"Paris, Rilke und ich" - eine Erzählung
"Paris, Rainer Maria Rilke und ich" - Die fünfte Aufnahme
Gestern schrieb ich noch ohne Gliederung einfach darauf los. Ich wusste nicht, was sich als Wichtiger herausstellen würde, die Einteilung nach Tagen oder die nach der Zahl meiner Schreibeinsätze. Ich musste ja einen ruhigen Platz finden, eine gewisse Idee haben und ein Thema entwickeln. Die Einteilung nach der Zahl der Computereinsätze erscheint mir sinnvoller als die nach Tagen. Ich habe den Eindruck, dass es immer besser gelingt, mich dem eigentlichen Geschehen anzuvertrauen. Das eigentlich Geschehen spielt sich in mir ab. Es ist ein Bisschen wie in der Meditation, wenn ich meinen Gedanken zusehe, wie sie kommen und gehen, was sie mir sagen wollen und was sie mir verheimlichen. Die Beherrschung der Technik, also z.B. dass meine Finger den Gedanken einigermaßen folgen können, stellt sich mit der Zeit ein. Ich kann schon mehrer Wörter hintereinander ohne Hinschauen, auf die Tastatur bringen. Der Begriff „Schnitt" ist von der Filmtechnik entlehnt und eignet sich hervorragend, um den Vorgang der Bewusstwerdung dessen, was ist, zu bezeichnen. Ein Abenteuer wird das Schreiben dann, wenn sich der Fluss des Geschehens unter den Fingern verselbständigt. und sich ein Thema eigenwillig zu Wort meldet. Plötzlich steht es da und will auch beachtet werden.
Die eingefangenen Momentaufnahmen stellen aber ähnlich wie beim Film erst das Rohmaterial dar. Die Aufnahmen mit dem Notebook werden später überarbeitet und montiert. Der Eindruck der spontanen und lebendigen Niederschrift ist für den Leser wichtig, der am Geschehen partizipieren möchte. Dahinter aber steckt eine konzentrierende Überarbeitung. So jedenfalls halte ich es mit Paul Nizon, der sich auch theoretisch über die Strategien seines Schreibens ausgelassen hat und von dem ich gelernt habe.
Ich stelle fest, dass meine warmen Socken ausgehen. Ich weiche sie ein, während ich an meinen "Film" weiter schreibe. Danach werde ich sie zum Trocknen aufhängen. Morgen werde ich sie brauchen. Für Sandalen und dünne Socken ist es noch zu kalt; der Wind bläst kalte Luft an die Füße.
Heute morgen wäre das Picasso-Museum an der Reihe gewesen; als ich ankam, hatte es wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Ich habe umdisponiert und bin zum Louvre gefahren. Ich bin sogar froh darüber, dass ich umdisponieren musste. Die alten Skulpturen im Louvre haben für Rilkes Raumempfinden zu Beginn seiner Zeit in Paris eine große Bedeutung gewonnen. Davon soll jetzt die Rede sein.
Ich war vom Louvre überrascht und der Besuch wurde zu einem Erlebnis. Natürlich kannte Hans Keydel den Louvre. Er hat damals, als kleiner Junge, die Historienmalerei von Delacroix bewundert. Das Floß der Medusa ist in bester Erinnerung. Napoléon auf dem Pferd bei irgendeiner Schlacht in Russland und Marianne, wie sie zur Revolution aufruft, sind bleibende Eindrucke. Doch jetzt nähere ich mich einem ganz anders gewordenen Louvre und muss mich zurechtfinden. Die Glaspyramide gab es in meiner Jugend noch nicht.
Es kommt mir vor, als bewegte ich mich in einem Gesamtkunst, an dem vier Jahrhunderte mitgewirkt haben. Der Louvre und die Tuilerien sind ja von Versailles und seinem riesigen Park abgelöst worden. Doch ist der Louvre und sein Park als Ort der Geschichte erhalten geblieben. Die Revolution und Napoléon haben ihre Spuren im Louvre hinterlassen. Zum Museum wurde es erst im Zwanzigsten Jahrhundert. Man hat die imposanten Säle mit großem Aufwand renoviert. Sie wirken wie damals, als sie neu gebaut worden waren. Die Gemälde an Wänden und Decken zu klassischen Themen harmonieren wunderbar mit den ausgestellten Stücken der alten Griechen und Römer. Es ist wie eine Fahrt unter Wasser; man kommt aus dem Atemanhalten nicht mehr heraus. Man darf sogar fotografieren; die alten Stücke haben genau das richtige Licht dafür, dass man sie auch ohne Blitz aufnehmen könnte. Wenn man die Venus von Milo sehen will, muss man erst einmal eine Bresche in den Kreis der Photographen aus allen Ländern der Erde schlagen.
