Heimat im Zeitalter der Globalisierung

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Plädoyer für eine Erweiterung des Heimatbegriffs im Zeitalter der Globalisierung mit einem Exkurs über Rilke und seine Suche nach der Heimat.

Die Gliederung:

Einleitung
1. "Globalisierung" als Begriff / Das "globale Bewusstsein" als wünschenswerte Größe.
2. Auswirkungen auf unser Leben. Der Sog zur Ent-Heimatung und seine Folgen.
3. Lösungen
Schluss

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freunde,

eine Heimat zu haben, ist ein natürliches menschliches Bedürfnis. Das sollte auch in Zukunft so blieben können.
Möglicherweise ist es aber sinnvoll, den alten Begriff von Heimat zu erweitern. Davon soll jetzt die Rede sein. Aber vorher erlauben Sie mir, dass ich auf Rilkes lebenslange Suche nach der Heimat eingehe. Seine Bemühungen, sich zu verwurzeln, muten sehr modern an. Man könnte seinen Lebensstil des dauernden Wechsels als ein Beispiel für die Mobilität sehen, der wir uns heute befleißigen müssen. 

Rilke ist alles andere als ein Heimatdichter. Sein Werk gehört der europäischen Dichtung an wie das Werk von Dante, Cervantes, Shakespeare und Goethe. Es ist vorwiegend in deutscher Sprache geschrieben. Es liegen aber auch Texte in russischer Sprache und vor allem in französischer Sprache vor. 
Rilke hat seine Heimat Prag mit etwa 20 Jahren verlassen, um in Berlin und München zu leben und zu arbeiten. Er hat dann in der Großstadt Paris und in der französischen Sprache Fuß gefasst. Am Ende seines Lebens hat er sich im Wallis, einem französischsprachigen Kanton in der Schweiz, niedergelassen. Rilke kannte Schweden und Spanien, Italien und Russland. Er hat alle europäischen Länder bereist und ihre Sprachen gelernt und gesprochen. 

Noch bevor Rilke sich in Paris neu beheimatet hat, fand er seine neue Heimat in der Liebe zu Lou Andreas Salomé. "Du bist meine Heimat", so etwa könnte man Rilkes Verbundenheit mit der berühmten Frau zusammenfassen. Am Ende seines Lebens schrieb er im selben Sinn an Merline, seine Genfer Geliebte: " Tu es ma patrie sur terre. " Du bist mein Vaterland/ meine Heimat auf Erden. Die Liebesbeziehung öffnet den Menschen für das Wesentliche. Das vertraute Gespräch rührt an die Tiefe des eigenen Seins und vermittelt diejenigen Erkenntnisse, die die Seele braucht, damit sie weiter wachsen kann. Eine solche Beheimatung fand Rilke bei seinen Geliebten. 

Bei Lou kam noch der russische Hintergrund hinzu. Die Frömmigkeit der einfachen Menschen in Russland hat Rilke nachhaltig beeindruckt. Im "Stundenbuch" wirkt sie nach und trägt Früchte. Durch die Liebe zu Lou hat Rilke zur Hingabe an Gott gefunden. "Das Stundenbuch" ist ein Versuch, sie dichterisch zu gestalten. Mit Begriffen wie "Gott" und "Engel" bezeichnet Rilke seine neue spirituelle Heimat. 

Doch dann entfernte sich Rilke mehr und mehr vom Christentum. Er durchquerte das Tal der Verzweiflung, in dem das Nichts wohnt. Die Erschütterung seines Denkens und Fühlens war gewaltig. Es blieb kein Trostgedanke mehr übrig und keine Halt in der Liebe als Heimat. Der Dichter hatte nur noch sein Dichten. 

