Brief zur Zehnten Elegie - D. Der Schluss
Mit der Vergegenwärtigung der Sterne am Himmel des Leidlands erreicht die Wanderung ihren äußeren Höhepunkt. Die achte Strophe scheint ihn abrupt zu beenden. Sie setzt unvermittelt mit den Worten ein: "Doch der Tote muss fort…"
Die wirkliche Beendigung der Wanderung erstreckt sich über die drei Strophen acht, neun und zehn, die nun folgen. Die Klage nimmt vom jungen Toten Abschied und er steigt "einsam in die Berge des Ur-Leids".
Soweit die Handlungsführung. In ihr verborgen und für den flüchtigen Leser etwas versteckt, scheint ein geheimerer Sinn auf. Der junge Tote wird von der älteren Klage in jene "Talschlucht" gebracht, aus der die "Quelle der Freude" entspringt. Sie wird mit den für Rilke so wichtigen Attribut des Mondscheins versehen und es wird noch von ihr gesagt: "Bei den Menschen ist sie ein tragender Strom".
Mir scheint damit ein "innerer" Höhepunkt der Reise durch das Land des Todes erreicht. Das Leid hat sich unversehens in Freude verwandelt. Der Tod hat sich, einmal mehr, als Beförderer von Gold erwiesen. Wer durch das Totenland hindurch geht, so scheint der Text zu bedeuten, gelangt an die Quelle der Freude im eigenen Innern. Mit dieser Entdeckung im Herzen, kann der Wanderer oder Pilger ins Leben zurückkehren und die Freude wird ihm nicht mehr ausgehen. Sie wird als ein "tragender Strom" durch sein Leben fließen.
Wichtig für das Verständnis des Schlusses ist die Bewegung des Aufsteigens und Fallens in diesen letzten Strophen der zehnten Elegie. Von den Sternen am Himmel geht es hinunter in die Schlucht. Dann wieder in die Berge hinauf. Manfred Engel hat in seinem Kommentar auf die Bedeutung dieses Vorgangs hingewiesen (KME S.689). Die beiden letzten Strophen - mit ihnen schließt Rilke sein großes Werk ab - greifen diese Bewegung ein weiteres Mal auf und gestalten sie zu zwei "Gleichnissen" für das neue, durch den Tod geschenkte Leben. Die Haselkätzchen wie auch der Frühjahrsregen sind Symbole der Fruchtbarkeit, dass neues Leben gelingt. Die letzte Strophe spitzt zu. Wir Sterblichen denken und hoffen immer nur, dass unser Glück größer werde, dass es "steigen" möge. Was aber ist, wenn es "fällt"? In die Schlucht des Todes fällt, in der alles vergeht? Wäre es nicht klüger, statt auf das Glück zu zielen, sich für die Freude zu entscheiden?
Rilke führt in einer vom KME zitierten Briefstelle aus, dass die Realität der Freude "unbeschreiblich in der Welt sei. Nur in der Freude geht noch die Schöpfung vor sich (das Glück dagegen ist nur eine versprechliche und deutsame Constellation schon vorhandener Dinge), die Freude aber ist eine wunderbare Vermehrung des schon Bestehenden, ein purer Zuwachs aus dem Nichts heraus. Wie schwach muss im Grunde doch das Glück uns beschäftigen, da es uns sofort Zeit lässt, an seine Dauer zu denken und darum besorgt zu sein: die Freude ist ein Moment, unverpflichtet, von vornherein zeitlos, nicht zu halten, aber nicht eigentlich wieder zu verlieren, indem unter ihrer Erschütterung unser Wesen sich gewissermaßen chemisch verändert, nicht nur, wie es im Glück der Fall sein mag, in einer neuen Mischung sich selber kostet und genießt" (zitiert im KME S.701).
Unsere kleine Reise durch die Duineser Elegien findet damit zum Ende. Sie hat ein halbes Jahr lang gedauert und hat einige von uns näher zusammengebracht. Und sie hat mir geholfen, nicht nachzulassen. Ich wusste auch: da ist noch die Zehnte Elegie. Die wartet auf mich. Beim ersten Lesen hat sie mir gar nichts gesagt. Aber jetzt - ich bin´s zufrieden. Mögen meine hinführenden Bemerkungen zum Text der Elegien noch viele offene Augen finden!
Herzliche Grüße aus Poxdorf
sendet Dir Johannes Heiner.