Der zweite Brief

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Liebe Freundinnen und Freude der Dichtkunst,

 

   die zweite Elegie wird, davon gehe ich aus, jedem von uns Rätsel aufgeben. Einige werden sich aufklären lassen, andere nicht. Ich glaube, es ist nicht schlecht, wenn die letzten Dinge vom Geheimnis umhüllt bleiben. In einer entzauberten Welt, in der es kaum noch Geheimnisse gibt, die uns in Erstaunen versetzen, lebt es sich nicht besser..

Der Eindruck des Dunklen und Rätselhaften rührt sicher von der Dunkelheit der Rede her, aber auch von der Sprache selbst. Der „normale“ Satzbau erscheint aufgehoben. Viele Wörter werden mit neuen Bedeutungen aufgeladen und in ungewöhnlichen Zusammenhängen gebraucht. Zum dunklen Sinn kommt also, von der Sprache her gesehen, eine weitere Verständnishürde hinzu.

Es sollten diese Sachverhalte Dich aber nicht scheu machen. Es gehört zu jeder vertiefenden Beschäftigung mit Dichtung dazu, dass ich mich auf einen langfristigen Lernprozess einstelle. Umso beglückender dann, wenn „der Groschen“, eines Tages, endlich „fällt“. Das Gespräch unter uns, das eben begonnen hat, wird uns beim Verstehen ebenso helfen, wie unsere Treffen, auf denen wir unsere Erkenntnisse austauschen.

Ich erinnere daran, dass wir uns gewissermaßen auf einer Reise durch die Bereiche des Irdisch-Sichtbaren und des Überirdisch-Unsichtbaren befinden. Dante hat mit seiner „Göttlichen Komödie“ dazu ja das Vorbild geliefert bzw. hat von Homer und Vergil das Motiv der Reise in die Unterwelt übernommen. Rilkes so authentische Suche nach dem Sinn unseres Daseins ist nun nicht als Nachahmung der großen Vorbilder zu verstehen, sondern als ganz eigene und sehr subtile „Reise“ ins Innere des Menschen. Sie macht uns, seine Leserinnen und Bewunderer, zu Pilgern des Unsichtbaren

Doch ist für Rilke die große christliche Einteilung der Welt in Hölle, Fegefeuer und Himmel, wie schon gesagt, verloren gegangen. Rilke setzte neu an – ähnlich wie Nietzsche, Hermann Hesse und viele andere Philosophen und Schriftsteller des beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts. Ihr gemeinsames Bestreben war, den Scherbenhaufen zusammen zu kehren, den das große Morden – ich meine damit den Ersten Weltkrieg – in den Herzen der Menschen hinterlassen hatte. Andererseits bemühten sie sich um Lösungen. Gibt es denn im Dasein der Menschen etwas, für das es sich zu leben lohnen würde? Mit diesen Worten könnte man ihre Fragen umschreiben.

Es sind deshalb keine „rhetorischen“ Fragen, die Rilke in den Elegien stellt. Es sind Fragen, die er sich selbst vorgelegt hat und um deren Antwort er viele Jahre lang gerungen hat. Er versucht, sie möglichst ehrlich zu beantworten. Ich bin mir sicher, dass von ihnen ein Großteil der Faszination ausgeht, die den Elegien zu eigen ist.

Bei der Frage, ob es Rilke gelingt, gültige Antworten auf seine bohrenden Fragen zu geben, werden unsere Meinungen sicher auseinander gehen. Rilke gibt keine „Antworten“ im Sinne einer durchdachten Philosophie oder einer geschlossenen Ideologie. Seine Aussagen bleiben im Offenen und Vieldeutigen. Aber er gibt tiefe Winke in Form einer bilderreichen Sprache, die uns sehr berühren kann. Jeder „Interpret“ der Elegien sollte deshalb auf der Hut davor sein, sich für seine eigene Weltanschauung aus den DEL zu bedienen. Auf eine Bestätigung läuft die Beschäftigung mit den DEL meiner Meinung nach nicht hinaus. Ich würde eher denken, dass sie bei Menschen auf fruchtbaren Boden fallen, die an einer Klärung der Sinnfrage für ihr eigenes Leben interessiert sind. Wer den Durchgang durch die zehn Elegien „übersteht“, geht aus der Auseinandersetzung geläutert hervor.

