1,3 „Ein Gott vermags. Wie aber, sag mir, soll“
Jetzt beginnt ein Zyklus von Gedichten, die der Existenz des Gottes Orpheus zugewandt sind. Als Leserin und Leser der Sonette sind wir eingeladen, am Grab von Wera zu stehen und an der Existenz des Gottes teilzunehmen.
Was Wera nicht vermochte, aufzuwachen und wirklich zu sein, ihre Existenz als „ein Mädchen“ bewusst zu vollziehen, das ist das Markenzeichen des Orpheus. Er ist durch den Schmerz hindurch gegangen, der durch den Verlust von Eurydike verursacht wurde. Orpheus singt „in Wahrheit“, als Erwachter, während Wera sozusagen im Schlaf gesungen hat. Die Gegenüberstellung wird ausgebaut. An die Seite von Wera tritt der liebende Jüngling, der von seinen Gefühlen überzeugt, meint, die wahre Liebe gefunden zu haben. „In Wahrheit“ ist sie nur eine erste Gefühlsaufwallung, die es zu überwinden gilt. Der normale Mensch („Mann“, Vers 2) lebt in der unvollendeten Seinsweise des Zwiespalts. Er ist nicht offen für den Gesang des Orpheus, auch wenn er liebt. Der Gesang des Orpheus besteht aus einer höheren Schwingung. Der normale Mensch muss sich für das kosmischen Tönen als dem Kern des orphischen Gesangs erst noch sensibilisieren.
© Johannes Heiner, November 2012