Der fünfte Brief
Liebe Freundin, lieber Freund der Dichtung,
wie schon im letzten Brief angekündigt, lichtet sich, zaghaft zwar aber stetig, das Dunkel, das die Seele umfangen hält. Es gehört zur Dialektik des Lebens, dass die Scheinhaftigkeit des Lebens immer wieder ins Bewusstsein gerückt wird. Kunst, Kunstfertigkeit und Betrug liegen nahe bei einander. Die große Kunst wird stets auch von der Kunstfertigkeit und vom Betrug bedroht. Wir fragen uns unwillkürlich, was steckt hinter der lächelnden Maske des Clowns? Mit dieser Frage befinden wir uns schon mitten in der fünften Elegie.
Wir wissen, dass Rilke während seiner Jahre in Paris die Schausteller vor dem Jardin du Luxembourg beobachtet hat und sich seitdem mit dem Gedanken trug, diesen Stoff aufzuarbeiten.
Im dritten Buch des „Stundenbuchs“ finden wir die ersten Hinweise Rilkes auf die beobachteten Vorgänge unter den Armen der Stadt. Er hat sich lebhaft und mit großer Einfühlungsgabe in diese Menschen hineinversetzt, die am Rande der Gesellschaft ein schlechtes Leben führten und auf den „Erfolg“ ihrer Anstrengungen angewiesen waren. Er stellte sich die Frage: Warum machen die das? Wozu diese widernatürlichen Verrenkungen vor allem der Kinder? Ergeht es mir als Dichter vielleicht ähnlich? Warum stehe ich hier und mache mir Notizen, wie der Père Rollin den Seinen zum Schauspiel auftrommelt, dass sie auf dem ausgebreiteten Teppich ihre Kunststücke vorführen, der Schwiegersohn, die Mutter, das Kind? „Er ist aufs Trommeln gesetzt. Rührend geduldig steht er da mit dem zu weit gewordenen Athleten-Gesicht, in dem die Züge locker durcheinander hängen...“. Rilke hat seine Eindrücke am 14. Juli 1907 niedergeschrieben. Der Text befindet sich in dem Insel-Taschenbuch „Rainer Maria Rilke über die moderne Malerei“. Er trägt den Titel „Saltimbanques“. Dieser Titel stammt aber nicht von Rilke selbst.
Zufälligerweise hat Picasso dieselbe oder eine ähnliche Truppe von Schaustellern am Luxembourg beobachtet und sie gezeichnet und gemalt. Ich beschreibe das Gemälde von Picasso für diejenigen, die es nicht kennen. Es heißt „La famille des saltimbanques“ und befindet sich heute in der „Art Gallery“ in Washington, USA.
Am rechten Bildrand sitzt die Frau, Mutter von drei Kindern und trägt einen Sommer-Strohhut mit einem „ruban“ (Stoffband) in Rot, Rosa und Orange, das in der Farbgebung auf ihren roten Rock verweist. Sie hat ein hübsches Gesicht. Ihre Hände liegen untätig auf dem Schoß. Neben ihr steht ein Wasserkrug. Sie schaut von der Gruppe weg nach rechts in den Bildrahmen. Hinter ihr stehen zwei Kinder, ein jüngerer Knabe, der eine auffallend blaue Jacke locker um die Schultern trägt, darüber hat er ein Tuch gelegt, das er in kindlicher Manier an einem Zipfel festhält. Er schaut wie gesagt, in dieselbe Blickrichtung wie die Mutter. Obwohl noch sehr jung, schaut er „wie ein Alter“. Auch der ältere Junge, der eine Trommel auf der Schulter trägt und mit einer Badehose bekleidet dasteht, schaut in die Richtung der Frau, die wir für die Mutter halten dürfen. Diese drei Menschen wirken untereinander verbunden. Ihnen gegenüber gestellt befinden sich die beiden Männer mit der kleinen Tochter. Sie bilden eine zweite Gruppe auf der linken Seite des Bildes.
