Der „weise Mensch" in Hermann Hesses „Siddhartha“ und „Glasperlenspiel“

Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

Vortrag von Dr. Johannes Heiner aus Poxdorf

 

1. Meine Fragestellung

2. Vasudeva

3. Siddhartha

4. Der Altmusikmeister

5. Der Chinese im Bambusgehölz

6. Josef Knecht

7. Die beiden Beichtväter

8. Mein Fazit

 

 

„Der Weise ist nicht gelehrt,

der Gelehrte ist nicht weise.

Der Berufene häuft keinen Besitz auf.

Je mehr er für andere tut,

desto mehr besitzt er.

Je mehr er anderen gibt,

desto mehr hat er.“

(Tao te king, Spruch 81, übers. von Richard Wilhelm)

 

1. Meine Fragestellung

Wer sich mit dem Werk von Hermann Hesse beschäftigt, ihn gerne wieder liest oder sich etwas vornimmt, was er noch nicht kennt, weiß zu würdigen, dass er Menschen gestaltet hat, in denen sich der Autor mit seiner eigenen Sinnsuche wiederfindet. Hesse‘s Dichtung wirkt wie ein Spiegel. Seine Sprache ist allgemein verständlich und wird auch von einfachen Menschen angenommen. Das erklärt, warum seine Schriften eine so großeVerbreitung gefunden haben.

Man wird es mir als dem Deuter nicht verübeln, dass ich mich entscheiden habe, einer bestimmten Frage nachzugehen und sie zur Leitfrage zu machen. Im Zuge einer solchen Untersuchung erfolgen gewisse Vereinseitigungen. Sie sind wohl nicht zu vermeiden. Ergebnisse sind immer mit Vereinseitigungen verbunden. Ich behalte im Bewusstsein, dass andere Ergebnisse aufgrund einer anderen Sichtweise nicht weniger plausibel sind und zu Recht bestehen. Man kann Hesse mehr von der Seite des Lebens der Widersprüche oder mehr von der Seite ihrer Überwindung verstehen. Beide Sichtweisen lassen sich vom Werk her begründen. Wie hat es der Altmusikmeister im „Glasperlenspiel“ unübertroffen klar formuliert? Er sagt zum jungen Josef Knecht: „Du sollst aber nie vergessen, was ich dir so oft gesagt habe: unsere Bestimmung ist, die Gegensätze richtig zu erkennen, erstens nämlich als Gegensätze, dann aber als die Pole einer Einheit.“ (Suhrkamp Verlag 1962 S.105)

Dieser Vortrag widmet sich dem Erkennen der Einheit. Sie wird als „Wahrheit“ und „Weisheit“ umschrieben. Sie bildet den Zielpunkt aller Entwicklung im persönlichen Bereich. Ihr geht das Ringen um Sinnfindung und Selbsterkenntnis voraus. Das Pendeln zwischen den Polen nimmt in Hesses Werk einen sehr viel größeren Raum ein als die bescheiden anmutenden Zustände des Seelenfriedens. Zum Glück gibt es den „Siddhartha“ mit dem weisen Vasudeva und dem erleuchteten Siddhartha. Hesse macht hat damit erstmals klar gemacht, dass es eben auch Wege zur Überwindung des Leidens gibt. Er selbst ist davon fasziniert und er versteht es meisterhaft, diese seine Erkenntnisse poetisch zu gestalten. Er bezieht sich auf das indische Yoga, auf die Reden des Buddha und den Taoteking. Später wird ihm der Zen-Buddhismus immer wichtiger.

Hesse bekennt sich zur „Weisheit des Ostens“ und rühmt sie schon zu Beginn der 1910er Jahre. Ich fasse diese Seite der Sinnsuche, das Streben nach Weisheit, unter dem Begriff des weisen Menschen zusammen. Der suchende Mensch ringt um Weisheit, weil er sie nicht hat. Aber es gibt auch den weisen Menschen, der sie gefunden hat. Besser gesagt: sie ist zu diesen Menschen gekommen und hat sie verändert. Ihnen gilt mein Augenmerk.

