Herta Müller: Atemschaukel

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Roman Hanser 2009

Eine Betrachtung von Johannes Heiner, März 2010

 

Herta Müller hat ihr literarisches Werk einen „Roman“ genannt. Er besteht aus 64 Kapiteln von sehr unterschiedlicher Länge. Manchmal nur eine halbe Seite lang, gibt es Kapitel von mehreren Seiten. Atemschaukel erzählt das Leben des siebzehnjährigen Leo in den drei Abschnitten Deportation – Lager – Heimkehr.  Die Verhaftung und Deportation stehen am Anfang. Die Kapitel, die das Bemühen des „Helden“ um Wiedereingliederung in der Heimat zeigen, stehen am Ende. Die Schilderungen des Lagerlebens stehen im Mittelpunkt und machen den größeren Teil aus. Der Aufenthalt Leos im Lager beginnt im Januar 1945. Leo wird fünf Jahre später aus dem Lager entlassen und begibt sich in die Heimatstadt zurück, aus der er vor fünf Jahren deportiert worden war.

Ich habe einen Satz aus dem Werk ausgewählt, um Sie von vornherein mit dem Sprachduktus der Autorin bekannt zu machen. Der Satz lautet:

„Wie läuft man in der Welt herum, wenn man nichts mehr über sich zu sagen weiß, als dass man Hunger hat.“ (S. 24 f.)

Der Satz spiegelt eine Existenz des Menschen wider, wie sie in keinem Wohnzimmer und in keinem Garten vorstellbar ist. Noch nicht einmal in der Schule wird man darüber sprechen. Die Minimalexistenz der Deportierten und der zu Zwangsarbeit Verurteilten entzieht sich unserem normalen Bewusstsein. Wir wissen nichts davon und wollen vielleicht auch nichts davon wissen, weil es uns nur belasten würde. Doch wenn Sie Ihre Bedenken, sich einzulassen, zurückstellen und einen ernsthaften Versuch machen, zu verstehen, werden Sie reich beschenkt werden. Die Autorin hat aus dem nackten Elend von Leo und seinen Weggefährten einen Diamanten von großer Leuchtkraft geschliffen. Ich möchte Ihnen diese These in vier Schritten näher zu bringen:

1. Verhaftung und Deportation
2. Lagerleben
3. Betrogene Heimkehrer
4. Sprachliche Verwandlungskraft

 

>> 1. Verhaftung und Deportation