Hermann Hesses Weg nach innen

6. Das Ganzwerden durch Dienen

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Zuletzt aktualisiert am Samstag, den 24. Juli 2010 um 00:28 Uhr Geschrieben von: Administrator Freitag, den 23. Juli 2010 um 23:45 Uhr

Hermann Hesse hat, wie wir schon gesehen haben, ein beeindruckendes Stück des Weges nach innen vollzogen. Er hat sich selbst als Ich geboren und gegen Widerstände von außen behauptet. Von dort aus ist er auf den Gegenpol des Nicht-Ichs zugegangen. Pol und Gegenpol, in dieser Dynamik vollzieht sich das Leben und Sterben auch im Geiste. Wer sein Ich herausgebildet hat, muss schließlich lernen es zu überwinden, will er im Einklang mit dem Gesetz des Lebens sein will. Wer als dienender Mensch beginnt, muss lernen, ein starkes Ich aufzubauen.

So jedenfalls sehe ich es selbst aufgrund meiner eigenen Erfahrungen. Vielleicht würde ich die Betonung des Willens in der Formulierung „er hat sich selbst als Ich geboren“ etwas abmildern oder zumindes betonen, dass der Prozess der Ich-Findung insofern mit Geburt zu tun hat, als man in den Prozess der Loslösung hineingeworfen und hineingedrängt wird. Ich muss es wollen - und dann geschieht es mit mir und „ich“ kann die Geschehnisse nicht mehr aufhalten.

Schon im „Demian“ bewegt Hesse sich auf das Nicht-Ich, den Gegenpol zum Ich, zu. Da gibt es so manches „Flügelrauschen“ des Engels der Selbstfindung in angedeuteten Führungen und Fügungen. Sinclair wird von Demian „geführt“. Da ist der Aspekt der Passivität schon angelegt. Doch erst im „Siddharta“ gestaltet Hesse den Gegenpol zum Ich unter dem doppelten Aspekt:

  • den Gedanken der Einheit
  • das Dienen.

Wir haben den ersten Aspekt der Auflösung des Ichs in der All-Erfahrung schon dargestellt und besprochen. Es geht nun um den Aspekt der Überwindung des Ichs durch das Erlernen der Fähigkeiten, die dazu gehören, sich unterordnen und hingeben zu können.

Hesse gestaltet dieses Thema in Anlehnung an das „indische“ Modell des spirituellen Meisters und seines nach dem Sinn des Lebens suchenden „Schülers“. Siddhartha wird zum „Diener“ des Fährmanns Vasudeva, als er an den Fluss gelangt und innerlich umkehrt. Der alte und weise Fährmann verkörpert den spirituellen Meister. Siddhartha lebt mit ihm und kann ihn am Ende integrieren. Er lernt bei ihm, den Fluss, ein Symbol für den Lebensprozess schlechthin, in die eigene Leere hinein sprechen zu lassen. Er lernt bei ihm, einfach zu tun, was getan werden muss, die täglichen Verrichtungen und das Hinüberfahren der Reisenden zum anderen Ufer. Er lernt bei ihm das Loslassen der Vergangenheit und das Leben im Augenblick.

