Gedichtbetrachtung

Blumenmuskel, der der Anemone

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Zuletzt aktualisiert am Dienstag, den 19. April 2011 um 00:23 Uhr Geschrieben von: Administrator Dienstag, den 19. April 2011 um 00:13 Uhr

Rilkes Sonett besteht aus einem ersten Teil der Beschreibung des sichtbaren „Dings“ und aus einem zweiten, unsichtbaren Teil der Übertragung auf das Leben der Menschen. In diesem zweiten Teil wird die Anemone zum Sinnbild eines „offenen Lebens“.

Der Schwerpunkt in der Beschreibung liegt zunächst auf dem „Blumenmuskel“. Er verbindet die Blume mit der Erde. Er bringt die Kraft der Erde zur zarten Blume hin und ermöglicht es, dass „Sterne“ den Erdboden zu bedecken scheinen. Wie die letzten beide Verse des 1. Quartetts (der ersten Strophe) verdeutlichen, wird er zum Träger des „polyphonen Lichts“, das der „laute Himmel“ in die Blumenblüte ergießt. Die Klangbeimischung verstärkt den überwältigenden Eindruck der Blume auf den Dichter. Der „laute Himmel“ des ersten und der „stille Blütenstern“ des zweiten Quartetts stehen im Gegensatz zueinander. Die Blume, wie sie vor uns steht, ist zwar ein Produkt der Erdkraft, doch noch zarter, als der Himmel es ist. „Erde“ und „Himmel“ werden in ihr zu einer wunderbaren Balance gebracht.

Das zweite Quartett (die zweite Strophe) pointiert im Bild des „unendlichen Empfangs“ die poetische Idee dieses Gedichts und führt sie zugleich in einen Wendepunkt hinein. Die Wendung wird mit der Formulierung „Ruhewink des Untergangs“ des ersten Terzetts angedeutet. Es kommt die Nacht und mit ihr der Tod der Blume. Der Dichter hatte beobachtet, wie manche Blume am Abend nicht mehr die Kraft findet, ihren Kelch zu schließen. Er hat in mehreren Briefen sein Bedauern ausgedrückt. Dieses Erlebnis ist in das Sonett eingegangen (siehe KA II, S. 748 f. Dort werden die Briefe zitiert.)

Das zweite Terzett überträgt die Einsichten des Dichters Rilke auf seine Auffassung vom Leben. Er beginnt mit einem Gegensatz des Bedauerns. Im Vergleich zur dieser Blume kommt ihm das Wirken der Menschen „gewaltsam“ vor. Er macht diesen Eindruck zur Hauptbestimmung, schließt sich aber interessanterweise mit ein: „Wir, Gewaltsamen“. Der Dichter vergleicht die Blume mit dem Leben der Menschen. Er fragt sich, wann das Leben jemals eine solche Offenheit erlangen werde, wie sie von der blühenden Anemone ausgehe.

Das „offene Leben“ der Blumen wird ihm zu einem Bild der Sehnsucht. Er hat es mit anderen Worten in der siebenten Elegie zum Thema der Tiere und der Kinder beschworen. Mit seinem aktiven Leben drängt der Mensch die zarten Wesen immer wieder an den Rand der Existenz. Dabei hätten sie uns doch so viel zu geben, würden wir achtsamer mit ihnen umgehen! 

 

Johannes Heiner, Frühjahr 2011

 

 

Frühling ist wiedergekommen.

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Deutung

Ich komme gerade von der zusammenstellung einer übersicht über frühlingsgedichte und habe mich selber an dem thema versucht. Jeder mensch hat sein eigenes frühlings-erlebnis. Es mag der gesang der lerche sein, der geruch des seidelbastes, wie er noch im schnee steht, der veilchen-teppich vor dem haus oder anderes. Gemeinsam ist diesen erlebnissen, dass sie uns aufscheuchen, aufhorchen, aufsehen lassen. Mit dem frühling beginnt recht eigentlich erst das neue wachstums-jahr. 

Rilke hat das überraschende und poetische des frühlings in die gedichte hinein gelegt, die von der erde als dem kind "gewusst" werden. Kinder, die gedichte aufsagen, ist in der tat jene anmut eigen, die Rilke der Erde bei ihrem erwachen im frühjahr andichtet. Natürlich können kinder ein gedicht auch herunter leiern. Aber eigentlich passiert dies nur, wenn die erwachsenen sie dazu zwingen. 

Und nun der winter. So wie der frühling von Rilke zu einem menschlichen wesen gemacht wird und die neugeborene erde zu einem kind, so auch der winter zum schneemann. Es ist ein konventionelles bild, das ist richtig. Der schneemann wird aber aus der sicht des kindes gesehen. Das ist das besondere. 

