Meditation zum Atem-Gedicht

Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

"Atmen, das unsichtbare Gedicht!
Immerfort um das eigne
Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht,
in dem ich mich rhythmisch ereigne."


Warum ein "Gedicht"? Was wäre der Vergleichspunkt zwischen dem Atmen und einem Gedicht? 
Das Atmen funktioniert wie ein Gedicht. Das Einatmen holt den Sauerstoff in die Zellen - in der Sprache des Sonetts: es holt den "Weltraum" in das Innere. Das Ausatmen gibt den verbrauchten Sauerstoff an den "Weltraum" zurück. Es "tauscht den Weltraum um das eigene Sein ein". 
Das Atmen wird deshalb als "Gegengewicht" zum Weltraum bezeichnet. Mit seinen zwei Phasen bildet es den Rhythmus unseres Lebens - und die Brücke zum "Weltraum". 
In der "Ersten Elegie" steht eine Stelle, die an diesen Gedankengang erinnert:

"Weißt du´s noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere
zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel
die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug."


Durch das Atmen erfährt die Luft eine "Erweiterung", denn das Innere des Menschen tritt nach außen und das äußere wird nach innen genommen. In diesem Vorgang muß Rilke sein poetisches Verfahren wieder entdeckt haben. Der Raum wird beseelt, "romantisiert". Ich habe das poetische Verfahren von Novalis, Hesse und Rilke schon an anderer Stelle erläutert und sie von einander abgegrenzt. Nun das zweite Quartett:

"Einzige Welle, deren
allmähliches Meer ich bin;
sparsamstes du von allen möglichen Meeren, -
Raumgewinn."


Der Dichter findet neue Bilder, mit denen er die Verbindung des Atmens zum Weltall unterstreicht. Es ist das Bild von der Welle und vom Meer. Die Welle ist ein Teile des Ganzen. Atmend vollziehe ich den Vollzug des Lebens. Die Welle ist Raum. Ein besonderer Raum, wenn sie durch mich hindurch gegangen ist. 

"Wieviele von diesen Stellen der Räume waren schon
innen in mir. Manche Winde
sind wie mein Sohn.

Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte?
Du, einmal glatte Rinde,
Rundung und Blatt meiner Worte."

Sonette an Orpheus 2,I 


Die beiden Terzette nehmen den Vergleich des Atems mit dem "unsichtbaren Gedicht" der ersten Zeile des Sonetts wieder auf. Die "Worte" am Schluss sind die Verse des Gedichts. Sie werden vom Dichter wie das Aushauchen des Atems in die Welt hinaus geschickt. Das lyrische Ich scheint in den Räumen die ausgeatmen "Stellen" vor seinen Augen wieder zu finden. Er fühlt sich mit der Außenwelt verbunden, weil er seinen Atem zu den Räumen hinzu gefügt hat. Und so kann er diese Räume in gewisser Weise nach sich selbst befragen. Wir finden das Bild des Hinzufügens an herausragender Stelle in der "Zweiten Elegie". Der Sänger der Elegie fragt:

"Schmeckt denn der Weltraum,
in den wir uns lösen, nach uns?"


Der Gedanke, dass die Spuren des gelebten Lebens sich nicht ins Nichts auflösen, sondern an den Gestalten der Engel angeheftet haben könnten, wirkt wie eine Tröstung. Sie wird im nächsten Satz allerdings wieder verworfen: Die Engel "merken es nicht in dem Wirbel ihrer Rückkehr zu sich". Das Gedicht hingegen, das dichterische Wort verewigt die Spuren des Lebens in der Sprache.