Ich hoffe mit diesem Vortrag dazu beizutragen, die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser auf Stellen im Werk von Hermann Hesse zu lenken, die im Schatten der großen Werke stehen geblieben sind. Ich zähle die drei Lebensläufe von Josef Knecht dazu. Ich kann die Erzählung „Der Beichtvater“ nicht genug rühmen. Ich höre sie immer wieder und entdecke auch nach Jahren noch neue Aspekte. Es ist wohl dran, wieder einmal genauer hinzuschauen, was für eine wunderbare Literatur uns Hesse hinterlassen hat. Die Sprache des Erzählers gibt sich schlicht und leicht verständlich. Doch sie ist das Ergebnis eines lebenslangen Ringens um das rechte Wort zur rechten Zeit. Sie verweist auf einen komplexen interkulturellen Hintergrund, den Hesse sich als Autodidakt erarbeitet und in seine Erzählungen integriert hat.

>> nach oben


2. Vasudeva

Hesse greift ja nicht nur Ideen auf und lässt Gedanken aus der Weltliteratur einfließen. Das ist nützlich zu wissen, führt aber noch nicht in die Mitte der Dichtung. Hesse gestaltet Bilder, auch das des Weisen. Es sind die vom Erzähler erschaffenen poetischen Bilder, die es erlauben, Gedanken mit dem ganzen Wesen, auch dem Unbewussten, zu ergreifen. Das macht die Tiefe von Hesses Dichtung und ihre große Wirksamkeit aus.

Für mich ist noch die Frage zu lösen, ob Hesse nicht schon als Kind im Großvater Hermann Gundert eine erste Begegnung mit dem Weisen hatte. Ich erinnere mich an viele jubelnde Stellen aus seinen erzählten Erinnerungen. Er hätte dann als Dichter ja dieses erste Bild aus der Kindheit mit den Gedanken aus Buddha usw. angereichert und ins Werk gesetzt. Ich vermute es sehr, ich kann es jedoch noch nicht wirklich belegen.

Die erste Begegnung findet am Anfang des zweiten Teils statt. Siddhartha kommt an den Fluss und lässt sich von Vasudeva „auf einem Bambusfloß“ über den Fluss setzen. Er kann ihm keinen Lohn dafür geben. Siddhartha ist noch ganz „Samana“ in den abgerissenen und minimalistischen Kleidern eines Asketen. Die Gestalt des Fährmanns Vasudeva bleibt noch undeutlich. Der Leser erfährt nur, dass der Fährmann den Fluss schätzt. Er gibt den Spruch von sich „Ich liebe ihn über alles
“, der Leser kann damit aber noch nicht viel anfangen. Der Fluss wird ja im Verlauf der Erzählung zu einer eigenen handelnden Person erhoben. Er hat den Fährmann bereits in den Stand des „Lebemeisters“ (Meister Eckhart unterscheidet zwischen Lese- und Lebemeister) versetzt und Siddhartha wird ihm darin folgen. Bei dieser ersten Begegnung sind diese zukünftigen Entwicklung schon präsent, aber nur, wenn man das Ganze kennt. Das Kapitel mit der Überschrift „Der Fährmann“ wird mit einer neuen Begegnung Siddharthas mit dem Fluss eingeleitet. Siddhartha kommt zu dem Entschluss, dass er am Fluss bleiben will. „Ihm schien es, es habe der Fluss ihm etwas Besonderes zu sagen, etwas, das er noch nicht wisse, das noch auf ihn warte. (…) Der neue Siddhartha aber fühlte eine tiefe Liebe zu diesem strömenden Wasser…“

Als Leser wartet man auf eine Beschreibung des Fährmanns. Aber nichts dergleichen wird vom Erzähler mitgeteilt. Es bleibt offen, wie Vasudeva aussieht und wie seine Gesten sind. Im Gegensatz dazu erinnert sich der Leser an die Gestaltung des Buddha und an die Anmut seiner Gestik. Der Erzähler belässt es bei diesem blassen Bild. Es setzt nur dann ein wenig Farbe an, wenn das fröhliche, unbeschwerte Wesen von Vadudeva angesprochen wird. Dann heißt es „er lächelte“. Sein Lächeln und seine Fähigkeit des Zuhörens werden vom Erzähler immer wieder herausgestellt.

Vasudeva setzt S. zum zweiten Mal über den Fluss. Dabei „verliebt“ sich S. in ihn. „Ruhig arbeitete er (Vasudeva), den Blick auf der Bootspitze, mit kräftigen Armen. Siddhartha saß und sah ihm zu, und erinnerte sich, wie schon damals, an jenem letzten Tage seiner Samana-Zeit, Liebe zu diesem Manne sich in seinem Herzen geregt hatte.“ Es folgte die Lebensbeichte Siddharthas. Vasudeva lädt ihn ein, auf Dauer zu bleiben und bietet ihm die Schülerschaft an. Siddhartha nimmt an und bleibt mit Vasudeva am Fluss.