Das erste terzett entfaltet das bild der erde als eines frohen kindes. Wie schön das da steht und wie anmutig. Ein gedanke an die "duineser elegien" kommt nicht auf. Der dichter hat sich schon einigermaßen davon entfernt. Die erde als kind "weiß" es einfach. Sie muss es nicht mitteilen und schon gar nicht in schwierigen sätzen kompliziert-komplex ausdrücken. Sagen wir, dass es dem dichter Rilke mit seinen "Sonetten an Orpheus" wie der erde im frühjahr geht: er hat frei und kann nun endlich "mit den kindern spielen". Er ist "fröhlich" gestimmt - das ist eine rarität im blumengarten der poesie von Rilke. 

Das zweite terzett beeindruckt mit dem bild von der in den wurzeln und im stamm sozusagen aufbewahrten weisheit. Da liegt die kraft verborgen. Sie ist aber auch bereit zu neuem aufschwung. 

Johannes Heiner am 2. April 2004

"Frühling ist wiedergekommen - die Erde..."


Ein seltenes Mal wird von Rilke nicht der Himmel oder die Sterne, oder der Engel, sondern die Erde in ihrer fruchtbaren Positivität zum Thema gemacht. Es lohnt sich, einen Blick auf Rilkes Erde zu werfen. Es ist überraschend, mit wieviel Liebe der Dichter seine Erdverbundenheit zu Ausdruck bringt. 

Da ist zunächst die Freude darüber, dass der Frühling den Kampf mit dem Winter gewonnen hat. Die Freude ist so groß, dass der Dichter den Frühling als Person auftreten lässt. Wie ist diese Person beschaffen, so fragt sich die LeserIn? Wir erfahren es gleich in der nächsten Zeile. Voller Wunder ist sie für das Auge des Menschen. Hervorgebracht werden diese Wunder von der mütterlichen Erde. Sie wird wegen ihrer Wunderbarkeit mit einem Kind verglichen, das Gedichte auswendig kann und den Erwachsenen damit eine Freude bereitet. Die "Beschwerde langen Lernens" spielt auf den Winter an, der im Vorfrühlung durchaus noch anwesend ist. Es wird damit auch die zweite Strophe vorbereitet. Der Winter tritt jetzt als strenger Lehrer und alter Mann auf. Die Menschen werden im Anklang an das erste Quartett als "Kinder" gesehen. Nun sie der Herrschaft des "Winters" entronnen, dürfen sie sich frei bewegen und unbequeme Fragen stellen. Die Kinder fragen nach den Farben des Frühlungs. Die Farben des Frühlings sind die Farben der Erde: grün, und die Farbe des Himmels: blau. Da haben wir ihn doch wieder, den Himmel. Er darf in keinem Gedicht von Rilke fehlen. Die letzte Zeile des zweiten Quartetts "sie kanns, sie kanns!" bezieht sich auf die grünende Erde. Sie beantwortet alle Fragen, indem sie ein Wunderwerk der Natur nach dem anderen produziert. Erst sind es die Viellchen, die von einem Tag auf den anderen aus dem Boden schießen und ihre Köpfchen erheben; dann die Buschwindröschen im Unterholz des Waldes; schließlich der gelbe Löwenzahn auf den Wiesen unter den blühenden Kirschbäumen. Hervorgehoben wird mit "sie kanns, sie kanns!" allerdings nicht in erster Linie die Farbenpracht, sondern die Leichtigkeit in den Hervorbringungen des Frühlings. 

Die beiden Terzette stehen eben so zusammen wie die beiden Quartette des Sonetts. Die Freude über das Wiederkommen des Frühlings erfährt eine neue Akzentuierung. Die Erde hat den Kampf mit dem Winter bestanden. Sie hat "frei" - und kann sich in glücklicher Muße dem freien Schaffen hingeben. Wo der Mensch spielt, wird er zum Kinde. Und schon sind wir als fröhliche Kinder unterwegs mit dem Frühling und spielen Fangen mit ihm. Die letzte Zeile "sie singts, sie singts!" wirkt wie ein Echo auf die lezte Zeile des zweiten Quartetts. Das Spielerische und Leichte in den Hervorbringungen des Frühlings wird hier ein weiteres Mal unterstrichen. 