Der ältere Vater im dunkelroten Narrengewand verkörpert die Bildmitte. Er schaut auf den mit Muskeln bepackten jüngeren Mann, der dem Zuschauer den Rücken zukehrt. Dieser jüngere Mann dürfte der Vater der drei Kinder sein. Auch er schaut auf die Frau mit dem Strohhut auf der anderen Seite des Bildes. Er hält die junge Tochter an der Hand, die einen Sommerkorb mit Früchten auf die Erde gestellt und ihre Hand darauf gelegt hat. Der Sommerkorb verweist auf den Strohhut und auf das rote Kleid der Mutter.
Die Bewegungen der Hände und die Stellungen der Füße werden vom Maler sehr deutlich und ausdrucksstark „geschildert“. Die Bewegung des Mädchens vom Korb zum Vater wirkt anmutig. Sie hat ihre Füße wie der Vater breit und fest auf den Boden gestellt. Die Füße der beiden Knaben stehen auch fest und gespreizt auf der Erde. Sie sind den Füßen des Mädchens und des Vaters aber gegenüber gestellt, weil sie die Beine fest geschlossen halten.
Der junge Mann und der Großvater wirkt sehr kräftig gebaut. Die Haltung der Hand des jungen Mannes im Rücken verrät, dass er sein Rückgrat stärken muss. Auf ihm dürfte die Verantwortung für die Familie lasten. Wie schon gesagt, werden diese und andre Zusammenhänge wie z.B. die Stellung der Mutter in der Gruppe, durch subtile Unterschiede ausgedrückt. Beim Betrachter kommen sie als seelische Komponenten der Schilderung an wie Trostlosigkeit, Beziehungslosigkeit, Überforderung, Sehnsucht nach Anerkennung durch die Mutter usw.
Du wirst jetzt fragen, ob es denn nötig ist, sich mit dem Bild von Picasso so ausführlich zu beschäftigen, wenn man die fünfte Elegie von Rilke verstehen möchte? Ich nenne Dir zwei Argumente dafür: Wir finden diese Personen mit leichten Veränderungen in der fünften Elegie wieder. Der „Teppich“, auf dem sich das vom Sänger der Elegie beschworene Treiben der Akrobaten abspielt, kommt nur bei Rilke vor. Auf die Bedeutung dieses Teppichs für die fünfte Elegie komme ich zurück. Das zweite Argument: Das Bild von Picasso war im Besitz von Herta König. Rilke konnte es eingehend studieren, als er im Jahre 1915 bei ihr in München zu Gast war. Wir dürfen vermuten, dass er ihr die fünfte Elegie aus Dankbarkeit für das Anschauen des Picassobildes gewidmet hat (s.Freedmann II S.396).
Mit „saltimbanques“ sind diejenigen Menschen gemeint, die auf die Bänke springen und dort ihre Kunststücke darbieten. Das Lateinische „saltus“, der Sprung, ist im ersten Teil des zusammengesetzten Hauptwort gut zu erkennen. Italienisch und Spanisch „bancos“ hat u.a. die Bedeutung von „Bänke“. Das Springen auf den Bänken, wie auch das Trommeln, sind Signale, welche die Aufmerksamkeit der Zuschauer erheischen.
Bevor ich nun in den Text hineingehe, möchte ich auf eine veränderte Sprechweise unseres Sängers aufmerksam machen. Er spricht in vielen Strophen, gleichsam zerstückelt. Ich zähle 12 Strophen. Sie sind kurz gehalten, beschreiben in der Regel eine der Figuren wie z.B. den Großvater und enden oft in .... Es scheinen lange Pausen zwischen den einzelnen Strophen zu liegen. Es drängt sich der Eindruck auf, als ob der Sänger sich am Rande des Sagbaren bewegen würde...