Für Rilke waren die unfertigen Stücke wichtig. Er hat den Torso des Apollan den Kopf der zweiten Abteilung seiner Gedichte aus Paris gestellt.2Der Anblick des Unfertigen hat ihn davon überzeugt: Du musst dein Leben ändern. Der Eindruck, den ein solches Gedicht macht, wird künstlerisch verstärkt, wenn der Betrachter ganz real vor einem solchen Torso steht. Es gibt mehrere davon. Ich kann nicht herausfinden, welcher genau der Torso des Apoll ist. Aber darum geht es ja auch nicht. Es geht um das Gedicht. Die griechische Ruine lässt den Betrachter des Gedichts begreifen, welchen inneren Weg das Schauen des Dichters zurückgelegt haben muss, um ein solches unglaubliches Ergebnis zu erzielen.
Archaïscher Torso Apollos
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schulten durchsichtigem Sturz
und flimmete nicht so wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.
Man kann sich gut vorstellen, wie Rilke in Begleitung von Rodin sein Sehen der Skulpturen in unzähligen Besuchen geschult hat. Ich lerne sehen, sagt Malte gleich auf den ersten Seiten des Romans. Was Rilke in diesem Torso gesehen hat, wirkt auch heute noch wie ein Wunder der Wahrnehmung. Und es stimmt: die leichte Drehung der Hüfte macht den Stein erst lebendig.
Als Rilke im September des Jahres 1902 seine ersten Eindrücke von Paris an seine Frau Clara zusammenfasste, waren es Dinge, die einen nachhaltigen Eindruck auf Rilke gemacht haben. Das erste war der Himmel und das helle Licht über dieser Stadt. Rilke konnte den Himmel über Paris nicht genug rühmen. Das Zweite war die Stadt mit ihren unzähligen Straßen, Plätzen, Häusern. Vor seinem Zimmer streckte sich unter seinem Blick die Stadt als eine eigene Landschaft.
Rilke hat beide Dinge, den Himmel über Paris und die Stadtlandschaft vertieft. Doch so richtig herangereift ist ihm durch die Freundschaft mit Rodin das künstlerische Sehen. Rilke hat unzählige Stunden in den Ateliers von Rodin in Meudon verbracht und die Bildhauerwerke desmaître studiert. Er hat darüber geschrieben, um seine Freunde in Deutschland von dem großen Franzosen zu berichtet. Aus dem Schauen vor Ort und dem reflektierenden Schreiben ist ihm eine dichterisches Innenschau erwachsen, die seinen Weltruhm begründete.
Doch fehlen in diesen Ausführungen die Menschen. Wo bleiben die vielen Menschen, denen er täglich auf seinem Weg in den Luxembourg und in die Bibliothèque Nationale begegnete? Hat er sich nicht dafür interessiert?
In Wahrheit hat Rilke die Stimmen der Stadt sehr wohl gehört und aufgenommen. Nur passt es nicht in das schöngeistige Bild, das wir uns gerne von Rilke machen. Er hat in Paris eine kritische Einstellung zum Leben in der Stadt gewonnen. Wieder muss ich das dritte Buch aus demStundenbuch bemühen. Es trägt die Überschrift Von der Armut und vom Tode. Die Überschrift deutet an, dass es Rilke um die durch Armut und Krankheit ausgegrenzten Menschen gegangen ist. Er hat die Ausbeutung und Unterdrückung der Armen an den Pranger gestellt und sich als Dichter mit ihnen Armen solidarisiert, indem er ihnen Stimme verlieh. Der Juni des Jahres 1906 war für die dichterische Produktion von Rilke von besonderer Bedeutung. Allein in diesem Monat hat er das Lied des Bettlers, das Lied des Blinden, das Lied des Trinkers, des Selbstmörders, der Witwe, des Idioten, der Waise, des Zwerges und des Aussätzigen geschrieben.3
Bemerkenswert finde ich, dass Rilkes dichterisches Engagement sich auch auf außereuropäische Zusammenhänge bezogen hat. Es war in den Großstädten Europas damals Mode, nicht nur die exotischen Tiere aus Afrika und Südamerka in den zoologischen Gärten zu zeigen. Es genügte jetzt nicht mehr. Man brauchte stärkere Reize. Also wurde ein ganzes Dorf von Eingeborenen, die Aschanti, ausgehoben in die Zoos nach Europa verfrachtet. Dort mussten die Schwarzen als halbnackte Tänzerinnen, Tänzer, Trommler und Krieger das durchaus libidinöse Interesse der Massen bedienen. Man konnte sie gegen Geld anschauen und sich an ihnen erregen. Das Gedicht von Rilke Die Ashanti ist aus diesen Zusammenhängen entstanden. Rilke wendet sich kritisch gegen diese Schau, die die Menschenwürde verletzt.4
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