Erläuterungen zur "Achten Elegie"
Dr. Johannes Heiner, März 2004
Beachten Sie auch die Publikation "Wege ins Dasein. Spirituelle Botschaften der "Duineser Elegien" von Rainer Maria Rilke."
(Die Zahlen bezeichnen die einzelnen Strophen. Die Nummern hinter den Sätzen verweisen auf den Anmerkungsteil.)
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"Rudolf Kassner" - 1873-1939, ein bekannter Kulturphilosoph und Freund Rilkes. Seine Bücher haben auf Rilkes Auffassungen großen Einfluss ausgeübt. Kassner hat z.B. die Meinung vertreten, dass der moderne Künstler ein Mystiker sein solle. Siehe dazu das Kassner-Zitat am Ende dieser Anmerkungen. "das Offene" - Ein zentraler Begriff im Spätwerk Rilkes. Er deutet eine alternative Einstellung zum Leben an: "Kennzeichen des geöffneten Lebens sind: Gefühl der Erfüllung, der Sättigung, Passivität, Verweilen im Augenblick, Verewigung des Augenblicks, Stillstand der Zeit, Gefühl des absoluten Seins" (Alfred Schuler). Rilke hat in den Jahren 1915, 1917 und 1918 mehrere Vorlesungen des Philosophen Alfred Schuler in München gehört und ihn persönlich gesprochen. Mehr darüber im KME, S.677f."wie umgekehrt" - Der Sänger der Elegie liest an den Augen des Menschen den "Sündenfall des Bewusstseins" in der Evolution der Menschheit ab. Sie sind wie verdorben. Damit wird das Hauptthema dieser Elegie angeschlagen. Man könnte es als das "unglückliche Bewusstsein" des Menschen im Zeitalter der Entfremdung bezeichnen. Der Mensch ist nicht in dem, was er tut. Das Thema des Uneinsseins aus der vierten Elegie und des Helden, der mit sich einig ist, aus der sechsten Elegie wird wieder aufgegriffen und vertieft.
"..und ganz um sie gestellt" - Unsere Augen sind wie Fallen um die Kreatur gestellt. "das freie Tier" - Wie das Kind lebt es im Augenblick. Siehe die Löwen am Anfang der vierten Elegie.
"den reinen Raum" - ein Synonym für das "offene Leben.
"niemals Nirgends ohne Nicht" - Das "Nirgends" und das "Nicht" werden als Substantive gesetzt. Gemeint ist, dass der Mensch stets eine Absicht verfolgt. Erst im Loslassen der eigenen Absicht gelangt er ins Hier und Jetzt.
"Tod" - Der Tod ist auch für Alfred Schuler im Lebensvollzug enthalten und darf nicht ausgegrenzt werden. Er schreibt: "Die Geburten kommen von dort, wohin die Toten gehen und das jugendliche Leben - befreit - bringt auch die Toten als Seligkeitsschauer um die Lebendigen. Das ist offenes Leben. Das geschlossene Leben wehrt auch den Toten die Rückkunft, es versiegelt das Jenseits". Zit. im KME a.a.O.
"Der Schöpfung immer zugewendet" - siehe in der vierten Elegie: "Es giebt immer Zuschaun". Hier benutzt Rilke das Höhlengleichnis von Platon, um den Gedanken auszudrücken, dass der Mensch mit seinem "verdorbenen" Bewusstsein der Schöpfung (s. das Tier und das Kind) schadet bzw. sich selbst im Wege steht.
2
"riß es uns herum mit seinem Wandel" - Mit anderen Worten, wenn der Mensch in das naive Bewusstsein des Tieres zurückgehen wollte, würde ein großer Umbruch im Evolutionsprozess erfolgen. "Doch sein Sein ist ihm unendlich, ungefaßt und ohne Blick auf seinen Zustand". Man beachte, wie wunderbar es Rilke gelingt, die Bewusstseinsqualitäten des Tieres zu umschreiben. "Unendlich" meint ohne Grenzen. (Der Mensch hingegen ist damit beschäftigt, Grenzen zu errichten.) "Ungefasst" meint ohne den Willen zu absichtsvollem Tun (Die Artisten verkörpern den extremen Zustand angestrengter Arbeit mit dem Willen). "Ohne Blick auf seinen Zustand" heißt, dass das Tier kein Metabewusstsein besitzt, von dem aus es seine Handlungen korrigieren könnte."Und wo wir Zukunft sehn, dort sieht es Alles" - Das Tier ist instinktsicher. Der Mensch hat diese Sicherheit durch das Denken (Cogito, ergo sum) verloren. Das Bewusstsein des Tieres besteht in der Gegenwärtigkeit seines Tuns. Es kennt kein Zeitbewusstsein.
