1,21 „Frühling ist wiedergekommen“
Ich habe eine Übersicht über Rilkes Frühlingsgedichte zusammengestellt und mich selbst am Thema versucht. Jeder Mensch hat wohl sein eigenes Frühlingserlebnis. Es mag der Gesang der Lerche sein, der „wilde“ Geruch des Seidelbasts, wie er noch im Schnee steht, der Veilchen-Teppich unter den Büschen. Gemeinsam ist diesen Erlebnissen, dass sie uns aufscheuchen, aufhorchen, aufsehen lassen. Mit dem Frühling beginnt recht eigentlich das neue Jahr.
Rilke hat das Überraschende des Frühlings in die Gedichte hinein gelegt. Der Frühling wird als Person empfunden. Er ist eine poetische Kreation und beglückt uns mit heiter schwingenden Bildern.
Und nun tritt noch einmal der Winter auf. Auch er ein menschliches Wesen, zum Schneemann gemacht. Es ist ein konventionelles Bild, das ist richtig. Der Schneemann wird aber aus der Sicht des Kindes gesehen. Das ist besonders.
Das erste Terzett entfaltet das Bild der Erde als eines frohen Kindes. Wie schön das da steht und wie anmutig. Ein Gedanke an die „Duineser Elegien“ kommt nicht auf. Der Dichter hat sich sehr davon entfernt. Die Erde als Kind „weiß“ es einfach. Sie muss es nicht mitteilen und schon gar nicht in schwierigen Sätzen kompliziert ausdrücken. Sagen wir, dass es dem Dichter Rilke mit seinen „Sonetten an Orpheus“ wie der Erde im Frühjahr geht: Er ist, nach langen Jahren des Suchens, endlich frei und kann nun endlich selbst Kind sein und den Frühling genießen.
Das zweite Terzett beeindruckt mit dem Bild von den Wurzeln. Im Winter zieht sich die Natur unter die Erde zurück und sammelt neue Kraft. Im Frühjahr steigt die Kraft des Wachstums in Stämme und Äste. Sie nehmen einen anderen Farbton an und treiben Blätter und Blüten.
Ein seltenes Mal also preist Rilke nicht den Himmel, oder die Sterne, oder den Engel, sondern die Erde. Er bringt seine Verbundenheit mit der Erde mit großer Liebe zum Ausdruck.
© Johannes Heiner, November 2012