Von Vasudeva als dem „Meister“ und von Sidddhartha als dem „Schüler“ zu sprechen, ist nicht ganz richtig, aber auch nicht falsch. Siddhartha. hatte ja dem Buddha, den er sehr bewunderte, die Gefolgschaft mit dem Argument verweigert, er müsse es selbst herausfinden, was das Ziel seiner Suche sei. Und doch entspricht es dem Meister-Schüler-Muster. Siddhartha lernt ja von Vasudeva das Handhaben des Bootes über den Fluss wie der Zen-Schüler von seinem Meister lernt, die Dinge das Alltags achtsam und korrekt auszuführen.. Und auch dies ist nicht ganz richtig, weil beide ja vom Fluss lernen. Vasudeva hat den Fluss zum Meister seines Lebens gemacht. Er verdankt ihm die Verinnerlichung des wahren Wesens. Siddhartha wird es ihm. nach langen Jahren des Meditierens und des Verrichtens der harten Arbeit mit dem Ruder gleich tun. Der Zustand der Vollendung und Erleuchtung greift auf beide Männer über („Der Fluss ist ihnen heilig geworden“).

Was Siddhartha von Vasudeva lernt, entspricht der 2. Phase im Verhältnis Schüler-Meister. Der Schüler wird zum Lehrling und lernt vom Meister die Regeln der Lebenskunst. Er übt sie mit Fleiß und Hingabe. Das gilt in den Kampfkünsten, wie auch für die Meditation und Kunst.

„Siddhartha blieb bei dem Fährmann und lernte, das Boot bedienen, und wenn nichts an der Fähre zu tun war, arbeitete er mit Vasudeva im Reisfelde, sammelte Holz, pflückte die Früchte der Pisangbäume. Er lernte das Ruder zimmern, und lernte das Boot ausbessern, und Körbe flechten, und war fröhlich über alles, was er lernte, und die Tage und Monate liefen schnell hinweg. Mehr aber, als Vasudeva ihn lehren konnte, lehrte ihn der Fluss. Von ihm lernte er unaufhörlich. Vor allem aber lernte er von ihm das Zuhören, das Lauschen mit stillem Herzen, mit wartender, geöffneter Seele, ohne Leidenschaft, ohne Wunsch, ohne Urteil, ohne Meinung.“

Siddhartha gelangte nach langen Jahren des Lauschens in einen Zustand seines Bewusstseins, der weder Vergangenheit, noch Zukunft kennt. Eines Tages offenbarte er sich dem „Meister“ Vasudeva mit der Frage, ob auch er vom Fluss gelernt habe, „dass es keine Zeit gibt“. Der wortkarge Vasudeva zögert nicht, und antwortet ausführlich und bestätigend. Doch der Erzähler Hesse gibt nicht nur die Antwort Vasudevas, sondern schickt voraus: „Vasudevas Gesicht überzog sich mit hellem Lächeln.“ Später heißt es, „Siddharta sprach mit Entzücken, tief hatte diese Erleuchtung ihn beglückt“. Ich würde „Erleuchtung“ hier mit „Erkenntnis“ übersetzen. Das helle Lächeln Vasudevas wird zum Markenzeichen der beiden „erleuchteten“ Fährmänner. „Und von Mal zu Mal wird sein Lächeln dem des Fährmanns ähnlicher, ward beinahe ebenso strahlend, beinahe ebenso von Glück durchglänzt, ebenso aus tausend kleinen Falten leuchtend, ebenso kindlich, ebenso greisenhaft.“

Vielleicht musste die Beschreibung des Fährmann blass bleiben, weil er ja nicht die Hauptperson der Erzählung ist. Auch die Gestaltung Siddharthas bleibt blass, vergleicht man sie mit den Beschreibungen aus „Narziss und Goldmund“. Dafür erfolgt auf der Ebene der Charakterisierung des Wesens eine wiederholte Erwähnung des Lächelns. Es ist das Lächeln des erhabenen Buddhas, das hier durchscheint. Siddhartha wird es von Vasudeva übernehmen und beide finden dahin durch den eigentlichen Meister dieser Erzählung, den Fluss.