Rilkes „Winke“ im Sinne einer Andeutung von Antworten auf seine Fragen – ich bleibe bei dem Wort –, erfolgen von der ersten Elegie an immer deutlicher. In der siebten und neunten Elegie münden sie in eine Lobpreisung des Lebens ein. „Hiersein ist herrlich.“ Es gibt in den Elegien eine steigende Tendenz positiver Stellungnahmen des Dichters. Diese Achse des Positiven dient mir, dem Schreiber dieser Briefe, zu meiner eigenen Orientierung. Wäre es in den Elegien bei der Klage geblieben, hätte ich diese Briefe nicht verfasst. Was mich über die weite Strecke des Schreibens dieser Briefe aufrecht erhalten hat, sind die kleinen Fortschritte in den Antworten und Winken.

Lass mich diesen Punkt an einem Beispiel belegen. In der ersten Elegie fällt die Antwort auf die Prüfung der Liebenden kritisch aus. Es heißt dort sehr lapidar: „sie verdecken einander ihr Los“, dem sie doch nicht entrinnen können. Der Dichter räumt hier mit romantischen Illusionen über die Liebe auf. In der zweiten Elegie kommt es wieder zur Desillusionierung. Der Dichter führt aus, dass die Liebenden von ihrem eigenen Gefühl her gesehen Zugang zum „ewigen Leben“ erhalten würden. Aber dies sei nur ihr Gefühl, ihr „Empfinden“, wie er sagt. In Wirklichkeit jedoch reiche die Liebe nicht an das wirkliche Sein heran. Es kommt mir vor, als werde seine Beschäftigung mit dem Thema von Elegie zu Elegie differenzierter und seine „Winke“ positiver.

Die zweite Elegie also erscheint mir von einer gewissen „Progression“ der positiven Aussagen im Gegensatz zu den zweifelnden und verneinenden und kritischen, deutlich gekennzeichnet. Die positive Akzentsetzung tritt am Lobpreis der Engel in der zweiten Strophe deutlich hervor. Und sie fällt mir am Schluss auf, wo der Dichter seiner Hoffnung auf einen „unseren Streifen Fruchtlands“ aufleuchten lässt.

Wir verfügen jetzt schon über einen gewissen „Rahmen“, der uns hilft, den Sinn der zweiten Elegie zu ertasten. Nun geht es mehr darum, die einzelnen „Winke“ des Sängers in der zweiten Elegie aufzunehmen. Vielleicht ist es hilfreich, wenn ich Dir einen Überblick über die Gliederung des Ganzen gebe. Man kann drei Teile unterscheiden. Der erste Teil mit den Strophen eins und zwei ist dem Bereich der Engel gewidmet. Er enthält sowohl die Klage über den Verlust des nahen Umgangs mit ihnen, wie er noch in der Bibel geschildert wird, als auch einen unerhörten Lobpreis auf ihre Existenz, die außer Frage steht. Der zweite Teil umfasst die Strophen drei und vier. Er stellt dem Bereich der Engel die Vergänglichkeit des menschlichen Daseins gegenüber und beklagt die Flüchtigkeit unseres Lebens. Der dritte Teil schließlich klagt über den Verlust an Menschlichkeit, wie die Kunst der Antike sie noch gekannt hatte, hält andererseits aber Ausschau nach einem „unseren Streifen Fruchtlands“.

 

Nach diesem Überblick folgen meine Überlegungen zu den einzelnen Strophen. Doch möchte ich zunächst noch auf die Frage eingehen, wer eigentlich der Sprecher dieser Elegie ist? Von der Beantwortung dieser Frage hängt ab, ob ich von „Rilke“, „vom Dichter“ oder vom „Sänger der Elegie“ schreibe. Und davon wieder, zu welcher Anschauung ich gelange. Du erinnerst Dich vielleicht, dass ich im zweiten Brief zwischen den drei Möglichkeiten hin und her gewechselt bin, ohne mich festzulegen. Nun möchte ich diesen Wechsel in der Begrifflichkeit für Dich durchsichtig machen.

Mit „Rilke“ bezeichne ich den Menschen und seine Biografie. Die DEL sind von Rilke in den Jahren zwischen 1912 bis 1922 geschrieben worden, daran ist kein Zweifel. Die DEL weisen aber als Dichtung weit über die Biografie hinaus. „Der Dichter“ hat Allgemeingültiges geschaffen, an dem wir uns nach 80 Jahren immer noch erfreuen dürfen. Doch ist mir der Begriff „Dichter“ im Zusammenhang der DEL zu eng. Ich verstehe die DEL als einen ganzheitlichen Wurf, in dem das Dichterische eng neben dem Religiösen und Prophetischen leben und bestehen darf. Der Dichter Rilke legt in ihnen Zeugnis seiner spirituellen Suche nach dem Sinn des menschlichen Daseins ab. Dabei schlüpft er in die Rolle eines Sängers wie z.B. Orpheus. Sein „Gesang“ ist bald Klage, bald ist er Rühmung. Ich stelle mir gern vor, dass er sich von einem Musikinstrument wie z.B. einer Flöte, begleiten lässt.

