1,4 „O ihr Zärtlichen, tretet zuweilen“
Der Dichter wendet sich, ähnlich wie in den „Duineser Elegien“, den Liebenden zu und befragt sie nach ihrer Seinsweise. Dabei versucht er, den wahren Kern der Liebe vom illusorischen Schein zu trennen. Seine Botschaft auch hier wieder: Der liebende Mensch muss sich weiter entwickeln. Er muss seine Gefühle ablegen, wenn er in das unpersönliche, kosmische Dasein eintreten will.
Die erste Strophe zeigt diesen Sachverhalt am Beispiel des Atmens auf. Wer atmet, meint „seinen“ Atem zu spüren. Doch der Atem ist allgemeiner Natur; alle Lebewesen atmen. Es ist eine Einbildung, Illusion, wenn sie meinen, es sei „ihr“ Atem.
Die zweite Strophe knüpft an das dritte Sonett an und führt den Gedanken weiter, dass „in Wahrheit singen ein anderer Hauch“ sei. Die Liebenden werden als „Selige“ und „Heile“ angesprochen, die vom Leid gekostet haben und dennoch bei der Liebe geblieben sind. In den „Duineser Elegien“ führt Rilke das Schicksal der Gaspara Stampa an, deren Sonette er gelesen hat. Gaspara Stampa wurde von ihrem Liebhaber verlassen. Ihre Sonette sind Klagelieder. Doch sie hat nicht nachgegeben. Sie hat darauf bestanden, die Liebe auch ohne den Liebhaber zu leben. Sie wäre eine solche „Selige“.
Mit dem ersten Terzett gelangt die Leserin in die Schwere des Erdenlebens. Der Dichter fordert uns auf, die Schwere unseres Daseins, unsere Leiderfahrung, an die Erde zurück zu geben. Ich stelle mir einen „afrikanischen“ Tanz vor, wie die Menschen, singend und aufstampfend, die Schwere ihres Lebens von sich schütteln.
Vielleicht gelingt es dem Menschen auf diese Weise, sich zu befreien, und ihr Dasein als Gesang zu erleben. Mit der letzten Zeile jedenfalls bedeutet uns der Dichter, dass es den größeren Raum des Existierens, des Da-Seins gibt, und er erinnert uns an die Existenz des Pneuma, der Luft, in allen Lebewesen.
© Johannes Heiner, November 2012