>> nach oben

 

3. Siddhartha

Von Vasudeva zu Siddhartha ist es ein Sprung. Siddhartha kommt aus einer gelehrten Brahmanenfamilie. Es ist und bleibt ein Sinnsucher. Er durchläuft die beiden Lebensstufen der Askese und des sinnlichen Genusses, bevor er mit der eigentlichen Suche beginnt. Er wird Schüler des Fährmanns und lernt vom Fluss. Eines Tages spürt er, dass er ausgelernt hat. Doch das Leben stösst ihn in die nächste Bewährung mit seinem widerspenstigen Sohn, von dem er jetzt erst erfährt, dass er ihn mit Kamala gezeugt hat. Es ist eine harte Probe für ihn. Aber er besteht sie und kann für die sterbende Mutter da sein. Siddharthas Vollendung ist das Ergebnis eines langen Ringens, so könnte man den Unterscheid zwischen Vasudeva und Siddhartha zusammenfassen. Seine Weisheit ist nicht weniger überwältigend als die von Vasudeva. Sie war aber schwerer zu erlangen. Sie ist weniger naturnah. Die mit dem Wissen frei werdenden Egokräfte stehen dem Erlernen eines einfachen Lebens entgegen. Siddhartha hat länger als Vasudeva gebraucht. Sein Weg führte ihn direkt am Tod vorbei. Siddhartha pendelte zwischen den Polen hin und her, bis er zur Einheit fand. Die Einheit ist die Mitte der herangereiften Persönlichkeit. Sie darf nicht mit dauerhafter Ruhe verwechselt werden.

>> nach oben

 

4. Der Altmusikmeister

Nun geht es weiter mit dem Altmusikmeister. Ich habe keinen Zweifel daran, dass der Altmusikmeister in einer Reihe mit Vasudeva steht. An die Stelle des Flusses tritt jetzt die Musik. Erst die Ausübung der Kunst macht den Alten zum Meister. Der Weise ist jetzt nicht mehr der einfache Mensch, der harte Arbeit am Rande der Armut und Askese verrichtet. Er ist ein hochgebildeter Musiker, der sein Ego durch die musikalische Meditation auslöscht und überwindet. Doch er ist nicht nur der Meister seines Faches. Er ist in vielen Krisen menschlich geprüft worden und zur Einsicht in die großen Zusammenhänge des Lebens und Sterbens herangereift. Er weiß wie Vasudeva um das Schweigen an der rechten Stelle. Er lauscht hingegeben in die Stille seines inneren Raums. Ich würde sagen, Vasudeva ist wieder präsent, aber auf höherer Stufenleiter und mit sehr viel mehr Verantwortung, weil der Altmusikmeister ja eine wichtige Stelle im Gefüge der Hierarchie Kastaliens bekleidet.


Freund Govinda wird zu guter Letzt auch noch erleuchtet, als er seinen Feund Siddhartha auf die Stirn küsst. Govinda lernt die Liebe kennen, die er im Umgang mit dem Buddha wohl ausgeklammert oder vernachlässigt hatte. Sie verband ihn mit seinem Freund Siddhartha, ohne dass er es realisiert hätte. Sie lag ja außerhalb von seinem Blickwinkel. Als der Strom der Gestaltungen ihn erfasst, gelangt er zum Erwachen. (Erklärung nötig)


Das Erwachen. Es spielt im Reifeprozess von Josef Knecht eine entscheidende Rolle. Der Begriff wird im Text des Glasperlenspiels ausdrücklich und mehrfach erwähnt. Doch der Altmusikmeister ist schon erwacht. Er gibt seine Erkenntnisse in dem langen Gespräch an Josef Knecht weiter, als dieser in die Krise gerät. Kurz darauf erfolgt die Aufnahme Josef Knechts in die Hierarchie.

Ich zitiere nun einen Passus und kommentiere ihn. Er verdeutlicht, wie subtil der Erzähler Hesse die Akzente setzt, um das Wesen des Altmusikmeisters zur Anschauung zu bringen. In meinem alten blauen Band S. 101 Der Passus beginnt mit

"Trinke langsam Josef, lass dir Zeit, und sprich nicht dazu. Ihm gegenüber saß der verehrte Meister "und hielt wieder die Augen geschlossen, sein Gesicht sah recht alt, aber freundlich aus, er war voll Friede, er lächelte in sich hinein, als sei er in seine eigenen Gedanken hinabgestiegen wie ein Ermüdeter in ein Fußbad./ Es strömte Ruhe von ihm aus. Knecht spürte es und wurde selbst beruhigt."

