Brief zur Zehnten Elegie - C. Im Land der Klage
"Hinter ihr her kommt er in Wiesen. Sie sagt: -Weit. Wir wohnen dort draußen… Wo? Und der Jüngling folgt. Ihn rührt ihre Haltung."
Du wirst Dich vielleicht fragen: was ist das für ein Land, in dem die Schmerzen endlich sein dürfen wie sie sind. Denn darum handelt sich es sich ja, die Veranschaulichung des Landes der Klage. Die Klage tritt als ein Mädchen auf. Sie ist keine Person, sondern eine Allegorie. Sie steht für den Schmerz dieser Welt und sie "rührt" das Herz des Jünglings mit ihrer Schönheit und Anmut.
Ich möchte Dir nicht so gern eine schnelle Antwort geben. Lass es mich hinauszögern und finde Du die Antwort aus Dir heraus. Du erinnerst Dich vielleicht an den Dichter Dante, der das Land der Seele vor achthundert Jahren bereist hat? Mach es wie er und lass Dich einfach führen. Es gilt, erst einmal unvoreingenommen aufzunehmen, was der Dichter Rilke vor unser geistiges Auge hinstellt. Die Deutung ergibt sich dann fast von alleine.
Geführt von einer älteren Klage, gelangen wir auf unserer Wanderschaft in ein weites Land, in dem die Natur noch zu wirken scheint. Was in der Stadt nicht sein durfte, hier darf es und soll es "sein". Die dritte Strophe bildet den übergang zur Wanderung, die mit der vierten Strophe recht eigentlich beginnt. Der Dichter fordert die Mädchen auf, sich die Jünglinge und die jungen Toten zu Freunden zu machen..Der Dichter nimmt an, dass die Jünglinge dadurch besser in der Lage versetzt werden, die Schmerzen und das Leid zu verstehen. Mit den bildlichen Formulierungen "Perlen des Leids" und den "feinen Schleiern der Duldung" gibt er uns einen Vorgeschmack auf die in allegorischen Formen dargestellte Positivität der Leiderfahrung.
Es folgt eine umfangreiche Topografie der Leid-Lands. Genannt werden etwa zehn verschiedene Landschaftselemente. Die Beschreibung des Leid-Landes beginnt mit der Nennung des "Tals", in dem die Klagen wohnen, geht über zum "großen Gebirg", in dem die "Väter" den Bergbau betrieben haben und erstreckt sich in einem weiten Bogen bis hin zur Sphinx, vor der der Jüngling und die Klage in tiefer Andacht verharren. Es hebt sich der Blick auf zu den Sternen am Himmel. Sie werden im Einzelnen benannt. Es handelt sich nicht um die bekannten Sternbilder, sondern um Chiffren, die mit dem Leid-Land zu tun haben. Der Blick geht dann wieder zurück auf die Erde und versenkt sich in die "Talschlucht", aus der die "Quelle der Freude" entspringt. Es handelt sich nicht eigentlich um Beschreibungen von Tempelsäulen, Burgruinen usw. Es handelt sich vielmehr um knapp gehaltene Benennungen, die ihre Bedeutung erst aus dem Zusammenhang und nicht als einzelnes Element erhalten. Bei Gelegenheit der "Gräber der Alten aus dem Klage-Geschlecht" erfahren wir z. B., dass hier die "Sibyllen und Warn-Herren" begraben liegen. Die "Sybille" war bei den Griechen eine Seherin, die im Tempel geweissagt hat. Die "Warn-Herren" sind eine von Rilke erfundene Umschreibung für die männlichen Seher und Weissager, die Propheten. Dieser Zusammenhang spielt auf jene sagenhafte Urzeit an, in der Dichtung immer auch mit Sehertum (Prophetie), Priestertum und Gesang verbunden war. In den zur gleichen Zeit entstandenen "Sonetten an Orpheus" wird Rilke diesen Ur-Zusammenhängen der Verbindung von Sprache, Musik und Magie weiter nachgehen. Interessant ist die Frage, was mit dem Flug zunächst des Vogels, dann der Eule, gemeint sein könnte. Diese Flüge werden nicht nur benannt, sondern poetisch vergegenwärtigt. Vielleicht liegt die Antwort in der Art und Weise, wie sie dargestellt werden. Zunächst der Flug des Vogels. Er wird durch die beiden Wanderer, den Jüngling und die Klage, aufgeschreckt und zieht dann seine Bahn durch den Blick der beiden, ihr "Aufschauen". Die Flugbahn des Vogels und das Blickfeld der Wanderer werden als gleichwertige Realitäten aufgefasst, die sich überschneiden. Hinzu kommt als ein weiteres die Technik der Synästhesie. Sie wird an dem weiteren Satz deutlich. Er bietet gewisse Reize dem Auge, dem Fühlen und dem Hören: das "schriftliche Bild" (Auge) koinzidiert mit dem "einsamen Schrei", der das Fühlen und das Gehör anspricht. Diese poetische Figur treffen wir an Stellen höchster Erregung, wo das Geheimnisvolle und Numinose Gestalt anzunehmen scheint. (Ich verdanke den Hinweis dem KRG S.358f.)
Derselbe Sachverhalt lässt sich beim Flug der Eule ein paar Zeilen später nachweisen. Dieses Mal ist es eine Eule, welche durch die Wanderer aufgescheucht wird. Sie scheint auf dem Sphinx gesessen zu haben. Jetzt streift sie "im langsamen Abstrich die Wange des Sphinx entlang". Der Dichter setzt also wieder Impulse für das Auge und für das innere Fühlen ("Abstrich"). Das Fühlen wird auch vom nächsten Vers angesprochen, der die Wange als "jene der reifesten Rundung" bezeichnet. Eine Rundung wird erfühlt, kann aber auch mit dem Auge erfasst werden. Deutlicher wird der Versuch einer Gesamtwirkung von Auge, Ohr und Fühlung in den jetzt folgenden Versen, wo vom "Totengehör" die Rede ist, in welches die Eule den "unbeschreiblichen Umriss" ihres Fluges oder des Sphinx einzeichnet.
Gegen Ende der Zehnten Elegie treffen wir noch eine weitere Synästhesie an. Da heißt es:
"Einsam steigt er dahin, in die Berge des Ur-Leids.
Und nicht einmal sein Schritt klingt aus dem tonlosen Los."
Wir sehen den Jüngling sich entfernen und zugleich wird unser Gehör angesprochen ("klingt"). Das Verschwinden des Jünglings wird von einer unbeschreibliche Stille unterlegt, die seine Schritte zu schlucken scheint.
Ich hatte zu Beginn dieses Abschnittes gefragt, was es denn mit diesem Land auf sich habe. Ich denke, es ist jetzt der richtige Augenblick, auf diese Frage einzugehen. Nun, das Land der Klage ist das Land des Todes. In ihm und durch es gewinnt Wirklichkeitscharakter, was in der Stadt nicht sein durfte und konnte. In der Stadt ist alles Lärm, im Land des Todes ist überall die Stille spürbar. In der Stadt ist alles Zerstreuung, im Land des Todes Eigentlichkeit (siehe die "Tränenbäume" und die "Felder blühender Wehmut"). In der Stadt ist alles Fluch, im Land der Klage ist alles Segen. Das Land der Klage ist ein Gleichnis für das geistliche Lebendigwerden durch die Todeserfahrung.