Essay: Zum Verstehen moderner Lyrik in Deutschland
Dieser Essay war ein Beitrag von Johannes Heiner zum großen Bücher-Wiki-Preis 2011.
Prämissen
Die „lyrischen Texte“ („Gedichte“) von Autoren wie Else Lasker-Schüler, Paul Celan, Nelly Sachs, Rose Ausländer und Hilde Domin sind in der Regel stark verschlüsselt und deshalb schwer zu verstehen. Man spricht davon, dass sie „hermetisch“ (dunkel) sind. Zwar ist die „Hermetik“ unterschiedlich verteilt. Doch selbst die besser verständlichen Autorinnen wie Rose Ausländer und Hilde Domin geben zunächst Rätsel auf.
Viele dieser Rätsel lassen sich aber aufklären. Es gibt verschiedene Wege, das eigene Verstehen als Leserin und Leser von moderner Lyrik zu erweitern (siehe dazu weiter unten). Der folgende Beitrag versucht, einige „Schlüssel“ zum Verständnis der Modernen Lyrik zu liefern. Er beansprucht nicht, das Phänomen insgesamt zu erfassen. Er beschränkt sich vielmehr auf die wenigen großen Lyrikerinnen und Lyriker, die nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt und berühmt geworden sind.
Die Moderne Lyrik gab es schon vor der Machtergreifung am 1. Januar 1933. Der Name von Else Lasker-Schüler stehe für die Autorinnen und Autoren, die seit der Wende zum 20. Jh. sich bemüht haben, Erfahrungen von Liebe, Leid und Erschütterung möglichst echt („authentisch“) Ausdruck zu verleihen. Doch mit der Herrschaft des Nationalsozialismus wurden die meisten schreibenden Menschen deutscher Sprache verfolgt und ins Exil getrieben. Die Situation der Flucht Verfolgung und des Exils hat die meisten Lyriker und Lyrikerinnen geprägt. Sie schreiben, um zu überleben. Sie halten sich ihre Angst vor Verfolgung, ihre Einsamkeit und auch die Armut vom Leib, indem sie schreiben.
Schreiben im Exil
Die modernen Lyriker haben die deutsche Sprache mit in den fremden Kulturraum genommen, in den sie geflüchtet sind. Indem sie weiter Deutsch schrieben, vergewisserten sie sich ihrer Herkunft und Identität. Da sie dieser Sprache entbehrten, wurde sie ihnen, obwohl es die Sprache ihrer Verfolger war, erst recht teuer. Sie entdeckten sie neu und gaben ihr damit Tiefe. Es setzte ein schöpferischer Prozess im Umgang mit der deutschen Sprache ein. Er wurde durch die Situation der inneren und äußeren Not ausgelöst und gefördert.
Nelly Sachs schrieb ihre erste Lyriksammlung „In den Wohnungen des Todes“ (erschienen 1948 im Aufbau-Verlag) in den Jahren 1942 bis 1943 in Stockholm. In dieser Zeit lebten Rose Ausländer und Paul Celan in einem Versteck des Ghettos von Czernowicz. Dort lernten sie sich kennen und befruchteten sich mit ihren Gesprächen. Rose Ausländer wechselte ihren Stil. Sie schrieb nun keine „Gedichte“ mehr, sondern kurze Texte ohne Reim, die in ihrer Kürze und Prägnanz sich am Rande des Abgrunds und des Schweigens bewegen. Hilde Domin beginnt das Schreiben von lyrischen Texten erst nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die „Stunde Null“ (1945)
Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Europa in Trümmern. Alle Vorgaben der literarischen Tradition und des kulturellen Erbes waren außer Kraft gesetzt. Die Situation nach 1945 war die der in die Krise geratenen Menschheit. Es gab keinen äußeren Halt mehr. In der „Stunde Null“ befand sich der Mensch „hineingeworfen in das Dasein“ (Heidegger). Er schrieb um seines Überlebens willen als Mensch. Dies war die Situation, in der die Texte von Nelly Sachs und von Paul Celan Anklang fanden. Es folgten die Texte von Hilde Domin („Nur eine Rose als Stütze“, erschienen 1956). Rose Ausländer wurde erst in den 1908er | 1980er-Jahren bekannt.
Die schöpferische Seite der Modernen Lyrik
Die moderne Lyrik in diesem Sinne, Lyrik der „Stunde Null“, fördert und fordert einen Prozess der schöpferischen Auseinandersetzung mit den Ausdrucksmitteln der Sprache. Dieser schöpferische Prozess hat sich in verschiedene Richtungen entwickelt. Zum einen besinnt sich die Lyrikerin (es sind zumeist Frauen) auf die Wurzeln der Sprache. Gerade die deutsche Sprache steckt voller Konkreta, in denen die Herkunft aus dem Leben der Bauern und Handwerker mitschwingt. Auch die volkstümlichen Redewendungen geben dies zu verstehen. Martin Buber, aber auch Martin Heidegger haben schon in den 1920er-Jahren dazu angeregt, auf die Wurzelbedeutungen der Wörter zu achten. Die Rückbesinnung auf die „deutschen“ Wurzeln hängt zusammen mit der Abwehr des amerikanischen Lebensstils schon zu Beginn der 1920er-Jahre.