Der Begriff Meditation wird vermieden. Es heißt nur: Er hielt die Augen geschlossen und spürte in sich hinein. Er ist müde, aber er weiß, wie er wieder frisch werden kann, durch das Lächeln nämlich, das schon den Vasudeva für Siddhartha, dem das Lachen vergangen war, anziehend gemacht hatte. Das Lächeln drückt Gelassenheit und Souveränität aus. Der Mensch im Tao. (erklären) Dann kommt der wunderbare Satz, der an die Goldfische beim Chinesen im Bambusgehölz erinnert. Er stieg in seine eigenen Gedanken hinab. Es folgt der Vergleich mit einem Fußbad. Heißt für mich: Wer sich die Zeit nimmt, seine Gedanken loszulassen, sinkt in seine Tiefe und kommt in Berührung mit dem Wasser des Unbewussten, aus dem neue Impulse für das Leben entstehen.

Ich fasse zusammen: Der Fährmann Vasudeva ist in seiner Einfachheit ein gelunges Bild des weisen Menschen. Siddhartha folgt ihm, ist aber komplexer, weil er von Anfang an ein Wissender und Sucher ist. Der Aufwand von Siddhartha, zur Einfachheit zu finden, ist wesentlicher größer als der von Vasudeva. Sehr beeindruckend ist das Erlebnis am Fluss. Siddhartha ist abgebrannt und will sich aus Verwzeiflung in den Fluss gleiten lassen. Da ertönt das heilige Ohm in ihm aus seiner Kindheit und rettet ihn vor dem sicheren Untergang. Die Erfahrung des Todes kommt mir wie die Wende im Leben von Siddhartha vor.

In der Folge von Vasudeva kommt der Altmusikmeister aus dem „Glasperlenspiel“. Die Frage ist für mich, ob Josef Knecht die Nachfolge von Siddhartha antreten wird?

>> nach oben

 

5. Der Chinese im Bambusgehölz

Früher habe ich die Begegnung Josef Knechts mit dem "Älteren Bruder" wie eine geistige Offenbarung gelesen. Als wir vor 12 Jahren das Reihenhaus in Poxdorf erworben haben, habe ich aus Verehrung für den Chinesen ein solches Bambusgehölz angelegt. Die Nachbarn hocken uns ziemlich auf der Pelle und wir haben diesen Sichtschutz angelegt, weil er auch im Winter grünt.
Doch gestern, als ich mich in die ersten 200 Seiten vertieft habe, ist mir klar geworden, dass der Erzähler ziemlich Distanz zum Chinesen hält. Er lässt durchblicken, dass der sog. Chinese ja eigentlich ein Deutscher ist, der "sich zum Chinesen macht". Das hat einen negativen Beigeschmack. Dann wirkt der ritualisierte Ablauf mit Kotau und Orakelspruch ja auch nicht gerade sympathisch, sondern eher befremdlich. Und vor allem die Reflektion der Begegnung und die vergebliche Bemühung Josef Knechts, den Mann einzubinden, machen klar, dass der Chinese nicht wirklich in sich selbst angekommen ist. Er entspricht nicht dem Idealbild des Weisen, wie ich es in Anlehung an Hesse aufgestellt habe. Kein Zweifel besteht, dass der Chinese ein Meister des I Ging ist. So wie der Altmusikmeister ein Meister seines Faches, der musikalischen Komposition, ist. Doch der Altmusikmeister ist auch menschlich gesehen, voller Verständnis und Liebe für seine Zöglinge allgemein und für Josef Knecht im Besonderen. Es fehlt dem Chinesen das Lächeln des Buddha, mit dem kundgetan würde, dass er über sich stehen würde. Der Chinese steht nicht über dem Leben, sondern er hat sich verkrochen und beamt sich mit seinem Chinesisch in eine eigene Welt abseits der Realität. Er mag ein Meister des I Ging sein, aber kein Lebemeister wie der Altmusikmeister.