Zum Schluss eine Bemerkung über Rilkes veränderte Weltsicht im Vergleich mit den "Duineser Elegien""Kinder" sind öfters mal Thema in den Elegien. Zum einen wird beklagt, dass sie von den Erwachsenen und für deren Zwecke "umgedreht" würden - eine Sichtweise, die Rilke mit den Auffassungen der Reformpädagogen teilt, ob sie nun Ellen Key ("Das Jahrhundert des Kindes") oder Maria Montessori (das Kind ist von sich aus gut) heißen mögen. Das Bewusstsein des Kindes wird vom Dichter der Elegien zum anderen Träger der Hoffnung auf Heilung. Wie bei den Themen der Tiere und der Liebenden geht es Rilke in den Elegien ja um die Rühmung des Daseins. 
Seine Rühmung bleibt in den Elegien aber dem Ernst verhaftet. Manchmal wandert "das Lächeln" als Thema durch die Zeilen der Elegien. Der Ton der Elegien bleibt aber ernst und melankolisch. Der Dichter der Elegien scheint noch weit davon entfernt, selbst ein Kind der Erde sein zu können. 
Anders dieses Sonett. Es lächelt uns an - und wir stimmen ein und lächeln zurück. "Dem Frohsten gelingts". Die Mühsal des Ausharrens im Leiden bleibt nur als Erinnerung im Wurzelwerk der Bäume und in den"langen schwierigen Stämmen" zurück. 

Johannes Heiner am 1. Mai 2004

 

Gedanken zu einem Sommer-Gedicht der besonderen Art

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Über den Sommer lässt sich viel und gut reden. Während des Sommers sitzt man gerne draußen und redet miteinander. Im Sommer duften die Gärten, Gräser und Garben. Aber den Sommer fühlbar in die Sprache zu bringen, so dass jeder Mensch meint, den Sommer wirklich vor sich zu haben, das kann nur ein so großer Dichter wie Rainer Maria Rilke. 
Die Dichtung Rilkes gibt immer die Essenz der Dinge. Und was ist die Essenz des Sommers in diesem Gedicht? 
Die dritte Strophe der siebten Elegie – denn um sie handelt es sich – folgt chronologisch dem Ablauf des Tages. Erst der Morgen, dann der Tag. dann der Abend, schließlich die Nacht – und in der Nacht öffnet sich das Universum auf die Sterne am Himmel. Der Schlussakkord mit dem„Sondern“ ist gewaltig, weil er den Menschen in das Ganze des Weltalls hinein stellt. 
Die große Bewegung in der Zeit vom Morgen, der heraufleuchtet, bis zum Abend, wo er verdämmert, stellt aber nur das magere Gerüst, das Skelett dieses Sprach-Gebildes dar. Die eigentlichen „Fleischbrocken“ sind darin aufgehängt. Sie sind es erst, die uns den Geschmack des Sommers auf die Zunge treiben. Sie sind kurz gefasst und treffen den jeweiligen Sachverhalt mit akurater Präzision: 

Die Morgen „leuchten vor Anfang“ – das kennt jeder, der frühmorgens den Sommer betritt. Es leuchtet unmittelbar ein. Es entspringt einem tiefen Sehen, wie die Dinge wirklich sind. 
Auch die Tage, die „zart sind um Blumen“ usw. Sie lassen die Natur nicht verwahrlosen. Sie kümmern sich. Und dann, als eine vorläufige Zusammenfassung dieser Sommerkräfte die Zeile: „die Andacht dieser entfalteten Kräfte“ . Es braucht viel „Andacht“ und vertiefendes Schauen, Sommer-Morgen-Andacht, um die Essenz eines einzigen Sommer-Morgens so treffend beschreiben zu können. 

Ich will die Reihe nicht weiter fortsetzen. Der große Schwung dieses Textes, seine weit ausholende Bewegung bis hinein ins Kosmische dürfte klar geworden sein. Ich will nur noch auf die paradoxe Formulierung: die„Sterne der Erde“, hinweisen. Sie ist zum Verständnis der siebten Elegie von Bedeutung. 

Als nämlich der Lobpreis aus dem Dichter herausbricht – Rilkes Wort dafür ist die „Rühmung des Daseins“ – nach so vielen Jahren des Wartens auf den künstlerischen Durchbruch; nach so vielen Jahren des Erleidens der Trockenheit des inneren Brunnens; da entstand in ihm zusammen mit dem Lobpreis auf das Leben und auf „unsere“ Erde, auch ein neues Selbstbewusstsein, ein Stolz auf das Mensch-Sein an und für sich. Die Sterne sind die der Erde. Sie gehören schicksalshaft zum Menschsein hinzu. Manchen der ganz Großen – Rilke würde von den Heiligen und von den Helden sprechen – ist es gelungen, die Sterne auf die Erde hinunter zu biegen. Diese Formulierung stammt aus der „Helden-Elegie“. Sie drückt das Besondere am Lebens eines „Helden“ aus. 
„Die Sterne der Erde“, das ist also eine programmatische Wendung. Es drücken sich in ihr die Bestrebungen auch von Friedrich Nietzsche und Hermann Hesse aus. Seit der Jahrhundertwende wird von vielen Autoren, Dichtern, Philosophen und Mystikern, intensiv am Programm des „neuen Menschen“ gearbeitet. Nietzsches Zarathustra, Rilkes Orfeus und der Steppenwolf von Hermann Hesse sind drei unterschiedliche Entwürfe des„neuen Menschen“

