"Paris, Rilke und ich" - eine Erzählung

"Paris, Rainer Maria Rilke und ich" - Die sechste Aufnahme

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Die Rilke-Tagung in Paris beginnt. Wir müssen strenge Sicherheitskontrollen passieren, bevor wir die Sorbonne betreten durften. Wir befinden uns im altehrwürdige Saal des Amphi Liard unweit der ersten Wohnung von Rilke in Paris. Der wie ein Amphitheater erhöhte Vortragssaal ist ganz aus braun verdunkeltem Holz gestaltet. Vorne befinden sich die Plätze für die vortragenden Professoren hinter einer Art Theke. Immerhin gibt es Mikrophone. Als ich mein Notebook an die Steckdose anschließen will, um die Vorträge mitzuschreiben, wird dies aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Ich muss mich also auf meine Batterie verlassen.
Die Wänden zeigen Gemälde mit den französischen Klassikern von Corneille bis Pascal. An der Decke steht ein lateinischer Spruch: Flugitur nec mergitur als Kopf zu einem schönen großen Gemälde, dessen Inhalt mir nichts sagt. Der Kardinal Richelieu lenkt die Aufmerksamkeit auf sich. Sein Konterfei prangt an der Kopfseite des Saals. Er war der politische Macher der französischen Klassik. Ohne ihn hätte Frankreichs nicht die Stabilität gehabt, seine kulturellen Kräfte zu entfalten. Die Bildnisse erinnern mich an den Schulunterricht im Lycée Français, das ich besucht habe. Wir haben die Klassiker richtiggehend gepaukt. Hans Keydel tat sich schwer, kluge Gedanken über die klugen Worte in französischer Sprache zu Papier zu bringen. Es war ein kleines Wunder, dass er das « baccalauréat » geschafft hat.
Die klugen Vorträge der noch klügeren Redner über Rilke und seine Besuche in Paris 1920 und 1925 rauschen in französischer und deutscher Sprache über die Köpfe der Hörer hinweg. Was gesagt wird, morgen ist es schon wieder vergessen. Mein Eindruck ist, dass es sehr schwierig ist, über so subtile Gebilde wie Gedichte auch nur ansatzweise zu reden. Vielleicht kann man sich mit einem Freund austauschen. Aber vor Fremden?
Rilke hat sich den Dingen sehr lange angenähert, bevor er über sie geschrieben hat. Dann aber hat es "gestimmt", was er schrieb. Ich verstehe seine Annäherungsweise als spirituell und mystisch. Für mich ist Rilke ein mystisches Phänomen. Er nähert sich den Dingen mit einer solchen Liebe an. Er erfasst sie in ihrer Konkretheit und dann übersteigt er sie und lässt sie hinter sich. Was er aussagt, kann man nicht mehr anfassen und mit dem normalen Verstand kaum noch verstehen, weil es aus der Tiefe des Seins ausgesagt wird.
Die akademische Welt, die hier im Amphi Liard vor mir aufzieht, tut sich schwer mit Spiritualität und Mystik. Sie werden wohl eher dem persönlichen Credo zugeordnet und bleiben außerhalb der Untersuchung, die sich an konkreten Fakten orientiert und zu greifbaren Ergebnissen führen soll. Man ist nicht dagegen, aber man hält sich auf Distanz. Dabei spielt sicher auch der Respekt vor persönlichen Überzeugungen eine Rolle. Man hat neu gelernt, der Missachtung von persönlichen Überzeugungen in der Nazizeit zu begegnen.
Ich habe die akademische Welt vor vielen Jahren verlassen. Sie stand meiner Suche nach mir selbst im Wege. Ich wollte leben. Das Denken über das Leben, wie es die Dichtung betreibt, sagte mir nichts mehr. Jetzt bin ich allerdings zur Dichtung zurückgekehrt und sehe die großen Möglichkeiten, die ihr innewohnen.
Ich werde in meinen Gedanken unterbrochen. Stéphane Hessel tritt ein.
Ich sehe einen alten Mann von über neunzig Jahren das Amphitheater von oben betreten. Ich habe noch keine Ahnung, wer er ist. Es ist viel davon die Rede, welche Ehre es für uns sei, dass Herr Hessel gekommen ist. Doch mir macht das immer noch keinen Eindruck. Aber es liegt in seinem geraden Gang und in seinem strahlenden Gesicht etwas Besonders, das ich noch selten gesehen habe. Bei Ernst Bloch vielleicht, den ich als Student in Freiburg gehört habe und der mich in der kurzen Zeit seines Vortrages für mein Leben geprägt hat. Wie der alte Mann sich auf das Podium zu bewegt, in einer Art langsamem und achtsamem Tasten, das hat mich berührt. 
Er erklärt mit großer Klarheit, wie die Verbindung seiner Mutter zu Rilke gewesen sei; der Vater Franz war als Übersetzer tätig und stand mit Rilke in Verbindung. Zum Schluss trägt er auswendig das lange GedichtDie heiligen drei Könige und das erste der Sonette an Orpheus vor. Er sagt dazu, dass er froh sei, sein Gedächtnis so gut möbliert zu haben. Doch dann kam zum Vorschein, dass er nicht nur geehrter Diplomat in französischen Diensten war. Das war erst nach dem zweiten Weltkrieg. Er verdankte seine Karriere dem Umstand, dass er die verbrecherische Politik der Nazis schon sehr früh erkannt hat. Er schloss sich dem Widerstand gegen Hitler in London unter De Gaulle an. De Gaulle schickte ihn in das von den Deutschen besetzte Frankreich. Er sollte die Résistance koordinieren, wurde aber von der Gestapo verhaftet und zu Tode verurteilt. Im KZ Buchenwald gelang es ihm eher zufällig, sein Leben zu retten.
Stéphane Hessel hat nicht davon gesprochen, sondern nur von seiner Familie und ihrem Verhältnis zu Rilke. Ich bin nach der Vorstellung aber zu ihm gegangen, weil er mich als Mensch interessiert hat und da hat er mir diese Dinge mitgeteilt, die wohl als allgemein bekannt vorausgesetzt worden waren.5

 

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