>> nach oben


6. Josef Knecht

 

Der Altmusikmeister ist mit seiner Entwicklung fertig, fast fertig, als er den Josef wie der Zen-Meister seinen Schüler aufnimmt. Josef ist noch ein junger, unerfahrener, aber begabter Musik- und Lebensschüler. Der Altmusikmeister nimmt ihn unter seine Fittiche und nimmt ihm die Angst davor, ein Adler zu sein. (erklären) Als Josef sich endlich in voller Größe aufrichtet, kann der Altmusikmeister in Ruhe sterben.
Meine These ist nun, dass dieser Prozess des Ringens mit der ureigenen Angst, die sich auch gegen das eigene Ego richtet, das den kraftvollen Menschen niedrig halten will, dass der Leser an diesem Ringen in den großartigen Gesprächen beteiligt wird, die zwischen den Beiden laufen. Es sind zwei Gespräche, die voller Bekenntnisse des Altmusikmeisters an Josef Knecht sind. Sie legen den Keim für das Adlersein von Josef Knecht.
Das erste Gespräch fängt mit dem Satz an: "Herzlich blickte ihn der Alte an." S.105 ff Hier findet sich die zentrale Aussage, dass das Leben aus Gegensätzen besteht, aber dass sie als Pole einer Einheit
zu verstehen seien. Kurz darauf steht dann der wunderbare Satz:
Du sollst nicht nach einer vollkommen Lehre suchen, sondern nach der Vervollkommnung deiner selbst. "Die Gottheit ist in dir,
nicht in den Begriffen und Büchern. Die Wahrheit wird gelebt, nicht doziert." (S. 108 oben)
Damit umschreibt der Erzähler den Kern der Weisheitsauffassung von Hermann Hesse. Im Siddhartha lesen wir ähnliche Sätze, sie sind aber um einiges länger und nicht so zielsicher im Ausdruck.
Das zweite Gespräch findet statt, als Josef in die Krise gekommen ist. Nach Meinung des Altmusikmeister geriet er in die Krise, weil er die regelmäßige Übung der Meditation vernachlässigt habe. Hören wir, wie der Erzähler die Bekenntnisse des Altmusikmeisters kommentiert:
"Es blieb von dieser Erzählung so viel in Josef wirksam, dass er die Gefahr, in der er selber stand, witterte und sich den Übungen mit erneuerter Hingabe unterzog. Einen tiefen Eindruck machte es ihm, dass der Meister ihm zum ersten Mal ein Stückchen aus seinem ganz persönlichen Leben gezeigt hatte, aus seiner Jugend und Studienzeit; zum ersten Mal wurde ihm klar, dass auch ein Halbgott, ein Meister, einmal jung und auf Irrwegen habe sein können." (S.138)

Wenige Seiten später (S.155 ff.) schildert der Erzähler den Durchbruch Josef Knechts zum Geist des Glasperlenspiels. Es handelt sich um das Erlebnis, dass Josef Knecht "plötzlich und mit einem Schlage"
(S.156) die Stimme des Glasperlenspiels vernommen habe. Josef wurde von der "Größe unseres Spiel ergriffen und bis ins Innerste erschüttert". Die Bedeutung dieses Erlebnisses wird dann vom Erzähler auf den beiden folgenden Seiten ausführlich beschrieben und kommentiert. Ich möchte all dieses nicht mit eigenen Worten, die weniger gut formuliert sind, als vom Erzähler, berichten. Ich bewerte diesen Durchbruch durchaus in Analogie zur Erleuchtung Siddharthas am Fluss, als er Vasudeva seine Lebensbeichte erzählt.
Das Ringen Josef Knechts um Wahrheit, Weisheit, Erleuchtung hört mit seiner Initiation in den Geist des Glasperlenspiels nicht auf. Es folgt die Auseinandersetzung mit Pater Jakobus, der ihn an den Rand seines Fassungsvermögens bringt. Ich könnte hier von einem weiteren "Erwachen" Josef Knechts sprechen. Josef versteht, dass Kastalien nicht die einzige Realität auf dieser Welt ist. Er versteht, dass auch Kastalien, das reine Land der „l´art pour l´art“ - Bildung, wie alles Geschichtichtliche eines Tages vergehen wird.

In meinem Vortrag "Das Erwachen Josef Knechts" habe ich die Stufen dieses Erwachens  nachgezeichnet und bewertet. Josef Knecht steht Siddharta in nichts nach, was Weisheit und Erkenntnis betrifft. Auch im „Siddhartha“ hat der Leser ja am Ringen des Brahmanensohnes teilgenommen und die Etappen seines Sieges über sich selbst verfolgen können. Ähnlich im Glasperlenspiel, mit anderen Inhalten und Voraussetzungen. Von der Erzählung „Siddhartha“ her gesehen, schimmert in Vasudeva der Altmusikmeister durch, und im Siddhartha die Figur des Josef Knecht.