Du wirst nun fragen: und was sagt der Text der fünften Elegie denn nun über die Fahrenden aus?
Ich denke, dass es um die Frage geht, was sich denn unter der Maske des ewigen Lächelns verbirgt. Ist es der Wunsch nach Anerkennung? Ist es die Vollendung der Kunst? Rilkes Charakterisierung der Akrobaten lässt sich in vier Punkten zusammenfassen:
1. Die Schausteller werden von einem eisernen Willen beherrscht. Sie befinden sich im Griff eines übersteigerten Wollens. Obwohl sie sich wahnsinnig bemühen, erreichen sie das Ziel der Vollendung nur in seltenen Augenblicken. Dann wird aus dem „reinen Zuwenig“ plötzlich ein „leeres Zuviel“.
Wie die Formulierung „leeres“ Zuviel andeutet, hat das Erreichen des Zieles im Können auch einen schalen Beigeschmack, den wir vielleicht mit dem Hinweis formulieren würden, dass diesen ganzen Kunststücken „die Seele“ fehle.
2. Sie befinden sich auf verlorenem Posten außerhalb der Gesellschaft. Obwohl sie als Gruppe zusammenstehen, wirken sie „verloren“. Das kommt schon in dem Gemälde von Picasso zum Ausdruck. Nichts ist da, nur Sand und Erde, kein Ort, der zur Heimat werden könnte. Ein bisschen blauer Himmel winkt von ferne und wirkt in der blauen Jacke des Jungen weiter. Aber der Eindruck des Deprimierenden wirkt stärker als der Streifen Himmel am Horizont. Der Dichter der Elegie nimmt diesen Eindruck auf. Er fragt in der neunten Strophe nach dem Ort dieses Geschehens und verlagert ihn am Ende der Elegie in das Reich der Toten. Mit anderen Worten: Der Ort ist nirgends.
3. Das Lächeln der Artisten wird am Schluss der sechsten, in der siebten und schließlich in der letzten Strophe zum Thema. Es wird zur Schau getragen, um eine Leichtigkeit in der Kunstausübung vorzutäuschen. Der Dichter anerkennt die Bemühung um diese Leichtigkeit, was u.a. darin zum Ausdruck kommt, dass er es „dem Engel“ anvertraut. Doch ist er der Meinung, dass es „noch nicht echt“ sei. Am Schluss der Elegie erleben wir das „wahrhaft lächelnde Paar“ der Liebenden. Der Dichter bemüht sich, dem zur Schau getragenen Lächeln der Artisten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
4. Deine Frage ist berechtigt, warum Rilke diesem Thema eine so zentrale Stellung in den DEL gegeben hat. Wir kommen ja von der dritten und vierten Elegie her, die das Thema der Vergänglichkeit des Menschen in großer Tiefe entfaltet haben. Das von der fünften Elegie geschilderte Leben der Schausteller bildet keine Ausnahme von dieser Regel. Gleich zu Beginn der ersten Strophe nennt der Sänger die Fahrenden, „diese ein wenig/ Flüchtigern noch als wir selbst“. Er stellt also ihr Leben in den Zusammenhang der Vergänglichkeitsthematik der DEL. Es ist ein weiteres Exemplum für das „Bleiben ist nirgends“ aus der ersten Elegie.
So weit also meine Einleitung in die Deutung der fünften Elegie. Schauen wir jetzt auf die Einzelheiten und Feinheiten der Darstellung der Schausteller in den Strophen. Auf die beiden Leitmotive des Teppichs und des Lächeln werde ich am Schluss des Briefes eingehen.
