1,14 „Wir gehen um mit Blume, Weinblatt, Frucht“
Wir gehen um mit Blume, Weinblatt, Frucht, ohne den Anteil zu kennen, den die Toten an ihrer Hervorbringung haben.
Dieser Gedanke wird meisterlich und allmählich über mehrere Stufen hin entfaltet. Die Früchte sind ein Ergebnis des Herbstes. Der Herbst ist eine Art Endstadium des Wachstums im Jahr, das Wachstum ist …Hier endet die Reihe, die das Denken errichtet. Am Ende des Denkens steht eine Atempause. Der Mensch im Herbst gedenkt dann auch der Toten, die an den Hervorbringungen der Erde mitgewirkt haben. „Der Lehm“ ist von ihnen durchdrungen worden. Rilke setzt an dieser Stelle auf das Wortspiel „freies Mark“ und „durchmärken“, und erschafft damit ein neues Wort.
Wie nebenbei gelingt ihm eine Definition der Toten als den „Herrn, die bei den Wurzeln schlafen“ und der Frucht als einem „Zwischending aus stummer Kraft und Küssen“. Wir Leser erinnern uns an das sechste Sonett. Orpheus wird als ein „Kundiger“ der Geheimnisse um Leben und Tod bezeichnet, weil er, wie die Toten, in den „Wurzeln der Weiden“ zu leben versteht.
© Johannes Heiner, November 2012