>> nach oben

 

7. Die beiden Beichtväter

Ähnlich wie bei Josef Knecht, fällt es mir als Deuter nicht leicht, die beiden Beichtväter eindeutig einzuordnen. Sie stehen ganz und gar nicht wie Weise im Sinne Vasudevas und Siddharthas da. Aber sie gestehen sich ihre Frustration ein und machen sich auf, Hilfe beim entfernten Bruder im Herrn zu suchen. Sie legen beide in unterschiedlicher Weise die Beichte ab. Das Ablegen der Beichte hilft ihnen, wieder ganz und heil zu werden.

Es ist ja ein herausragendes Merkmal des weisen Menschen, dass er in sich ruht. Er braucht die Welt nicht mehr. Er zieht seine Existenzberechtigung aus dem eigenen Dasein von jedem Tag. Er ist ganz und heil geworden. Aber er trägt dies nicht vor sich her und plustert sich nicht damit auf. Er ist bodenständig und macht sich nicht vor, dass er vollkommen wäre.

Als Josephus nach seiner Beichte den Dienst bei Dion Pugil antritt, ist es für ihn wie eine Erlösung aus dem inneren Zwist und eine Befreiung von dem drückenden schlechten Gewissen, das auf ihm gelastet hat. Die Hingabe im Dienst macht ihn frei von seinem Ich. Er findet endlich seinen Seelenfrieden. Pugil kämpft bis zum Schluss. Er ist ja der Faustkämpfer par exellence. Erst als er mit der Schaufel in der Hand sein eigenes Grab gräbt, findet er zum Einklang mit dem Leben, mit Gottt und mit sich selbst.

Hauptpunkt scheint mir das Eingeständnis der eigenen Unvollkommenheit zu sein. Der Mensch reibt sich an seiner Schattenseite und konfrontiert sich mit ihr. Der glückliche Ausgang dieses „Höllenritts durch das eigene Ich“ wird von Hesse als das Erlangen des Seelenfriedens, von Demut und Heiterkeit dargestellt.

>> nach oben

 

8. Mein Fazit

Meine Betrachung von „Siddhartha“ und „Glasperlenspiel“ hat ergeben, dass Hesse das Ringen seiner „Helden“ um Weisheit über weite Strecken in ein Meister-Schüler-Verhältnis eingebettet hat. Das Meister-Schüler-Verhältnis hat eine fachliche Seite. Der Schüler kommt, weil er etwas lernen will, was der Meister beherrscht. Und es hat eine spirituelle Seite, wie sie besonders aus China und Japan bekannt ist. Der Schüler will sich seelisch entwickeln, einen Sinn für sein Leben finden, wissen, wer er im Grund sei. Er geht den Weg zur menschlichen Reife. Die fachliche Seite hat mit Wissen und Geschicklichkeit zu tun. Die spirituelle Seite bezieht sich auf das Ringen um die eigene Mitte. Der Mensch hat ja die Wahl zwischen einem Leben an der Peripherie und einem Leben aus der Mitte. Das von Hesse so glaubwürdig dargestellte Ringen um die Mitte mündet in der Regel in das Erlangen von Weisheit ein. Weisheit ist im Sinne Hesses die Einsicht in die Gegensätzlichkeiten des Lebens und das Streben nach deren Überwindung. Bald als „Erleuchtung“, „Nirwana“, „Tao“, „Erlösung“ bezeichnet, liegt das Erlangen der Weisheit nicht im Bereich des Machbaren. Der weise Mensch entwickelt seine „weiblichen Fähigkeiten“ wie Mitgefühl, Vertrauen, Hingabe. Dankbarkeit. Sie bringen ihn ohne Willensanstrengung an das „andere Ufer“ (Tagore). Solange er die Suche nach Weisheit mit seinem Willen und mit Wissen vorantreibt, bleibt sie intellektuell und damit beschränkt. Gelangen die Helden Hesses über diese Grenze hinaus, wird Weisheit zu einem ganzheitlichen Erlebnis. Es wird von Hesse im „Siddhartha“ als „Erleuchtung“ und im „Glasperlenspiel“ als „Erwachen“ bezeichnet. Sie haben den Charakter von plötzlichen Durchbrüchen und als ganzheitliche Wiedergeburtserlebnisse.