Du siehst, meine Wahl ist es, vom „Sänger“ der Elegie zu sprechen. Es hat dies auch den Vorteil, dass die DEL durch diese Vorstellung konkrete Gestalt annehmen. Wenn ich mir den Sänger vorstelle, achte ich darauf, was sich in seiner Haltung ausdrückt: Seine Stimme, seine Gefühle, seine ernsten Fragen, seine „Winke“, seine Offenlegungen und Verdeckungen,: Alles dies wird mir besser verständlich, wenn ich vom „Sänger der Elegie“ und seinen „Handlungen“, die in der Sprache seiner Rede Gestalt annehmen, schreibe.

 

So, jetzt können wir, gut vorbereitet, in die erste und zweite Strophe – beide widmen sich dem Bereich der Engel – hinein steigen. Schauen wir gleich auf das Ergebnis: Am Ende der ersten Strophe stellt der Sänger die Frage, wer denn die Engel seien. In der zweiten Strophe überstürzt er sich im Lobpreis ihres Wesens.

Der Sänger knüpft nahtlos an die erste Elegie an. Er weiß um die Ambivalenz des Absoluten, seiner zwei Gesichter der Schönheit und des Schreckens. So ist es fast wider besseres Wissen, wenn er in seiner Verzweiflung die Engel in ihrem Bereich des Unsichtbaren anruft. Er ruft sie an, obwohl er große Angst vor ihrem Potential der Zerstörung empfindet.

Er legt also eine mutige Haltung an den Tag. Vielleicht spielt dabei das Bewusstsein der Verantwortung für die Menschheit eine Rolle. Interessanterweise wird diese mutige Haltung des Vordringens bis zum Absoluten – der Sänger macht sich auf dem Umweg über die Sage von Tobias Mut – in der nun folgenden Apotheose der „Engel“ belohnt. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass Rilke selbst, den wir uns hinter dem Sänger stehend denken, derjenige Dichter ist, der den Bereich des Absoluten am gewaltigsten beschrieben hat. Die Worte des Sängers für die Engel sind unerhört und sein Lobpreis scheint kein Ende zu nehmen. Der Bereich der Engel ist damit deutlich unterschieden und in Kontrast gestellt zum Dasein der Menschen. Ausdruck der absoluten Kraft der Engel sind auf der einen Seite die vom Sänger aufgezählten Bilder; auf der anderen Seite ist es der Gedanke, dass ihnen von sich selbst nichts verloren gehe. Alle Kraft der Engel fließt wieder zu ihnen selbst zurück, während sich die Menschen „verflüchtigen“ und das Menschliche von der Erde immer nur zu entschwinden scheint.

 

Soweit eine generelle Beschreibung und Deutung der Strophen eins und zwei. Ich gehe jetzt auf die Einzelheiten ein. Am Beispiel von Tobias (aus dem Buch Tobit im AT) beklagt der Dichter den Verlust des Engels als freundlichen Helfer und Begleiter des Menschen. Ich habe es eben noch einmal nachgelesen. Die Geschichte, wie Tobit, der Vater, seinen Sohn in die Fremde schickt und Tobias, der Sohn, sich als Begleiter einen freundlichen Jüngling, in dem der Erzengel Raphael steckt, aussucht und sich ihm während seiner Reise anvertraut, ist sicher sehr geeignet, die Bedeutung der Engel-Vorstellung im Alten Testament zu erklären. „Der Strahlendsten einer“, damit ist der „Erzengel“ Raphael gemeint. Er verhilft dem Tobias zu seiner Frau, rettet ihn vor dem Angriff des Wasser-Dämonen und heilt das Augenlicht des Vaters bei der Rückkehr. Der „Erzengel“ Raphael wird als Schutzengel und Heiler geschildert.