Und der Sommer? Er ist die hohe Zeit des neuen Menschen.

Johannes Heiner am 14. Juni 2004

Lesen Sie auch den Kommentar zur siebten Elegie

   

"Sehnt es dich aber, so singe die Liebenden"

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Wohin führte der Vorschlag des Sängers dieser ersten Elegie, wenn man ihn ausprobieren würde? (Ich sage nicht "Rilke", sondern "der Sänger", um die Distanz der Fiktion zu wahren, die der Schreibende braucht, um sich einbringen zu können.) 
Nun, er selbst, der Sänger, macht es uns vor. Er führt uns zu den Verlassenen, die er so viel liebender fand als die Gestillten. Es wird der Name der italienischen Renaissance-Dichterin Gaspara Stampa genannt. Sie ist für ihre Liebesgesänge berühmt geworden. Rilke hat das eine und andere Gedicht von ihr übersetzt. Sie klagt über den Verlust ihres Geliebten und in der Klage findet sie zu sich selbst und zu ihrer wahren Liebe. Ihre wahre Liebe besteht in der nicht zu unterdrückenden Liebesfähigkeit. 
Da also haben wir es, wohin es führen würde, wenn man der Sehnsucht folgen würde. Eine Zeile später wird der mit der Person "Gespara Stampa" umschriebene Liebes-Ansatz zu einer Reihe von begrifflichen Formulierungen erweitert, die einen direkt anspringen. Ja, wie schön wäre es, wenn das viele Liebes-Leid nicht umsonst erlitten worden wäre! Es ist wie ein Innehalten, das hier stattfindet. Nicht in eine neue Beziehung gehen, wird als Medizin vorgeschlagen, sondern den Schmerz des Verlustes ertragen oder der Freiheit des Nicht-Wählens auszuhalten. 
"Sich liebend vom Geliebten befrein und es bebend bestehen" - wie ist das gemeint? Gemeint ist das Aushalten der Einsamkeit, die "dem einzelnen Herzen mühsam bevorsteht". Wie schon Pascal bemerkte, kommt das Unglück des Menschen nicht vom Hunger oder Durst, sondern von der Tatsache, dass er es nicht in seinen vier Wänden aushält. Dauernd sinnt er auf Ablenkung und setzt fieberhaft Mechanismen in Gang, die das Nicht-Gebrauchtwerden-Gefühl kompensieren. Wenn er es "bebend"aushalten würde, wäre er mit seinen "Löchern" konfrontiert. Das ist schwer zu ertragen. 
Der Vergleich mit dem Pfeil bringt das Vibrierende dieses neuen Liebesethos von Rilke zum Leuchten. "Mehr zu sein als er selbst" bezeichnet nicht die Liebes-Illusion des Beginnens, wo man liebt, weil man das Gefühl erhält, durch das Du "mehr zu sein als es selbst". Das Rilkesche Mehrsein hat die Phase der Illusion hinter sich gelassen. Es ist durch schlaflose Nächte hindurch geschritten und vorgedrungen zu siderischen Spären, in denen nichts mehr ist, als nur noch die Kälte und die Einsamkeit. 
Dieses "Mehr zu sein" enthält in sich den Mut der Verzweiflung. Der Vergleich mit dem "Helden" erfolgt nicht von ungefähr. Der gemeinsame Vergleichspunkt zwischen den Liebenden und dem Helden ist die gesteigerte Intensität des Daseinsgefühls. Darum geht es. Mehr zu sein als "Ich" und "Du", näher am Herz des wirklichen Geschehens, in der Mitte des pulsierenden Universums - kraft der Enthaltung von flüchtigen Kontakten, die zu keiner wirklichen Steigerung führen können. Alleinesein als die ehrlichere Lösung. 

