Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien
Bericht über zwei Seminare 2011
Das „Pensum“ besteht bekanntlich aus zehn Elegien. Es wurde auf zwei Wochen verteilt. Die erste Woche im Mai hat die Elegien 1 bis 5 behandelt; die zweite Woche im Oktober war den Elegien 6 bis 10 gewidmet. Die Sitzungen fanden vormittags im kleinen Kreis statt (mit fünf bis acht Teilnehmern und gelegentlichen Gästen) und dauerten zweieinhalb Stunden.
In beiden Seminaren wurden dieselben Ziele verfolgt:
1. Jede Elegie wurde einzeln als sprachliches Kunstwerk über das Hören, Lesen und Vorlesen wahrgenommen. Mit „Lesen“ ist das stille Lesen des Textes gemeint; mit „Vorlesen“ ist gemeint, dass die TeilnehmerInnen, die Lust dazu hatten, am Schluss des Vormittags eine Strophe aus der Elegie vorlesen. Über das eigene Lesen erschließt sich die die künstlerische Gestaltung der dichterischen Sprache. Es gehören dazu die „gehobene“ Wortwahl, die Wahl von Wurzelwörtern der deutschen Sprache, die intensive Bildlichkeit und allem voran der frei fließende Rhythmus, eine Eigenheit des „späten“ Rilke.
2. Es wurde Gelegenheiten gegeben, sich von innen her mit dem dichterischen Text zu verbinden.
3. Der Hintergrund wurde vermittelt und der dichterische Text erfuhr eine Deutung durch den Leiter.
Der zeitliche Ablauf entsprach diesen Zielsetzungen. Als erstes wurde die Elegie vorgetragen. Die „Arbeit“ bestand dabei darin, herauszufinden, von welchen Motiven, Bildern und Wörtern sie sich angesprochen fühlten. Dann wurde Gelegenheit gegeben, den Text selbst zu lesen und sich Notizen zu machen, um den Austausch vorzubereiten. Natürlich wurden dann Fragen gestellt und Eindrücke ausgetauscht. Der Leiter hielt sich in dieser Phase noch mit Deutungen zurück. Die TeilnehmerInnen selbst gaben dem Text ihre je eigene Bedeutung. Die einzelnen Elegien sind in Abschnitte unterteilt. Das Deutungsgespräch vollzog sich nach dieser Gliederung, die wir „Strophen“ nennen. Waren die „Strophen“ ausgiebig besprochen worden, wurde die Elegie als Ganzes noch einmal vorgelesen. Die TeilnehmerInnen selbst lasen vor und konnten der Elegie jetzt die Bedeutung geben, die für sie wichtig war.
Dieser Verlauf führte in den Nachmittag hinein. Die Nachmittage und Abende waren frei und wurden von den Gästen genutzt, um „das schöne Frankenland“ kennenzulernen. Dabei war die Aufmerksamkeit durchaus auf das Weiterwirken der Eindrücke vom Vormittag gerichtet. An einem Nachmittag fand eine gemeinsame Wanderung im Wald und auf dem Jakobsweg von Effeltrich nach Neunkirchen statt. Diese „Verdauungsphase“ am Nachmittag hatte für die TeilnehmerInnen den Stellenwert einer „Meditation in Bewegung“.
Für die Deutung der Elegien verweise ich auf mein Buch „Wege ins Dasein“ und auf die „Briefe“ zu den einzelnen Elegien. Die Gespräche wurden mit Ernst geführt und wirkten nach. Sie wurden von mir in dem Sinne angeleitet, dass jeder Mensch seine eigene Welt erschafft, in der er lebt. Das Seminar stellte eine Gelegenheit dar, die eigenen Meinungen, Überzeugungen und Vorstellungen „in die Weite des Seins“ zu stellen.
© Johannes Heiner 2011