1,16 „Du, mein Freund, bist einsam“
Rilke, der Tröster, wer kennt ihn noch nicht? Wer andere tröstet, tröstet sich selbst und stiftet Frieden; wer sich selbst tröstet, kann sich aus Traurigkeit und Niedergeschlagenheit erheben und neue Perspektiven für ein sinnvolles Leben finden.
Natürlich spricht der Dichter nicht „mich und dich“, sondern Orpheus an, der „die Toten kennt“, „viele Kräfte kennt“, die den Menschen bedrohen und über eine feine Sensibilität verfügt, die es ihm erlaubt, „auf einen Geruch“ sogar „mit dem Finger“ zu zeigen.
Doch erst die zweite Strophe bringt eine Antwort auf die Frage, wer hier angesprochen wird. Die erste Strophe schließt uns alle ein, die wir nach einem sinnvollen Leben trachten und deshalb auch bereit sind, missliche Gefühlslagen anzunehmen, weil wir wissen, dass es dann wieder „weiter“ geht.
Ein guter Tröster ist, wer die Klage nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit dem Herzen aufnimmt. Das Trösten ist ein Widerhall, der mich besänftigt, weil ich fühle, dass der Tröster ähnliche Erfahrungen der Einsamkeit mitten im Alltag gemacht hat wie ich selbst. Die Gründe für das Gefühl der Einsamkeit sind verschieden. Doch die damit hervorgerufene Stimmung lässt sich verbalisieren, und indem sie „dem Freund“ mitgeteilt wird, verliert sich ihre lastende Schwere.
Es folgt in den beiden Terzetten die Trostspende:
„Sieh, nun heißt es zusammen ertragen
Stückwerk und Teile, als sei es das Ganze.“
Hervorzuheben ist vom sprachlichen Ausdruck her gesehen das „Sieh“. Es fordert zum bewussten Hinschauen auf. Ähnlich dem „Höre, Israel“ aus dem Alten Testament, wendet es sich an „verstockte“ Menschen, die sich von Gott abgewendet haben. Nicht jeder Mensch ist bereit, seine eigene Gefühlslage wahrzunehmen. Das „Sieh“ ist mit Schmerz verbunden und den möchten wir umgehen. Doch jetzt ist das Wahrnehmen auf Orpheus gerichtet, den Unglücklichen. Wer sich unglücklich fühlt, kann aus der Anteilnahme des Gottes die Kraft zum Ausharren in der Gegenwart beziehen.
Es folgt eine Warnung. Wer Anteilnahme erfahren hat, möchte seinen Tröster über sich stellen, vielleicht einen Meister aus ihm machen. Doch ein solches Vorgehen wäre nicht wirklich sinnvoll. „Ich wüchse zu schnell“, sagt Orpheus. Und fügt den Spruch hinzu, in der anderen Welt dahin wirken zu wollen, dass dem leidenden Menschen von den Göttern Trost erteilt werde. Orpheus ist ja nur ein Halbgott. Er verfügt aber über besondere Beziehungen zu Apoll, der ihn mit der Leier als Geschenk unterstützt hat.
Der Schlussvers ist mir dunkel. Ich entnehme dem Kommentar der Kommentierten Ausgabe, dass auf den Hund des Orpheus angespielt werde. Die Umschreibung „Esau in seinem Fell“ spielt auf die Erzählung im Buch Moses an. Jakob heimste den väterlichen Segen ein, der Esau zugestanden wäre. „Esau in seinem Fell“ könnte sich in der Tat auf einen Hund beziehen.
© Johannes Heiner, November 2012