1,9 „Nur wer die Leier schon hob“
Das neunte Sonett überrascht mit einem veränderten Tonfall. Die Verse bestehen aus kurzen und parallelisierten Sätzen. „Nur wer…“, damit beginnt das erste Quartett und das zweite ebenso. Der grammatischen Form nach schließen diese Sätze andere Auffassungen als die Orphische aus. Doch Rilke würde das nicht ernstlich behaupten. Es ist seine Erfahrung, dass wir Menschen uns mit unserem Schatten schwer tun, und es ist seine Erfahrung, dass es Tote gibt, die nach den Lebenden rufen. Nicht umsonst hat Rilke mehrere Requiems geschrieben, allen voran das Requiem für Paula Modersohn-Becker.
Vom Inhalt her gesehen bringt der Text mehr eine Zusammenfassung bisheriger Gedanken, als eine Weiterführung. Zunächst erfolgt noch einmal der Hinweis auf die Schatten, die hervortreten, wenn ein Mensch sich dazu aufschwingt, die Leier zu erheben. Dann kommt noch einmal der Hinweis auf das offene Ende des Lebens hin zu den Toten. Mit dem „Doppelbereich“ ist gemeint, dass „Leben“ und „Tod“ keine getrennten Bereiche bilden. Wie ich schon sagte: Die orphische Existenz ist zum Tod hin offen und empfängt vom Tod her wichtige Impulse für ein Leben in großer Intensität.
Bleibt das geheimnisvolle Bild von der „Spiegelung im Teich“. Es ist ja ein Fakt, dass die Dinge sich im Wasser spiegeln, aber ungenau, gebrochen. Das Wasser muss ganz ohne Bewegung bleiben, wenn die Spiegelung exakt sein soll. Deshalb geht es nicht immer, dass der Mensch ins Wasser schaut, um sich an das Aussehen der Dinge zu erinnern. Er muss „das Bild“ unabhängig vom der Spiegelung kennen. Genau um dieses orphische Ur-Wissen aber geht es in diesen Sonetten. Es wirkt wie eine Insel im Meer, die Wellen des Lebens brechen sich an ihm.
© Johannes Heiner, November 2012