Auch der spätere Roman „Narziss und Goldmund“ gestaltet den „Ruf“ des Gegenpols, die Auflösung des Ichs und das Erlebnis der Einheit in Goldmunds Visionen von der großen Mutter. Ähnlich wie im „Demian der zum Symbol werdende Sperberkopf, der sich aus dem Ei  befreit“, werden in „Narziss und Goldmund“ die visionären Erlebenisse Goldmunds zum Symbol der inneren Umkehr. Sie helfen ihm, sich selbst im Widerstreit mit Narziss abzugrenzen und sie helfen ihm im Zurückfluss des Alters auf die Kindheit und Jugend, das starke Ich des Künstlers in den Dienst an der Gemeinschaft des Kloster zu stellen. Nach Jahren des Vagabundierens nämlich kehrt Goldmund in das Kloster seiner Jugend zurück und arbeitet hingegeben an verschiedenen Holzfiguren, die dann später in der Kirche aufgestellt werden. Dieses Dienen Tag für Tag fällt Goldmund alles andere als leicht. Er bricht immer wieder aus dem Klosterleben aus. Er tut sich schwer, auf die Freuden des weltlichen Lebens zu verzichten. Für seine Arbeit als Bildhauer, so Goldmund selbst, brauche er die Farben und Formen des Lebens auch außerhalb der Mauern. Es sind gerade diese Brüche und Widersprüche, die Hesses Darstellung der letzten Lebensjahre Goldmunds so glaubwürdig machen. Vergliche man sie mit dem Dienen Siddhartas, könnte man jene als noch etwas plakativ wirkend empfinden. Vom „Siddhartha“ zum „Narziss und Goldmund“, so mein Eindruck, hat Hesse eifrig an diesem Thema gearbeitet.

Doch möchte ich nicht schließen, ohne auf die Figur des Josef Knecht und auf das „Glasperlenspiel“ (1943) hinzuweisen. Der Name „Josef“ steht für einen demütigen und Gott ergebenen Menschen. Mit dem Namen „Knecht“ drückt Hesse den Gedanken des Dienens in drastischer Weise aus. Den spirituelle Meister Josef Knechts erkennen wir in der Gestalt des alten Musikmeisters, der den begabten Jungen nach Katalien beruft. Aus der dienenden Verehrung des Musikmeisters durch Josef Knecht entsteht mit der Zeit eine innige Freundschaft, die bis ans Lebensende des Musikmeisters anhält. Ein weiterer „Seelenführer“ wird dem Josef Knecht in der Gestalt des „chinesichen“ Eremiten beigegeben. Das Meister-Schüler-Verhältnis wird hier in enger Anlehnung an die Zen-buddhistische Tradition gestaltet. Josef Knecht ist hier noch ganz Schüler. Erst in den Auseinandersetzungen mit dem Pater Jakobus erlangt Josef Knecht die geistige Unabhängigkeit von seinem zweiten Seelenführer.

Der „indische Lebenslauf“ im Anhang zum Roman „Das Glasperlenspiel“ gestalter den Gedanken des Dienens in seiner reinsten Form. Hesse kehrt damit zu seinen spirituellen Anfängen zurück - der Meister, um den es hier geht, trägt nicht zufällig wieder den Namen Vasudeva. Doch ist Vasudewa jetzt kein tätiger Mensch mehr, sondern ein Kontemplierender auf, der sich in die Einsamkeit des Dschungels zurückgezogen hat und dort in bescheidensten Verhältnissen lebt. Josef Knecht bzw.die Verkörperung Josef Knechts in Indien ist von der Gestalt des meditierenden Eremiten absolut fasziniert. Er wird dessen Schüler, erlangt die geistige Selbständigkeit und tritt nach dem Tod Vasudevas an die Stelle seines Vorbildes.

[Vom „Indischen Lebenslauf“ im „Glasperlenspiel“ zurückblicken auf die erste Darstellung eines meditierenden Menschen im „Demian“. Der Freund Demian meditiert während des Unterrichts! Sinclair ist fasziniert und probiert es ebenfalls, zu meditieren. Die Stellen findet sich am Ende des Kapitels „Der Schächer“.]

 

Der jugendliche Sucher, der uns kritisch begleitet, wird an dieser Stelle gewiss die Frage stellen, ob die poetischen Gestaltungen des Themas vielleicht nur „Literatur“ seien? Wie also, so fragt er, sieht es mit Hesses eigenem Dienen aus?

