist ganz auf die Erfahrung der Gegenwart bezogen. Der Klang der Geige wirkt auf das Herz des Zuhörers. Die Musik wäre demnach die "Sternenkraft" in der Erfahrung des Gegenwärtigen. Sie besitzt heilende und tröstende Kraft für die verwundete Seele.
Der Schluß der "siebenten Elegie" stellt die Musik in eine Reihe mit den Ruinen der Antike, dem Sphinx, dem Dom, dem "Turm" und "Chartres" als Beispiel für eine gotische Kathedrale. Rilke hat in der Begegnung mit diesen Kunstwerken "die Sterne gespürt" - um es in der Sprache der ersten Elegie zu sagen. Übersetzten könnte man es mit: Er hat das lebendige Wirken des Göttlichen an diesen Orten, in Karnak (alleine und nachts) und in Chartres (in Begleitung von Rodin) gespürt. Die Musik, wie Benvenuta sie ihm nahebrachte, erinnerte ihn daran. Sie steht an letzter und damit bedeutendster Stelle der Reihung, mit welcher der Sänger dem Engel die Errungenschaften der Kunst vor Augen führt. Allerdings geht der Sänger dann gleich weiter. Er steht ja vor dem Engel und zeigt ihm - "da!" - was die Menschheit an großen Dingen vollbracht hat. Und nun kommt völlig überraschend die Hinwendung zur Figur der Liebenden - "oh, allein, am nächtlichen Fenster ..." und der Sänger fragt sich, ob sie dem Engel "nicht ans Knie" reichen würde? Die wahrhaft Liebende wird noch höher als die Musik gestellt, weil sich in ihrer Sehnsucht eine Urgestalt des menschlichen Herzens vollendet.
Was ich oben die "Sternenkraft" als die Erfahrung des Göttlichen genannt habe, ist auch hier, am Ende der "siebenten Elegie" wieder anwesend. Das Musikmotiv stellt sie dem gleichgültigen Zeitgeist entgegengestellt als die Kraft, die Himmel und Erde verbindet ("und bog Sterne zu sich aus gesicherten Himmeln").
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Die Musik in den "Sonetten an Orpheus" 1922
Die "Sonette an Orpheus" erheben das Thema Musik aus seiner untergeordneten Stellung in den "Duineser Elegien" zum Hauptmotiv. Musikalisch gesprochen steigern sie es, indem sie es mit der Sage um den Sänger Orpheus verbinden. Orpheus ist der Gott mit der Leier, der die Tiefe des Lebens erfahren hat. Sein Gesang besitzt die Kraft, die Welt zu verwandeln, wenn der Mensch bereit ist, sein reines Gehör zu öffnen.
Man kann die Gestaltung in den "Sonetten an Orpheus" auf vier Aussagen zum Thema Musik konzentrieren:
1. Der "Gesang des Orpheus" steht stellvertretend für die Kunst. "Kunst" ist ein Sammelbegriff für Poesie, Musik, Malerei, Bildhauerei. Rilke hat sein dichterischen Schaffen stets von Reflektionen über das Wesen der "Kunst" begleitet und mit seinem Denken nach ihr gesucht. Die erste Aussage, die er in "Sonetten" trifft ist: sie kann eine mächtige Lebenskraft sein, die wie ein Baum aus der Erde in den Himmel emporsteigt;
2. der Gesang des Orpheus kommt aus der Stille und führt in die Stille hinein;
3. er bewegt die Dinge; er haucht ihnen Atem ein und löst sie aus der Erstarrung, in der sie eine lange Zeit verharrten;
4. er erweckt in den Dingen die Schwingungen eines höheren geistigen, ja "göttlichen" Lebens. In dieser Art von innerem Leben finden die Dinge zur Erfüllung im "Da - Sein".
Ich glaube, daß sich eine Beweisführung am Text der "Sonette" erübrigt. Jeder Kenner der "Sonette" wird sich von der Richtigkeit dieser Thesen überzeugen können. Mich beschäftigt mehr die Frage, ob ich einen Aspekt übersehen habe. Dann zögern Sie bitte nicht, es mir mitzuteilen.
Frappierend wieder einmal für mich, wie konstant Rilke fast dreißig Jahre lang an seinen Themen und Motiven gearbeitet hat. Schon die Gedicht-Sprache des Abiturienten sucht nach größtmöglicher Entgrenzung. Sie gestaltet mit Vorliebe die Zonen des Übergangs vom Bewußten zum Unbewußten. Die engen Grenzen des Verstandes sollen "überstiegen" werden; das Leben soll "weit" werden und "groß"; "die Dinge" besitzen eine rückwärtsgewandte Seite, die sich erst in der Stille und Meditation erschließt; die Alltagserfahrung wird in kosmische Zusammenhänge eingebettet.
Eine solche Orientierung macht klar, daß die Auflösung in das Unbewußte das gesuchte Ziel darstellt. Die Individualität wird ausgelöscht, noch bevor sie entstehen kann. Rilkes geistiger Weg verlief allerdings als Wiedergewinnung der Individualität aus der "Nacht"-Erfahrung (siehe dazu meinen Aufsatz "Rilke als Mystiker" in der Festschrift für Willigis Jäger). Über schwierige Reflektions- und Schreibprozesse, die sich am "Malte" ablesen lassen, gewinnt er sich aus dem Leiden als Individuum zurück und gelangt zu einer umfassenden Bejahung des Realitätsprinzips. Die Auflösung der Grenzen in den "Sonetten" mit Hilfe des Musikmotivs hat von hier aus gesehen eine andere Qualität als im Jungendwerk. Man spürt, daß der Dichter nicht mehr im Lebensstrom "ertrinken", sondern daß er sein Ich bewahren und den Zusammenhang mit dem Göttlichen herstellen möchte. Ob am Beispiel des Sphinx-Erlebnisses in Ägypten oder an dem der gotischen Kathedralen oder des Olivenbaums im Garten von Schloß Duino: es handelt sich um ähnliche Chiffren, die uns Lesern als Hinweisschilder dienen können, daß es die geistige Welt wirklich gibt und daß sie reiche Ernte bereit hält für Menschen, die sich auf ihre Winke einlassen. Rilke hat viele solcher "Winke" gestaltet. Eines davon ist die Musik als Thema und Motiv in seinem Spätwerk.
© Dr. Johannes Heiner, 10. Juni 2006