B.1 Meditationen zu Texten aus dem "Stundenbuch"

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I,1 Da neigt sich die Stunde...

 

Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann -
und ich fasse den plastischen Tag.

Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
ein jedes Werden stand still.
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.

Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß
und halte es hoch, und ich weiß nicht wem
löst es die Seele los...


Es gehört eine gewisse Übung dazu, um über diesen Eröffnungstext nicht hinwegzulesen. Das Gedicht sollte aber mit besonderer Sorgfalt betrachtet werden, weil es alle Setzungen der folgenden Texte aus dem „Stundenbuch“ bereits im Keim enthält. Die weiteren 66 Texte des ersten Buchs entfalten, was hier angedeutet wird. Man stelle sich den Mönch vor, wie er sich am Abend, wenn es bereits dämmert, in seine Klosterzelle zurückzieht. Die Glocke, die zur Andacht auffordert, bimmelt und der Mönch legt seine Arbeit nieder und faltet seine Hände zum Gebet. Die Glockenschläge „rühren ihn an“ und „seine Sinne zittern“ – vor Aufregung, vor Erschöpfung? Er hat einen arbeitsintensiven Tag des Ikonenmalens hinter sich („plastischer Tag“) und vor sich die Besinnung auf diesen Tag.

Die zweite Strophe führt den Leser und die Leserin in die Überzeugung des jungen Mönchs (und Rilkes) ein, dass der moderne Künstler ein gottähnlicher Schöpfer sei. Wir Heutige neigen dazu, die Formulierungen der zweiten Strophe als „überheblich“ abzutun. Doch damit versäumen wir das Einlassen auf den Schöpfergedanken des „Stundenbuchs“. In seinem Schöpfertum darf sich der Mensch durchaus auf eine Stufe mit dem Schöpfergott der Genesis stellen. „Und Gott sah, dass es gut war“. Genau dieser Augenblick wird hier festgehalten. Der Mönch betrachtet seine Arbeit am Abend. Vielleicht steht eine Staffelei mit einer Ikone vor ihm. Vielleicht hat er gerade einen Text geschrieben (Der Mönch schreibt auch Gedichte, wie wir im Weiteren erfahren). Er wird bald ruhen, so wie Gott nach dem sechsten Tag geruht hat. Bevor er sich aber zur Ruhe begibt, wendet er sich seinem Tun zu.

Auch wir gönnen uns einen Moment der Besinnung. Was haben wir heute mit unserem Geist und mit unseren Händen erschaffen? Sind wir glücklich drüber? Wird es Bestand haben? Für wen oder für was strengen wir uns an? Beim Aufwachen am Morgen spüren wir den ungeborenen Tag in uns lebendig werden. Die Intuition des Neuen führt zu kreativen Impulsen, die unseren Tag bereichern. Wir hören auf sie. Wir sind dankbar für diesen neuen Tag. Dann erfahren wir auch die Gewissheit, unser Leben meistern zu können. Yes I can.

Der künstlerische Mensch braucht also ein gewisses Selbstvertrauen. Der Mensch, der im Vertrauen lebt, wäre ein „bräutlicher“ Mensch. Sein Vertrauen macht ihn offen. Seine Offenheit bewirkt, dass das Leben zu ihm kommt. Auch kleine „Wunder“ sind nicht ausgeschlossen.

Es folgt die dritte Strophe, die einen besonders starken Widerhall erzeugt. Der erste Vers zeigt die Übung der Demut. „Nichts ist mir zu klein“. Auch ein Gänseblümlein kann zum Erlebnis werden. Es muss gar nicht die Mona Lisa sein. Mona Lisa oder Nofretete bringen den Künstler in uns eher in Verlegenheit. Aber ein Gänseblümlein fordert die Fantasie heraus. Das Leben muss jeden Tag neu gesehen werden.

Mit dem Begriff „Goldgrund“ wird die Ikone eingeführt. Nach Auffassung der Ikonenmaler drückt der auf das Holzbrett aufgebrachte Goldgrund die Präsenz des Göttlichen aus. Die Abbilder der Heiligen werden auf den Goldgrund aufgetragen. Die bewegten Gesichter der Menschen stehen im Kontrast zum „unpersönlichen“ Goldgrund. Man stelle sich eine Ikonenwand mit ihrem leuchtenden Gold in der Dunkelheit einer orthodoxen Kirche vor. Der Beter wird in das Geheimnis der Existenz Gottes eingehüllt und er erfährt Geborgenheit im Schutz seiner Kirche.

Die beiden Schlussverse „Ich halte es hoch…“, - gemeint ist das Bild, die Ikone, -verblüffen durch ihre treffsichere Einfachheit. Der Künstler ist in der Tat der Mensch, der seine Schöpfungen „hoch hält“, im Innern wie im Äußeren, damit sie auch aus der Entfernung gesehen werden. „…Löst es die Seele los“ ist eine gute Formel für die Wirkung mystisch inspirierter Kunstwerke, wie es viele Gedichte von Rilke sind.

 

© Johannes Heiner 01/2013

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