Erläuterungen zur "Zehnten Elegie"

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Dr. Johannes Heiner, März 2004

 

Beachten Sie auch die Publikation "Wege ins Dasein. Spirituelle Botschaften der "Duineser Elegien" von Rainer Maria Rilke."

 

(Die Zahlen bezeichnen die einzelnen Strophen. Die Nummern hinter den Sätzen verweisen auf den Anmerkungsteil.)

 

1

Die 1. Strophe wurde bereits 1911 geschrieben. Sie führt das Thema des Leids ein: Rilke kritisiert, dass uns Menschen die rechte Einstellung zum Leiden fehle. Wir wollten es ja nur loswerden. Damit aber vergäben wir uns die Chance, durch die Erfahrung zu wachsen. Das "winterwährige Laub" und das "dunkele Sinngrün" deuten die positive Möglichkeit eines annehmenden Umganges mit dem Leid an. 

2

"wehe" - Ausruf der Warnung schon in den Büchern des Alten Testaments. "Siehe", "höre", "wehe" sind die geläufigsten. 
"fremd" sind die Städte, d.h. sie erzeugen Fremdheit, nicht Vertrautheit, wie von einem Ort des Wohnens eigentlich zu erwarten wäre. Im "dritten Buch von der Armut und dem Tode" aus dem Stundenbuch hatte Rilke bereits eine ähnlich prägnante Kritik am Leben in der Stadt vorgetragen. So hieß es damals z.B., dass die Menschen dort nicht wirklich seiend wären; sie würden vom Geld beherrscht; ihre Armut bestehe aus "Nicht-Reichtum" und müsse viel mehr als Chance zu innerem Reichtum gelebt werdenÖ Diese frühere Kritik geht in die Feststellungen vom oberflächlichen Leben in der Stadt ein. Rilkes Formulierungen sind drastisch und wirken prophetisch. "Kirche" - Die Kirche als einen Raum der Besinnung scheint es in der "Leid-Stadt" nur noch als Erinnerung an frühere Zeiten zu geben. "Fertig gekauft" meint die fraglose Übernahme des Glaubens durch die Kinder und Kindeskinder. 
"enttäuscht wie ein Postamt am Sonntag" - nicht das Postamt, sondern die Besucher der Kirche sind enttäuscht. 
"des behübschten Glücks figürliche Schießstatt" - man sieht das Treiben an den Schießbuden mit den fröhlichen Menschen, die sich hübsch gemacht haben. 
"wie das Geld sich anatomisch vermehrt"-
"der Geschlechtsteil des Geldes" - beide Fomulierungen gehören zusammen, die zweite verstärkt die erstere. Das Geld hat den "Trieb", sich zu vermehren. Es "macht fruchtbar", wie es anschließend heißt. 
"todlos" - eine Bierreklame, verspricht den Städtern eine Leben ohne Tod. Durch den Gegensatz zu dem Bereich, der hinter dem Plakat beginnt, wird dieser Wunsch des seinwollenden Zerstreuungsparadieses Stadt als Illusion entlarvt. 
"der Jüngling" - Er betritt zwar den Bereich des alternativen und im Sinne des Dichters wirklichen Lebens, verliebt sich sogar in das Mädchen, das ihn führen könnte. Doch dann kehrt er resignierend um. Er ist vielleicht noch nicht reif genug, um zu erkenn, dass es Sinn machen würde, eine Beziehung zu der als "Klage" bezeichneten Person aufzunehmen. 

3

"Nur die jungen Toten" - In dieser Strophe wird der Übergang vom Land der Lebendigen zu dem der Toten vollzogen. Das "Urland des Leids" wird ähnlich dem "gestillten Teppich" aus der fünften Elegie mithilfe der "Toten" in einem virtuellen Land angesiedelt, das es nur der Möglichkeit nach gibt. 

4

"Einst waren wir reich" - Die Beschreibung des Urlandes der Klage erinnert an Novalis, der ja Bergbau-Ingenieur war, und an sein Romanfragment "Heinrich von Ofterdingen". 

5

"die hohen Tränenbäume" -
"Felder blühender Wehmut" -
"die Tiere der Trauer" - die Stichwörter "Tränen", "Wehmut", "Trauer" werden zu Bildern ausgebaut, in denen das Konkrete der Natur mit dem Abstrakten des Schmerzes verbunden. Sie deuten eine Kultur des Schmerzes an, von der wir noch weit entfernt sind. 
"das über Alles wachende Grabmal" - gemeint ist die Sphinx. Rilke hat ihn im Jahre 1911 besucht und seine Eindrücke in Briefen ausführlich dargestellt. Die Sphinx in Geseh und der des Totenlandes bei Rilke sind allerdings nicht gleichzusetzen. In seiner Dichtung wird die Sphinx zu einem Symbol für das "Sternen-Maß", das die Menschen der damaligen Zeit auf die Erde herab geholt haben. 

6

"Nicht erfasst es sein Blick" - gemeint ist der "junge Tote", der von der "Klage" durch das Totenland geführt wird. Das Leben der jungen Toten bzw. Helden ist zu kurz, als dass sie die kosmische Dimension des irdischen Lebens erfassen könnten. 
"der Pschent-Rand" - die Sphinx trägt ein königliches Kopftuch wie die Pharaonen zum Zeichen der Doppelherrschaft über Ober- und Unterägypten. Die aufgescheuchte Eule geht auf ein Erlebnis Rilkes zurück, als er die Sphinx besichtigt hat. 
"das neue Totengehör" - Dem Dichter der Elegien ist es schon zu eigen. Siehe aus der "ersten Elegie": "Aber das Wehende höre, die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet." 
"ein doppelt aufgeschlagenes Blatt" - Die Eule zieht in langgestrecktem Flug über die Erde hinweg.

7

"die Sterne des Leidlands" - Die Eule hat den Blick des Betrachters zum Firmament gehoben. Diese steigende Bewegung findet in der Nennung der Sternbilder des Leidlands seinen Höhe- und Endpunkt. "der Reiter" - ein Symbol für die Verbindung des Kreatürlichen mit dem Geistigen in den "Sonetten an Orpheus" I,11. Ähnlich dem Bild des Kentauren bei Ken Wilber, Wege zum Selbst, S.108. Der Kentaur steht für den Gesamtorganismus von Leib und Seele. 
"die Kätzchen der leeren Hasel" - Gleichnis für den Beginn neuen Lebens im Frühjahr. Die Haselsträucher blühen als erste. "wenn ein Glückliches fällt" - Anspielung auf eine neue Einstellung dem Leid gegenüber; das Fallen ist der Weg in die Tiefe, an deren Grund die "Quelle der Freude" sprudelt. Ist die Tiefe des Leids erreicht, kann die aufsteigende Bewegung des "Glücks" von neuem beginnen. Insofern beginn das Glück bereits mit dem "Fallen".