Erst mit der Vollendung der "Duineser Elegien" und der "Sonette an Orpheus" gewann Rilke neuen Boden unter den Füßen. Es war stets seine Hoffnung gewesen, dass die Dichtung seine eigentliche Heimat werden könnte. Nun war seine kühnste Hoffnung in Erfüllung gegangen. Eine großes Glücksgefühl und eine neue Leichtigkeit traten ein. Rilke entspannte sich und begann, anmutige Verse in französischer Sprache zu schreiben. Es bereitete ihm Freude, in dieser Sprache zu leben. Es entstanden poetische Miniaturen von großer Dichte. 

Als er am 29. Dezember 1926 die Feder aus der Hand legen musste, hatte sich Rilkes Sehnsucht nach einem einfachen und zufriedenen Leben erfüllt. Die "Duineser Elegien" und die "Sonette an Orpheus" enthalten viele Hinweise auf diese Wendung in Rilkes Leben. Das Schreiben in der französischen Sprache, die ja für ihre clarté et simplicité berühmt ist, hat ihm geholfen, sein neues poetisches Ideal zu verwirklichen. 

Das Thema "Heimat im Wandel" ist auch mir selber auf den Leib geschrieben. Ich lebe als ein schreibender Mensch in Poxdorf, Ofr. und betreibe einen Garten. Ich bin verheiratet und versorge meine Frau, die noch berufstätig ist. Mein Werdegang weist mehrere Wechsel von Vaterland, Heimat und Arbeit auf. Mit neun Jahren Wechsel nach Paris, mit siebzehn nach Madrid, mit zwanzig Jahren zurück nach Deutschland, aber nicht in die Heimat, sondern in ein "fremdes" Bundesland. Ich weiß also, wovon ich spreche. Doch möchte ich von vornherein klar stellen, dass ich nicht gegen Heimatverbundenheit bin, sondern sehr dafür. Verbundenheit mit der Heimat gibt dem Menschen die Kraft, die er braucht, um "die Stürme des Lebens" zu überstehen. Es besteht die Gefahr, dass die Globalisierung uns alle davon fegt wie der Herbstwind die Blätter. Um so wichtiger erscheint es mir, dass den Menschen die Chance gegeben wird, sich in einem Stück Erde zu verwurzeln. Meine These ist aber, dass es auch eine geistige Heimat geben kann und dass "Heimat" und "Globalisierung" sich nicht ausschließen, sondern wechselseitig ergänzen. 

Mein Vortrag bildet nur den Auftakt zu weiteren Versuchen, sich über die Situation, die wir in Deutschland haben, zu verständigen. Es ist gut, einen Vortrag als eine Chance zum Zusammen-Denken zu sehen. Wir brauchen viele Gelegenheit zum Zusammen-Denken, weil unser Leben kompliziert und undurchschaubar ist. Das Zusammen-Denken kann die eingefahrenen Denkmuster, die wir benützen, um unser Leben zu gestalten, in einen neuen Fluss bringen. Das Ins-fließen-Kommen der gewohnten Einstellungen erlaubt eine genauere Einstellung auf das Wirkliche und auf das Wahre. 

Unter diesen Vorraussetzungen, der Kenntnis von Rilkes Werk, meinen persönlichen Erfahrungen mit dem mehrmaligen Verlust der Heimat und einer gewissen Kenntnis der gesellschaftlichen Prozesse in Deutschland und in der Welt, möchte ich Ihnen einige Ideen zur gegenwärtigen Situation vortragen. Was ich Ihnen gerne vor Augen führen möchte, ist, dass gegenwärtig eine Ent-Heimatung weltweit stattfindet. Wir können diesen Sog in allen Lebensbereichen spüren. Wir wehren uns instinktiv dagegen, indem wir unser Heim wie eine Burg ausstaffieren. Wir wehren uns dagegen, imdem wir das Brauchtum unserer Heimat hochhalten. Wir wehren uns dagegen, idem wir unsere Ängste auf sog. fremde Menschen projizieren und sie damit ausgrenzen. Vielleicht gibt es aber noch andere Möglichkeiten, die mehr an dem dran sind, was unsere eigentliche Aufgabe als Menschen ist: nämlich, dass wir lernen, wir selbst zu sein. Schauen wir uns also die gegenwärtige Situation an.