Brief zur Zehnten Elegie - B. Die Leid-Stadt
Bereits mit dem Ende der ersten Strophe betreten wir andeutungsweise einen neuen Raum, den neuen Ort, von dem die zweite Strophe dann sagt, dass es die "Leid-Stadt" ist. In ihr verräumlicht der Dichter seine Abwehr des Zeitgeistes und ihre Un-Kultur der Zerstreuung. Wir erinnern uns an die siebte Elegie: dort hatte der Sänger bereits den Zeitgeist aufs Korn genommen. Er schaffe sich "weite Speicher der Kraft", könne sie aber nicht "gestalten". So gewinne er einen "spannenden Drang" aus allem, kenne aber keine "Tempel" mehr (Siebente Elegie, 6.Strophe). In der zehnten Elegie prägt der Dichter dafür den Begriff der Zerstreuung. Zerstreuung entsteht, wenn die Stille nicht mehr wahrgenommen wird, wenn sie immer "übertönt" wird. Wie "falsch" diese Art von Stadt sei, erkennst Du daran, dass der Engel diesen ihren "Trostmarkt" zertreten würde, wenn er es zu tun hätte. Der Dichter schließt die Kirche in dieses Verdikt mit ein.
Er führt uns sehr bald wieder aus dieser Stadt heraus, die mehr an Babel als an eine moderne Großstadt erinnert Wir werden. durch den Lärm hindurch, vorbei an den Buden des Jahrmaktes, vorbei auch an den Maisons de plaisir, wo das "Geschlechtsteil des Geldes" sein Unwesen treibt, geführt. Hinter eine Planke mit einer Aufschrift, die zu sagen scheint, dass der ausgegrenzte Außenbereich der Leid-Stadt den Todesmutigen und Todeserfahrenen, jenen also vorbehalten sei, die den Tod nicht aus ihrem Leben verdrängt haben (siehe dazu auch die Elegien 1 - 4), stoßen wir in der Gestalt eines Jünglings auf eine junge Klage. Es entspinnt sich ein dürres Gespräch zwischen dem Jüngling und der Klage. Er folgt ihr ein kurzes Stück, biegt dann aber wieder zurück Er ahnt die Vergeblichkeit einer solchen Beziehung.
Ich machte eben beim Schreiben wieder einmal die Erfahrung, dass sich mir die volle Bedeutung eines solchen hoch komplexen und verdichteten Textes offenbar erst erschließt, wenn ich darüber schreibe. Zu Beginn dieses Briefes litt ich noch zumindest in der Vorstellung am "horror vacui", der Angst vor dem Nichts. Nun entdecke ich lauter neue Bezüge. Die zehnte Elegie steht nicht nur für sich. Sicher, man kann sie alleine und für sich lesen. Das ist am Anfang so. wenn sich der Leser sehr konzentrieren muss, um in das Verstehen hinein zu kommen. Später, mit wachsendem Verständnis, weiter sich der Horizont und die Verbindungen treten klar hervor. Dann zeigt sich, mit welchem Geschick der Dichter die Fäden aus den anderen Elegien der Reihe nach aufgenommen und sie zu einer neuen Textur verwoben hat.
Die zehnte Elegie knüpft an die Rühmung der siebten und neunten Elegie an. Diese Rühmung erfolgt im Angesicht eines wachsamen Engels, der mit seinen Blicken dieSpreu vom Weizen zu trennen scheint. Nur das Eigentliche ist Wesentlich. Nur das Wesentlich hat Bestand. Dafür stehen die Engel in der zehnten Elegie ein. Die zehnte Elegie nimmt den Gedanken der ersten Elegien wieder auf, dass das Leben durch das Leid und durch den Tod geprägt ist. Der Jahrmarkt der Schausteller aus der fünften Elegie kehrt wieder. Wir durchqueren ihn als einen Trostmarkt in der Leid-Stadt. Es kehren "die Kinder", "die Liebenden" und die Tiere in Form der Hunde, welche "Natur haben" wieder. Nicht in die Stadt, versteht sich, sondern in jenem von der Armut und vom Tod gekennzeichneten Außenbezirk, der nahtlos in die Natur übergeht, in welcher sich die Berge des Urleids weit entfernt von der Stadt erheben. Dorthin kehren in der dritten und vierten Strophe auch die jung Verstorbenen aus der Heldenelegie zurück.
Unvermutet wird aus der Begegnung mit der Klage in jenem abgelegenen Außenbezirk der Stadt eine Wanderung durch das Ur-Land des Leids. Doch bevor wir der Klage folgen, wollen wir uns das Plakat anschauen, mit dem der Stadtbezirk sozusagen abgeschlossen wird. Der Dichter konkretisiert die Bedeutung der Stadt noch einmal in diesem einzigen Detail. Es wäre schade, darüber hinweg zu gehen. Es handelt sich um das Plakat mit dem Spruch "Todlos" für ein Bier, das die Menschen in der Stadt trinken sollen. Es ist ein "bitteres Bier, das den Trinkenden süß scheint, wenn sie immer dazu frische Zerstreuungen kaun…". Ein Bier, das das ewige Leben zu versprechen scheint? Süß schmeckt, aber bitter ist - wie das Leben? Eine "Zerstreuung" darstellt, eine Ablenkung von der Tatsache des Todes? Diese Werbung passt genau in den kritischen Tenor von Rilkes Darstellung der Leid-Stadt in dieser Elegie. Und er fährt fort: "gleich dahinter ists wirklich". Das heißt: hinter der "letzten Planke", die das Plakat mit der Bierwerbung trägt, beginnt der vom Leben in der Stadt verdrängte und ausgegrenzte Bereich der Wahrheit und des Seins. In seinem "Requiem" für Paula Modersohn-Becker aus dem Jahre 1908 hat Rilke dies im Hinblick auf unser Leben mit den Worten angedeutet: "hier, wo alles noch nicht ist" (Hervorhebung von RMR). ähnliche Formulierungen finden wir im dritten Stundenbuch "Von der Armut und vom Tode". Mir ist die Tragweite dieser früheren Andeutungen erst jetzt, beim Schreiben über die zehnte Elegie, klar geworden. Das wirklich Reale ist nicht, was uns die Werbung vorgaukelt und das oberflächliche Leben in der Stadt. Das wirklich Reale ist das Sein hinter diesen Erscheinungen. Die Erfahrungen des Todes eines nahe stehnden Menschen und gewisse "mystische" Erfahrungen in der Natur lassen uns das wirkliche Sein, unser eigenes wie das der Dinge, erahnen.
Kehren wir zu unserer Wanderung zurück. Der Dichter hatte sich in die Stadt auf der Suche nach einem Ort begeben, wo die Schmerzen sein dürften ohne beschnitten zu werden. Doch die Enttäuschung lässt nicht lange auf sich warten. Er sagt schon im ersten Vers der zweiten Strophe, dass die Gassen der Leid-Statt ihm "fremd" vorkämen. Dieser erste Eindruck bleibt und wird in dem sich nun vor unseren Augen entfaltenden Panorama mit seinen Plätzen und Straßen festgeschrieben. "O, wie spurlos zerträte ein Engel ihnen den Trostmarkt". Da geraten wir in die Nähe der richtenden Engel aus der Apokalypse. Interessant auch, wie der Dichter mit der Sprache spielt. Aus dem konkreten Jahrmarkt mit seinen Buden und Schaustellern wird ein "Trostmarkt", auf dem lauter Zerstreuungen feil geboten werden. Durch diese Veränderung gewinnt das Wort "-Markt" einen neuen, geistig-geistllichen Geschmack.