In der ersten Strophe entfaltet der Sänger eine hintergründige Charakterisierung der Schausteller. Es ist, wie wenn er mit einem Zeigestock die akrobatischen Bewegungen der Artisten nachmalen würde. Dieser Eindruck entsteht, weil die Sprache es überdeutlich ausdrückt: der Wille „wringt“ sie, „biegt“ sie, „schlingt“ sie, „wirft“ sie… Ein i des Entsetzens und des Erstaunens zugleich drückt sich in dieser Lautmalerei aus. Die Schausteller zeigen ihr Können, ähnlich dem des Sachsenkönigs August dem Starken, der mit den rollenden Zinntellern seine Kraft beweisen wollte.
Bewegend an der ersten Strophe ist für mich aber etwas anderes. Man muss sich vorstellen, dass die Schausteller einen Teppich ausgerollt haben und ihre Kunststücke darauf ausführen. Von „ihrem ewigen Aufsprung“ ist er schon „dünn“ geworden. Und dann folgt die Apposition: „dieser verlorene Teppich im Weltall“ und die weitere Charakterisierung:
„Aufgelegt wie ein Pflaster, als hätte der Vorstadt-Himmel der Erde dort wehe getan.“
Es kommt hier etwas sehr Zartes, Heilendes zum Ausdruck, das außerhalb des bewussten Willens der Schausteller liegt und trotzdem vorhanden ist und wirkt. Der Eindruck entsteht, dass das Schicksal der Schausteller gedämpft wird.
Mit der zweiten Strophe konnte ich lange Zeit nichts anfangen. Erst vor kurzem habe ich dem Kommentar von Romano Guardini Seite S.170 den Hinweis entnommen, dass die Schaulustigen, die sich um den Teppich in immer neuen Bewegungen versammeln, von oben gesehen wie eine Rose bilden würden. Die Rose „blüht“, wenn die Schaulustigen sich herandrängen. Sie „entblättert“ sich, wenn sie wieder fortgehen.
Mit der dritten und vierten Strophe folgt die an Rilkes Prosatext „Les saltimbanques“ angelehnte Beschreibung des Père Rollin und seines Schwiegersohnes. Die beiden Männer werden in Kontrast gestellt: der hinfällige Alte, dessen eine Hälfte schon abgedankt hat und sozusagen auf dem Friedhof ruht steht im Gegensatz zu dem jungen Mann, der vor Kraft strotzt.
Befremdlich der kurze Einschub, aus dem die fünften Strophe besteht. Es werden die Schausteller als schicksalhafte Gruppe angesprochen. Für den Dichter ist es, als ob sie in einer langen Genesung ein Leid als Spielzeug erhalten hätten. Romano Guardini weist sicher zurecht auf das Spielzeug aus der vierten Elegie hin und auf die zehnte Elegie, in der die junge Klage auftritt. Die Strophe erinnert ihn auch das Gedicht von Adalbert von Chamisso über die Bauern als Riesenspielzeug der Königstochter. Wenn ich mich recht erinnere, ist die Sage, auf welche sich das Gedicht von Chamisso bezieht, im Elsass entstanden und drückt eine neuartige Hochachtung der feudalen Welt (der „Riesen“) vor der Arbeit der Bauern aus.
Die sechste Strophe hat das Wirken des Jungen zum Inhalt. Wir erinnern uns an das Bild von Picasso: es gab dort zwei Jungen, der mit dem blauem Überwurf und der mit der Trommel auf den Schultern. Beide schauen sie sehnsuchtsvoll auf die Mutter, die abgewendet in die gegenteilige Richtung schaut. Nun erleben wir den ersten Höhepunkt in der Darstellung des Treibens der Schausteller. Mit ihren Körpern bilden sie einen Baum, dessen Spitze von dem wahrscheinlich jüngsten der beiden Knaben gebildet wird. Der Sänger spricht den Knaben an: Du, sagt er, der mit dem Aufschlag: damit ist das Immer-wieder-von oben-Herunterspringen gemeint. Der Dichter vergleicht es mit dem Fallen einer unreifen Frucht im Herbst. „Täglich hundertmal“ falle die Frucht vom Baum. Die Arbeit des Knaben ist so intensiv, dass er sein Leben in wenigen Augenblicken zu verbrauchen scheint. Er muss also „seinen Mann stehen“, ist aber noch Kind. Wie auf dem Bild von Picasso schaut er voller Verlangen auf das seine Mutter. Wird sie ihn loben, wenn seine Arbeit gelingt? Er hat keine Zeit, darüber nachzudenken. Denn schon klatscht der Mann, sein Vater, zu neuem Aufsprung. Die Zeit reicht ihm nur, sein Gesicht, das für einen kurzen Augenblick innere Regung verraten hatte, wieder in Ordnung zu bringen, „blindlings“ verfügt er das obligate „Lächeln“.