Dem Sänger der Elegie dient die Anknüpfung an diese Geschichte, seine Klage über den Verlust der beschützenden und heilenden Engel auszudrücken. Die Ordnung der Engel, von der ja schon in der ersten Elegie die Rede war, wird von Rilke weit weg gerückt. Das Erschrecken bei einer Begegnung mit ihnen wird nun verständlich. Im Buch Tobit steht noch der alte Spruch „Fürchtet euch nicht!“ zu lesen, als der Erzengel Raphael seine Identität lüften muss. In den DEL hingegen hören wir: „Fürchtet Euch!“ Der Anblick der Engel ist für den Menschen so gewaltig, dass er daran zerbrechen kann.

Der Lobpreis der Engel in der zweiten Strophe wird von allem genährt, was das Dasein der Menschen transzendiert. Weil sie Gott nahe sind, bezeichnet der Sänger sie als die „Verwöhnten der Schöpfung“. Es bleibt ihnen erspart, das Leid der Menschen zu erfahren. Mit den „Höhenzügen“ und „Graten“ überträgt der Dichter die Vorstellung des Großen auf sie. Mit den „Pollen der blühenden Gottheit“ bringt er die Idee des Fruchtbaren ins Spiel, mit der Bezeichnung „Gelenke des Lichts“ die Idee des Lichthaften. Dann leitet er zum Bereich des Fühlens über. Den größten Platz nimmt die Vorstellung eines „stürmisch entzückten Gefühls“ ein. Wie ich später im sechsten Brief noch ausführen werde, deutet Rilke an dieser Stelle einen Zusammenhang mit der mystischen Erfahrung an. Die „Schilde aus Wonne“ nehmen ebenso Bezug darauf wie auch die Vorstellung, dass die Engel in ihrem Wirken keine Kraft verlieren würden. Sie sind sich selber wie Spiegel – eine Vorstellung, die sich bereits in der „Göttlichen Komödie“ findet (s. dazu den KRG S.71)

Man sollte den Lobpreis der Engel vor allem im Zusammenhang mit der dritten Strophe verstehen. Angesichts einer solchen Herrlichkeit muss sich das Leben des Menschen kläglich ausnehmen, nicht wahr? Es sei denn…, dass „der Weltraum, in den wir uns lösen, nach uns schmecken“ würde! Doch damit eile ich voraus. Wir schauen uns noch die Bilder der Vergänglichkeit an, die Rilke in der dritten Strophe eingesetzt hat. 

 

Die dritte Strophe nimmt die Klage über die Vergänglichkeit des Erdenlebens in Formulierungen auf, die trotz der negativen Aussage bezaubern. Zunächst scheint er an das Wort, dass alles Schall und Rauch sei, anzuknüpfen. Das Leben des Menschen vergeht wie der Windhauch. Dann wechselt er über zum Element Feuer. „Von Holzglut zu Holzglut“ … „die Hitze eines heißen Gerichts“. Auch das Element Wasser kommt in der Formulierung „Tau vom Frühgras“ zur Geltung. Der Sänger der Elegie bedauert das Entschwinden des Menschen. Er führt damit den Gedanken aus der ersten Elegie aus: „Bleiben ist nirgends“. Doch mitten in die Klage hinein wird der Gedanke lebendig, dass etwas von unserem Leben vielleicht von den Sternen gespeichert werde? „Schmeckt denn der Weltraum, in den wir uns lösen, nach uns?“ Der Sänger gelangt zu der Auffassung, dass es unwahrscheinlich sei, dass die Engel das von den Menschen Abströmende bemerkt haben könnten. Als Spiegel ihrer selbst seien sie, wie schon angemerkt, zu sehr mit der „Rückkehr zu sich“ beschäftigt.

 

Es folgt mit der vierten Strophe die erste längere Auseinandersetzung mit den Liebenden. Rilke spricht nicht von „der Liebe“. Wahrscheinlich gäbe es bei dieser Formulierung zu viele Missverständnisse. Rilke ist vorsichtig geworden. Lieber schaut er den Handelnden über die Schulter. Da lässt sich das Gewünschte besser vom Wirklichen unterscheiden. Was zählt, ist nicht die Einbildung, sondern das Sein.