3
"einer großen Schwermut" - Mit diesem Absatz scheint der Dichter seinen zuvor aufgestellten Behauptungen über das "reine" Bewusstsein des Tieres zu widersprechen. Jetzt kennt das Tier plötzlich das Gefühl der "Schwermut" und die "Erinnerung" an einen glücklicheren Zustand. Man kann aber auch anders argumentieren. Man könnte sagen, dass der Blick des Dichters nun noch mehr die Tiefe schaut und dort Dinge entdeckt, die dem Tier nicht bewusst, die aber trotzdem vorhanden sind. Auf den ersten Blick verkörpert das Tier das Bewusstsein der Gegenwärtigkeit. Auf den zweiten Blick teilt es das Los der Evolution in der Schöpfung.
"Hier ist alles Abstand und dort wars Atem" - Das bewusste Atmen verlangsamt den Lebensrhythmus. Die Dinge werden bewusster wahrgenommen. Im Atmen kann der paradiesische Urzustand neu erfahren werden. "Abstand" meint die Distanzierung, die durch das Denken eingetreten ist. Die mystische Erfahrung des Atmens kann in einen Bereich hineinführen, wo Alles (noch oder wieder) in Ordnung ist. Erinnert sei an Rilkes Erfahrung im Garten von Schloss Duino. Er schreibt u.a.: "Damals schloß er die AugenÖund es ging das Unendliche von allen Seiten so vertraulich zu ihm über, daß er glauben durfte, das leichte Aufruhn der inzwischen eingetretenen Sterne in seiner Brust zu fühlen". "Nach der ersten Heimat ist ihm die zweite zwitterig und windig."- Der Satz bezieht sich auf das Tier als Subjekt. Er schließt aber auch den Menschen und sein Evolutionsschicksal mit ein. Der Mensch befindet sich auf der Suche nach seiner "dritten Heimat", so könnte man es ausdrücken. Das Bewusstsein des Tieres widerspiegelt für den Dichter der achten Elegie sowohl die erste, vergangene, als auch die dritte und zukünftige Heimat.
"O Seligkeit der kleinen Kreatur" - Der Sänger setzt seinen Gang durch das Reich der Natur fort und wendet sich den immer kleineren Tieren zu. In die Darstellung des Bewusstseinszustandes der Tiere mischt sich die Bewunderung des Dichters für sie.
"Schooß ist alles" - Rilke findet hier eine prägnante Formulierung für die rückwärts gewandte Sehnsucht des Menschen nach ganzheitlicher und Sinn machender Erfahrung. Die Philosophie A. Schulers hat diese Momente des nicht-entfremdeten Bewusstseins heraus gearbeitet. Rilke hat sie vor dem Hintergrund seiner Stille-Erfahrung im Garten von Duino in einer mystischen Richtung ergänzt. Mit "Mystik" meine ich hier die Erfahrung der Zeitlosigkeit jenseits des Denkens.
"eine Seele der Etrusker" - Die Etrusker haben im Vogelflug die Verwandtschaft mit der Seele des Menschen erkannt.
"durchs Porzellan des Abends" - Die Fledermaus schwirrt in irrem Flug durch die Abenddämmerung. Der Vergleich mit einem "Riss" liegt nahe.
"und nie hinaus" - Zurück in den paradiesischen Urzustand oder mystisch in den Bereich der Zeitlosigkeit. Rilke hat eine seiner Erfahrungen selbst beschrieben (siehe den Text "Erlebnis I"). Er verwendet dort schon den Begriff des "Offenen". Man sollte die mystische Dimension des "offenen Lebens" (Wahrnehmung der Einheit ohne das Denken) und die mythisch-historische (paradiesischer Urzustand, goldenes Zeitalter usw.) auseinander halten. Beide "Dimensionen" entspringen der Suche des Menschen nach einer neuen Heimat.
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"umgedreht" - Am Anfang der 1. Strophe hieß es: "unsere Augen sind wie umgekehrt" und "das frühe Kind wenden wir um" Der Schluss beklagt, dass der Mensch zu sehr mit "Abschied" beschäftigt sei und dadurch die Chance verpasst, wirklich da zu sein. Nicht nur die Tiere sind umgewendet und die Kinder umgedreht (s. dazu ausführlicher am Ende der vierten Elegie); auch die Menschen leiden unter der Entfremdung von sich selbst.