1,7 „Rühmen, das ists! Ein zum Rühmen Bestellter“

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Mit dem siebten Sonett findet die Suchbewegung des Dichters nach dem Eigentlichen der Existenz des Gottes Orpheus zu einer ersten Zusammenfassung. Das Wort „Rühmen“ drückt aus, dass auch der vom Leid geplagte Mensch zu einer positiven Haltung gegenüber dem Leben finden kann. Es schließt das Leiden und die Tränen mit ein, übersteigt sie aber in die Stille hinein, wo sie verwandelt werden.

Wie drückte es neulich eine Freundin aus? Statt sich in Kontakten und Kommunikation zu ergehen, begebe sie hinein in die Stille und lege dort alles ab, was sie bedrücke. Dann gehe sie frisch und unbelastet daraus hervor. Sie „schöpfe aus der Stille“, sagte sie.

Wir stellen uns den Dichter Rilke in der winterlichen Einsamkeit seines Turmes in Muzot vor. Auch er „schöpfte aus der Stille“, für sein durch Not, Einsamkeit und die Grauen des Krieges aufgewühltes Gemüt, seine lange Wartezeit auf den dichterischen Durchbruch, der sich nun endlich ereignet und ihm die „Sonette an Orpheus“, die „Duineser Elegien“ und den „Brief eines jungen Arbeiters“ im Februar des Jahres 1922 beschert hat. Auch er empfindet sich „als ein zum Rühmen Bestellter“. Er empfängt mit Entzücken, vielleicht aber auch mit Erschrecken, dass er wieder einmal „dran“ ist, sich „in den Atem“ zu stellen, den „Mund“ weit auf zu machen, und die lange Zeit unterdrückten Schreie endlich zuzulassen. Auch ihn hat „das göttliche Beispiel“ ergriffen. Die Grenzen zwischen dem Dichter Rilke und dem zum Gott erhobenen Orpheus sind fließend. Was in seinen Augen zählt, drücken in sublimer Weise die Verse aus:

„Alles wird Weinberg, alles wird Traube,

in seinem fühlenden Süden gereift.“ (Vers 7 f.)

Die neue Kreativitätschub des Dichters Rilke ist ein Ergebnis seiner Bemühungen um eine offene Haltung, auch gegenüber den Toten. Orpheus Rilke kann deshalb schreiben:

„Er ist einer der bleibenden Boten,

die noch weit in die Türen der Toten

Schalen mit rühmlichen Früchten hält.“

 

© Johannes Heiner, November 2012

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