Zum anderen verrätseln sie die Sprache. Man versteht die Texte der modernen Lyrik in der Regel nicht sofort, weil die Autorinnen und Autoren die Sprache verfremdet haben. Sie haben sie fremd gemacht, weil sie selbst sich als „Verlorene im Weltall“ empfunden haben. Gerade in ihrer Fremdheit liegt die schöpferische Kraft der modernen Lyrik. Die Verrätselung kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Zwischen Lesern und Texten muss aber eine gewisse Schnittmenge an Gemeinsamkeit gewährt bleiben, sonst wird die Lyrik dunkel (hermetisch). Es braucht deshalb Zeit und Konzentration, um die Texte der modernen Lyrik zu verstehen.
Erschließungswege
Von möglichen Erschließungswegen im Umgang mit der modernen Lyrik soll in diesem letzten Abschnitt die Rede sein. Als einzelner Leser kommt man nicht weit. Es ist hilfreich, sich mit anderen Leserinnen und Lesern auszutauschen. Das Gespräch ohne Vorbehalt ist sicher der Königsweg. Von großer Bedeutung ist zweitens das Sprechen der Texte. Im lautlichen Nachvollzug der Sprachgebung erschließt sich der Sinn. Es kann hilfreich sein, die Texte zu meditieren. Unsere Köpfe sind zu voll gepackt. Eine gewissen Entleerung kann helfen, vom „Senden“ auf das „Empfangen“ umzuschalten. Auch langsames Gehen in Berührung mit der Natur kann helfen. Der Effekt ist eine Art Wiederkäuen. Das haben schon die Mönche so gehalten. Die „ruminatio“ gehörte in den Klöstern des Mittelalters zu den klassischen Mitteln des Eindringens in die dunklen Stellen des Evangeliums. Als letztes sei das Auswendiglernen der Texte empfohlen. Diese Methode schließt alle anderen Wege der Vertiefung mit ein.
Eine Kostprobe
Mein Atem
In meinen Tiefträumen
weint die Erde
Blut
Sterne
lächeln in meine Augen
Kommen Menschen
mit vielfarbenen Fragen
Geht zu Sokrates
antworte ich
Die Vergangenheit
hat mich gedichtet
ich habe die Zukunft geerbt
Mein Atem heißt
jetzt
Rose Ausländer
(* 1901 in Czernovitz, +1988 in Düsseldorf. Der Text wurde der Sammlung von Helmut Braun im S.Fischer-Verlag, Seite 343, entnommen)
Die Haltung der Autorin zum Leben tritt in diesem Text deutlich hervor. Die ersten drei Zeilen umschreiben die schreckliche Vergangenheit der Judenverfolgung in Rumänien und das Leben im Ghetto von Czernovitz. Die Erde weint Blut, weil sie vom Blut der Erschlagenen getränkt wurde. Das Wort Tiefträume verrät, dass diese Erlebnisse weiter wirken. Die Autorin kann sie nicht vergessen – man darf gespannt sein, was aus einer solchermaßen gepeinigten Erde erwachsen wird.
Rose Ausländer hält sich nicht an den Schrecknissen der Vergangenheit fest. Sie verweist vielmehr, frei nach Kant, auf den Sternenhimmel über uns, und auf sein großmütiges „Lächeln“. Die Spannung zwischen der „blutgetränkten Erde“ und den „unschuldigen Sternen“ ermöglicht neues Leben.
Natürlich erregt die Anwesenheit dieser alten Frau im jüdischen Altersheim von Düsseldorf das Interesse der Menschen, die dort verkehren. Die schon bettlägerige Autorin wird beäugt und angesprochen. Der Ausdruck „vielfarbige Fragen“ verweist auf die nie endende Neugierde der Menschenkinder. Sokrates steht für den griechischen Philosophen, der von sich behauptet hat, dass er nichts wisse. Die Autorin ist sich bewusst, dass sie nichts Wirkliches weiß. Sie fühlt sich außerstande, den „Menschen“, sollten sie erscheinen, einen Rat zu geben.
Der Schlussteil führt das Gespräch fort. Die Autorin „erklärt“, warum sie nicht wisse: "Die Vergangenheit hat mich gedichtet" heißt so viel wie: Sie hat mich hervorgebracht und ich musste sie erleiden. Aber ich weiß eigentlich nicht, wie mir und den Meinen geschah. Die wahren Gründe entziehen sich meinem Wissen. Das „Was“ dieser Vergangenheit ist mir aus eigenem Erleben vertraut, sagt die Autorin, aber das „Warum“ kenne ich nicht. Ähnlich empfindet sie die mögliche Zukunft. Sie wird ohne ihr Zutun zur Gegenwart werden. Sie hält sich an die Jetztzeit, die durch die Züge ihres Atems gegliedert und gestaltet wird.
Im Kontext der Modernen Lyrik ist diese Haltung der Offenheit bemerkenswert. Die schlimmen Erfahrungen der Vergangenheit haben sie hervorgebracht. Die Autorin hat es aber geschafft, sich zu läutern. Die schlimmen Erfahrungen der Vergangheit nehmen damit eine gewisse Leichtigkeit an, die sie verdaubar macht. Was wirklich zählt, ist das Erleben des gegenwärtigen Augenblicks. Die Zukunft wird mit dieser Einstellung der Offenheit zu einem Geschenk des Lebens.
© 2011 Johannes Heiner