Der weise Mensch in Hesses Werk ist also doppelt qualifiziert, fachlich als Meister und menschlich als Weiser. Der Weise muss aber nicht zum Meister im fachlichen Sinne werden. Vasudeva bleibt der schlichte Geist, der er immer gewesen ist. Siddhartha wird seelische Vollendung in einem langen Prozess des Ringens mit sich selbst erwerben. Er erlangt Weisheit trotz seines Wissens. Josef Knecht wächst über sich hinaus und verlässt das kastalische Übungsfeld. Ob er ein Weiser wie Siddhartha wird, finde ich nicht ganz einfach zu entscheiden. Der Altmusikmeister vereinigt die fachliche mit der menschlichen Qualität.

Goldmund lernt beim Bildhauermeister das Handwerk des Bildhauerns. Die menschliche Qualität der Weisheit wird ihm erst am Ende seines Lebens zuteil.

Der Kern des Meister-Schüler-Verhältnisses ist das Erlernen eines achtsamen und dienenden Tuns. Vasudeva lernt Siddhartha an, nicht nur kraftvoll über den Fluss zu rudern und am Fluss zu meditieren. Seine Autorität ist umfassender. Vasudeva zeigt ihm auch die Dinge des Alltags und wie man sie am besten bewältigt. Die Dinge des Alltags sind das Holzsammeln, die Nahrungssuche im Wald, das Kochen auf offener Flamme, das Sauberhalten der Hütte. Der weise Mensch lässt in seinem dienenden Tun einen freudigen und positiven Geist erkennen. Hesse legt ihm ein schönes Lächeln um die Lippen. Damit tut der Weise seine Offenheit gegenüber dem Leben kund. Er ist und bleibt ein Lernender.

Das Meister-Schüler-Verhältnis hat von Hesse eine schillernde Ausprägung erfahren. Bald mittelalterliches Lernmodell, bald chinesisch-japanisches Muster für die spirituelle Suche, dient es nicht dem Selbstzweck, sondern der menschlich und fachlichen Weiterentwicklung des Individuums. Es ist immer zeitlich befristet. Es endet, sobald der Schüler Einblick in den Geist des Lebens, wie der Meisters es versteht, gewonnen hat. Dann ist der Schüler angekommen. Er darf sich jetzt vor seine Hütte setzen und die Hände in den Schoß legen. Er darf die Muße pflegen, Gedichte schreiben, Flöte spielen. Im Grunde seines Herzens wartet er darauf, dass ein Schüler zu ihm kommt, der sich nach Weisheit sehnt. Gerne würde er sich dieses Menschen annehmen.


Was also ist nun ein weiser Mensch nach Hermann Hesse?

Ich fasse meine Ergebnisse zusammen.

1. Der weise Mensch ist ein guter Zuhörer. Beispiele dafür sind Vasudeva, aber auch der Beichtvater Josephus Famulus. Ein guter Zuhörer nimmt sein Gegenüber ernst und gibt ihm Raum. Er wertschätzt ihn unabhängig von der eigenen Meinung.

2. Er stellt sich seinen Schwächen und arbeitet an ihnen. Die Suche nach dem Sinn des eigenen Lebens erwachsen aus diesem Ringen. Das Hin- und Herpendeln zwischen den Gegensätzen hört auf. Der weise Mensch findet zur Einheit mit sich selbst. Oft erlebt er eine markante Wende in seinem Leben, von Hesse als „Erleuchtung“ und „Erwachen“ beschrieben.

3. Er entwickelt einen inneren Sinn und achtet auf seine innere Stimme. Das macht ihn unabhängig von äußeren Widerständen, die sich ihm entgegen stellen.

4. Er erreicht eine gewisse Losgelöstheit von seiner Person. Man kann sie als Gelassenheit oder inneren Frieden bezeichnen. Aus dem Eingelassensein in sich selbst (Meister Eckhart) erwachsen Heiterkeit und Humor.

5. Der weise Mensch ist ein freier Mensch. Er geht nicht achtlos an einem leidenden Menschen vorbei. Er entwickelt vielmehr Engagement, wo immer er gebraucht wird und ohne viel zu fragen. Das dienende Tun ist ihm selbstverständlich. Er entwickelt im Dienen seine „weiblichen“ Fähigkeiten.

6. Er beherrscht die Kunst, mit wenig auszukommen.

7. Er hängt nicht an seinem Besitz. Wichtiger ist ihm das Teilen mit anderen Menschen.

8. Er hat eine positive und lebendige Einstellung zum Leben gewonnen. Er tauscht sich gerne mit anderen Menschen aus, die wie er auf der Suche sind.

 

>> nach oben

 

© 2017 Johannes Heiner