1,26 „Du aber, Göttlicher, du, bis zuletzt noch Ertöner“
Damit schließt Rilke den ersten Teil seines Zyklusses von Sonetten. Er kommt, wie im ersten Sonett, auf die Sage von Orpheus zurück und bezieht sich auf seine Tötung durch die Mänaden. „Mänaden“ wurden die Frauen genannt, die den Zug des Dionysos begleiteten. „Den Mänaden schlossen sich in ihren orgiastischen Riten oft Frauen, die in der jeweiligen Gegend lebten, zum Kummer ihrer Gatten und Väter an. Tanzende Mänaden, in Felle gekleidet und mit thyrsoi in der Hand, wurden in der griechischen Kunst oft dargestellt.“ Reclams Lexikon der Antiken Mythologie, S.324: Orpheus hatte es verschmäht, sich mit ihnen einzulassen. Die Tötung erfolgte der Sage nach mit Steinen. Die ersten Steine prallten am Gesang des Orpheus ab, doch dann trafen sie und brachten ihn um. Die wütenden Frauen zerstückelten den Leichnam und zerstreuten ihn in alle Winde.
Das zweite Sonett greift auf, was, der Sage nach, anschließend geschah. Haupt und Leier des Orpheus blieben unzerstört und wurden später von den Einwohnern der Insel Lesbos geborgen und begraben. Auf dem Grabmal wurde später der erste den orphischen Mysterien geweihte Tempel gebaut.
Und wieder der Sage nach ist der Gesang des Orpheus in die Dinge eingegangen, die ihn gehört und gesehen haben. Das erste Terzett nennt Löwen und Felsen, Bäume und Vögel. Es folgt der entscheidende Satz: „Dort singst du noch jetzt“.
Was eben noch im Detail benannt worden ist, wird im zweiten Terzett verallge-meinert und auf den Begriff „Mund der Natur“ gebracht. Orpheus ist für Rilke der Inbegriff der Natur auf der archaischen Stufe in der Menschheitsentwicklung.
Orpheus hat „unendliche Spuren“ hinterlassen. Es höre, wer hören will, und auf dem Weg nach innen „einen Tempel im Gehör“ (Sonett 1,1) ausgebilden möchte.
© Johannes Heiner, November 2012