In diesem Sinne leitet der Sänger die Frage nach den Liebenden ein. „Siehe, die Bäume sind …“. Die Frage, wer sie seien, an die Liebenden zu stellen, liegt nahe, weil sie den Anschein wecken, einander zu genügen. „Ihr greift euch. Habt ihr Beweise?“ Er fragt sie nach ihrer Existenzberechtigung. Und unterscheidet zwischen der „Empfindung“, z.B. wenn er seine Hände an einander reibt und dem Sein. „Das giebt mir ein wenig/ Empfindung. Doch wer wagte darum schon zu s e i n?“   

 

„Die Liebenden“ also – der Sänger nähert sich ihrem Bereich gefühlsambivalent „halb mit Schande vielleicht und halb als unsägliche Hoffnung“. stehen für einen Bereich innerhalb des menschlichen Lebens, der dem Absoluten nahe steht. Sie „erleben die Ewigkeit fast von der Umarmung“, wenn sie des Nachts „wunderlich reden“. Ich verstehe „wunderlich“ durchaus im wörtlichen Sinn von: Dem Geist der Wunder entsprungen. Doch es geht dem Sänger, der die Liebenden preist, nicht um Rühmung allein. Seine zweifache Frage ist nüchtern: Habt ihr Beweise, dass euer Handeln wirklich sei?

 

Im zweiten Teil der vierten Strophe über die Liebenden schlägt die zunächst positive Einstellung des Sängers in eine zweifelnde um. Seine Skepsis hat dieselben Wurzeln wie in der ersten Elegie. Sie hängt mit der Gewöhnung zusammen und dass die Liebenden dem Sich-eigennützig-Gebrauchen schwerlich entgehen werden. Rilke hat dies in den letzten drei Versen im Bild des Getränks ausgedrückt. Die Liebenden trinken einander, d.h. sie gebrauchen sich. Ihre Existenz deutet zwar auf den Bereich der Engel, ist es aber nicht selber. Sie bleiben letztendlich wie alles Menschliche gefährdet. Sie sind weder frei noch rein wie das Sein der Engel.

 

Von den zärtlichen Gesten der Liebenden führt uns der Sänger der Elegie mit der fünften Strophe zu den verhaltenden Gesten der alten Griechen und Römer, wie sie auf den Grabdenkmälern überliefert sind . Als letzte stellt er die Frage, ob es denn einen Bereich gäbe, in dem das Menschliche sein dürfe.

Der Sänger hebt an den Zeugnissen der klassischen Kunst die „Vorsicht“ der Gesten, die Leichtigkeit der Bewegungen und ihre gebändigte Kraft hervor. Er nennt sie die „Beherrschten“. Es zeichnet sie das Wissen aus, dass „die Götter“ anders als die Menschen sind. Es zeichnet sie das Wissen aus, dass sie ihre Grenzen kennen.

 

Was sich bis hierher wie eine sachliche Beschreibung liest, erscheint im Lichte der sechsten und letzten Strophe als Klage. Der Sänger beklagt, dass dies heute nicht mehr so sei – ähnlich dem Bezug zur Geschichte von Tobias aus dem Alten Testament am Anfang dieser Elegie. Der Bezug zur Vergangenheit macht klar, was heute nicht ist. Wir Heutige können dieser Kunst nicht mehr nacheifern. Unser Berührtwerden durch sie sollte in die Suche nach einem „unseren Streifen Fruchtlands“ einmünden. In diesem Ausdruck spielt das Niltal eine Rolle. Rilke hat es im Jahr 1911 besichtigt und tiefe Erlebnisse u.a. mit der Sphinx gehabt. Der Fluß selbst ist ebenso wenig ein Raum für das Erwachsen der Zukunft wie die Wüste, in der das Leben absterben muss. Zwischen Fluss und Wüste aber gibt es einen schmalen Streifen Nilerde, aus der das Neue erwachsen kann.

Andererseits sind sich die Bedingungen der menschlichen Existenz an und für sich durch die Jahrhunderte hindurch gleich geblieben. Noch immer ist es „das eigene Herz“, das „uns übersteigt... wie jene“. Dem eigenen Herz „nachzuschauen“, führt den Menschen in die Mitte des Seins, seines eigenen wie das der Dinge. Allerdings kann die moderne Kunst dabei nicht auf die „Bilder“ zurückgreifen, wie sie noch auf den „Stelen“ (Grabsäulen und Grabtafeln)der Alten zu sehen waren. Die moderne Kunst kann nicht mehr „besänftigen“. Sie wird die Menschen aufrütteln müssen.

 

Damit komme ich zum Ende dieses zweiten Briefes. Für den weiteren Fortgang unserer Untersuchung möchte ich gerne als Ergebnis festhalten: Die Liebenden halten Verbindung nach oben und nach unten. “Unten“, das ist der Bereich der Erde. Er ist vergänglich. „Oben“ das ist der Bereich der unvergängliche Bereich des Absoluten. Der Mensch strebt „zu den Engeln“, weil er nicht wie ein Windhauch vergehen, oder sich als Tautropfen auflösen möchte.

© 2011 Johannes Heiner