An dieser Stelle, mit der siebten Strophe, setzt der zweite Höhepunkt der Elegie ein. Der Sänger ruft den Engel an und bittet ihn, das unter Mühen hervorgeholte Lächeln in einer Urne zu bewahren. Sie soll die Aufschrift tragen: Er springt und lächelt. (Romano Guardini übersetzt mit: Das Lächeln des Tänzers S.183).
Mit dieser Wendung wird das Ungeheuerliche des Lächelns bewußt. Es ist fragwürdig, weil es „blindlings“ erfolgt - und es ist göttlich, weil es das Beste dieser Bemühungen vorzeigt. Ich sehe in dem Anruf an den Engel einen weiteren Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit, die der Dichter am Schicksal der Schausteller vornimmt.
Die achte Strophe charakterisiert das Kunstwirken der Mutter. Der Dichter spricht sie an mit „Du Liebliche“. Auch auf dem Bild von Picasso sieht sie hübsch aus. Ihr Wirken hat den Punkt des „Gleichmuts“ erreicht. Der Sänger der Elegie pointiert: vergleichbar einer „Marktfrucht des Gleichmuts“ ist sie. Aber es handelt sich um einen tödliche Gleichmut. Denn die Frau habe „die reizendsten Freuden“ übersprungen, um dahin zu gelangen. Und rührend fügt er hinzu: Vielleicht sind die Fransen deines Rockes glücklich für dich?
Auch hier finden wir wieder einen Bezug zur vierten Elegie. Mit „Gleichmut“ hat der Dichter dort in der dritten Strophe den Zustand des Totseins beschrieben. Gleichmütigkeit gegenüber dem Leiden wie der Freude wäre die Haltung, die die Toten auszeichnet. Die junge Frau scheint sich zu dieser Haltung schon als Lebende durchgekämpft zu haben. Doch ist dies nur die eine Dimension in der Beschreibung der Frau. Eine weitere kommt in der „hingelegten Marktfrucht“ „öffentlich unter den Schultern“ zum Ausdruck. Es ist nicht einfach, die genauen „valeurs“ einer solchen Bezeichnung herauzufinden. Ich kann es nicht für Dich, sondern nur für mich selbst tun. Aber vielleicht hilft es Dir, wenn ich es ehrlich versuche. Die Mutter des Knaben ist sozusagen öffentlicher Besitz. Die Augen der Schaulustigen entkleiden sie und sie leistet dem ja auch Vorschub, indem sie auftritt. Aber von innen her hat sie sich gegen dieses Inbesitzgenommenwerden gewappnet, indem sie die Haltung des Gleichmuts herausgebildet hat. Aber der wiederum hat ihr den Preis abverlangt, dass sie „von den reizendsten Freuden“ „stumm übersprungen“ worden ist. Wie sehen an diesem Beispiel einmal mehr, wie differenziert Rilke beschreibt. Und ich bin nicht sicher, ob ich alle „valeurs“ in dieser Schilderung der Mutter erfasst habe. Da wird von Rilke viel Verdrängtes an den Personen und ihrem Tun wahrgenommen und in einer schonenen Art und Weise zum Ausdruck gebracht. Es ist keine Verachtung aufseiten des Autors zu spüren. Er begnügt sich zu sehen und darzustellen, wie es wirklich und wesenhaft sei. Sein Mitgefühl enthüllt ihm untrüglich das wahre Wesen der angeschauten Person.