Johannes Heiner am 15. September 2004

Lesen Sie auch den Kommentar zur ersten Elegie 

 

Gedanken zum Gedicht "Du siehst, ich will viel"

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Wer dieses Gedicht aufmerksam liest, spürt sofort: Ja, da sagt der Dichter die Wahrheit. Seine Wahrheit. Rilke war als Dichter alles andere als bescheiden. Sein dichterischer Ehrgeiz war maßlos. Von Anfang an schrieb er mit dem Ziel des Welterfolgs. Nur so ist die Schreibwut des jungen Rilke zu erklären. Davon zu unterscheiden ist allerdings das menschliche Verhalten Rilkes. Er gab sich mit der größten Bescheidenheit und Freundllichkeit. 
Die Zeile: "Vielleicht will ich alles" kann man sich also getrost ohne das"vielleicht" denken. Ich will das Leben in seiner Ganzheit, spricht der junge Mönch zu sich selbst. Ich will des Lebens Schattenseite (das "Dunkel jedes unendlichen Falles") und die Sonnenseite ("jedes Steigens lichtzitterndes Spiel") kennenlernen und erfahren. Das unterscheidet den Sprecher des Gedichts, der in die Rolle des frommen Mönchs geschlüpft ist, von den Mitmenschen, die in ihrem Leben die Entscheidung getroffen haben, an der Oberfläche festhalten zu wollen. Mit der sprachlichen Neuprägung"gefürstet" könnte "gefirstet" gemeint sein. Im Dachfirst stoßen die beiden Seiten zusammen und gewähren Schutz. Es könnte aber auch "geadelt" "gehoben" gemeint sein (von "Fürst"). Der Dichter zielt auf die Maske, hinter der viele Mensch ihre Gefühle und Gedanken verbergen. Ich denke, dass die zweite Lesart besser in den Zusammenhang dieses Textes passt. 
Rilke hat in der Pariser Zeit für die Gleichzeitigkeit des Auf und Ab im Leben das Bild des Wasserstrahls gefunden (siehe das Gedicht "Römische Fontäne"). Die zehnte Elegie endet mit dem "Glück", das "fällt" - hier finden beide entgegengesetzte Bewegungen: die aufsteigende des Glücks und die fallende des Sterbens, zu einer Einheit zusammen. 
Schwieriger ist die Zeile zu verstehen:
"Du freust dich Aller, die dich gebrauchen wie ein Gerät".
Die Gedichte des "Stundenbuchs" kreisen unablässig um das große Thema Gott und gewinnen ihm viele neue Aspekte ab. In seinen Briefen an Lou aus der Zeit der Entstehung des "Stundenbuchs" 1899 bis 1904 spricht Rilke gern von seinem "Großprojekt Gott". Mal ist "Gott" im Erleben des Mönchs wie zum Greifen nahe. Mal ist er fern und nicht mehr zugänglich. "Dich gerbrauchen wie ein Gerät" heißt, dass Gott in Allem ist, auch im alltäglichen Handeln mit den "Dingen". Gott lässt sich gebrauchen, ohne sich zu wehren, so scheint es zumindest. Das drückt die Nähe Gottes zum Mönch aus. Und Gott erschließt sich in der Tiefe. Der Gegensatz "werdende Tiefe" und "ruhig verrät" zielt auf das eigentliche, verborgene Leben. In der Tiefe waltet Gott und Gott verhilft dem Menschen zum wahren Leben, der sich auf seine Tiefe einlässt. 

Das Gedicht zeigt an, wie sehr der Dichter bemüht ist, nach der Auflösung der Gegensätze zu suchen, die das Erleben des Menschen prägen. Der Mensch erlebt die Höhe und die Tiefe, die Dunkelheit und das Licht, das Böse und das Gute, das entstehende und das absterbende Leben. Wie sollte der Mensch, sobald er sich Gedanken darüber macht, an diesen Gegensätzlicheiten nicht verzweifeln? Der Dichter mit seiner großen Sensibilität ist diesem Hin- und Her und Auf und Ab in besonderer Weise ausgeliefert. Er kann sich nicht so gut davor schützen wie einer, der einem praktischen Beruf nachgeht und gelernt hat, sich zu panzern. Doch gerade dadurch hat der Dichter erkannt, dass das Spiel der Gegensätze nur scheinbar besteht. Denn im Fallen steckt bereits das Auferstehen und im neu Geborenwerden das Erlöschen. Rilke sieht und begreift das Leben nicht als Chaos, sondern als eine sinnvolle Bewegung hin zum Werden des Ganzen. Das Sterben und das Neugeborenwerden gehören gleichermaßen dazu. Auch das Leid ist sinnvoll. In ihm "verrät" sich die Lektion, die das Leben uns erteilen möchte. 

Johannes Heiner am 16. November 2004

   

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