Und schon eilt der Sänger, begleitet von der „Modistin“ Madame Lamort (Frau Tod), dem dritten und letzten Höhepunkt der fünften Elegie in der zwölften Strophe entgegen. Wieder wird die Steigerung mit einer Anrufung des Engels durch den Sänger der Elegie eingeleitet. Wieder wird ein Teppich ausgebreitet. Doch dieses Mal ist es nicht der „zerschlissene“ Teppich der Schausteller vom Anfang der Elegie, sondern der „unsägliche“ Teppich, auf dem die Liebenden, endlich, die Bewegungen der Liebe ausführen dürfen.
Wer nun sind diese Liebenden? Sind es die Schausteller, von denen ja bisher die Rede war? Sind es die Liebenden aus der ersten und zweiten Elegie?
Es handelt sich auf jeden Fall um eine Apotheose der Liebe, die vom Sänger der Elegie mithilfe der zweiten Wendung an den Engel vollzogen wird. Eine makabere zwar, denn die Toten schauen ja zu, wie die Liebenden ihre Liebe vollführen. Aber es hat dies seine innere Logik im Potentialis dieser letzten Strophe. Mit anderen Worten: es wäre denkbar, nicht aber ist es Realität. Und der Sänger wünscht den Ausgleich: was auf Erden nicht möglich, soll an diesem Ort außerhalb der Zeit geschehen. Und der Sänger wünscht die Vollendung des Irdischen. Daher die Betonung des „Könnens“ in dieser letzten Strophe, die damit den Anfang der Elegie wieder aufnimmt und zur Erfüllung bringt. Der Dichter gestaltet sie, die Erfüllung, indem er den „zerschlissenen“ Teppich aus der ersten Strophe „gestillt“ sein lässt.
Mein ehemaliger Französich-Professor in Freiburg, Hugo Friedrich, pflegte immer zu sagen: Kunst kommt von Können, das wollen die Deutschen nicht verstehen... Der Sänger der Elegie gibt ihm darin Recht. Der Sänger der Elegie zeigt uns aber noch etwas anderes. Kunst, auch die Kunst des Liebens, lebt von der Hingabe. Die „Leitern“, die „bebend“ an einander lehnen, deuten auf das Wagnis der Liebe hin. Sie stehen über der Leere des Abgrunds. Und auch die „Münzen des Glücks“, von den Toten dem „endlich wahrhaft lächelnden Paar auf gestilltem Teppich“ sozusagen als Beifallsbekundungen hingeworfen: sie enthalten, was die Lebenden einst zurückgehalten haben und was ihnen ein Leben lang verwehrt worden ist: die Erfüllung in der liebenden Hingabe.
Werfen wir einen Blick auf die fünfte Elegie zurück. Ich sagte, dass Rilkes Schausteller (frz.saltimbanques) einen Teppich ausgebreitet haben, auf dem sie ihre Kunststücke vollführen, während sie bei Picasso im Stillstand und auf der nackten Erde posieren. Der Teppich ist sozusagen das künstlerische Mittel, das den Anfang und das Ende dieser Elegie zusammenhält. Eingangs wird er zwei Mal erwähnt, am Ende auch zwei Mal. Aber es ist jeweils ein anderer Teppich und ein anderer Ort. Der Teppich des ersten Strophe ist ein Versuch des Dichters, das Treiben der Schausteller zu erden. Er drückt die kosmische Verlorenheit der Fahrenden aus. Der Teppich der zwölften Strophe hingegen bezeugt die sich vollendende Kunst und Liebe an einem Ort Nirgendwo außerhalb der Zeit, zu dem nur die Toten Zugang haben.
© 2011 Johannes Heiner