Hesse hat immer die Auffassung vertreten, dass ein Autor zum Wohl der Menschheit schreiben solle. Und er wußte sehr genau, dass sein Schreiben nur dann überzeugend wirkte, wenn er über das schrieb, war ihn wirklich umgetrieben hat. Mit anderen Worten: Es wäre ihm nicht möglich gewesen, über die Auflösung des Ichs, das Erlebnis der Einheit und die Überwindung des Egos im Dienst am Anderen zu schreiben, wenn er es nicht selbst erfahren hätte.

Schon ein öberflächlicher Blick auf die Biografie Hesses zeigt sehr eindrücklich, wie hilfsbereit er immer gewesen ist. Ich meine nicht nur die oft erwähnten Hilfeleistungen an die gefangenen Soldaten im Ersten Weltkrieg und an die Flüchtlinge, die er während der Nazizeit aufgenommen hat. Ich meine die Tausenden von Briefe, die er unverdrossen an die Menschen in Deutschland geschrieben hat, die nicht nur seine Werke lasen, sondern in einem gewissen Sinne auch an ihn selbst, seine Integrität glaubten. Dass es Hesse gab und dass er weiterschrieb, gab vielen Menschen auch während des Zweiten Weltkrieges und zur Zeit der Nachkriegs-DDR, als Hesse verboten war und trotzdem gelesen wurde, jenes Fünkchen Hoffnung und Mut, das der Mensch zum Weiterleben braucht.

Ich schließe mit einem Zitat aus dem Märchen „Piktors Verwandlungen“:

„Er war verwandelt. Und weil er dieses Mal die richtige, die ewige Verwandlung erreicht hatte, weil aus einem Halben ein Ganzes geworden war, konnte er sich von Stund an weiter verwandeln, so viel er wollte. Ständig floss der Zauberstrom des Werdens durch sein Blut, ewig hatte er Teil an der allstündlich entstehenden Schöpfung. Er wurde Reh, er wurde Fisch, er wurde Mensch und Schlange, Wolke und Vogel. In jeder Gestalt aber war er ganz, war ein Paar, hatte Mond und Sonne, hatte Mann und Weib in sich, floss als Zwillingsfluss durch die Länder, stand als Doppelstern am Himmel.“

 

[Als Einführung empfohlen die Biographie von Ralph Freedmann, Hermann Hesse.  Freedmann, US-Amerikaner, widmet sich der Biographie und dem Werk Hesses ohne Vorurteil. Es liest sich wie ein Roman.]

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5. Die Weisheit jeder Lebensstufe

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Zuletzt aktualisiert am Samstag, den 24. Juli 2010 um 00:27 Uhr Geschrieben von: Administrator Freitag, den 23. Juli 2010 um 23:45 Uhr

Es sind vier Stufen, die das Leben des Menschen umspannen: die Kindheit und Jugend, das Erwachsensein und das Alter. Ausdrücklich genannt werden im Gedicht die Jugend und das Alter. Die Kindheit und die Mannesjahre werden nicht benannt, werden aber mitgedacht. Das ganze Leben von der Geburt bis zum Tode vollzieht sich in „Stufen“.

Auf der Ebene des Werdens der Natur vollzieht das Leben den Wechsel von der einen zur nächsten Stufe sozusagen von alleine.  Eines Tages kann ich die Anzeichen des Alters an meinem Körper nicht mehr übersehen. Vielleicht sage ich dann : Jetzt werde ich alt.  Dem Werden und Vergehen der körperlichen Kräften folgt  eine entsprechende geistige Einstellung nicht von alleine. Es kommt oft zu krassen Misstönen im Verhältnis zwischen dem Alter eines Menschen und seinem konkreten Verhalten, z.B. wenn ein alter Mann ein junges Mädchen heiratet. Das Gedicht „Stufen“ könnte dazu beitragen, ein Bewußtsein für die Notwendigkeit einer echten geistigen Einstellung zu jeder „Lebensstufe“ zu schaffen.

Die Jungen sollen nicht verächtlich auf die Alten schauen und umgekehrt: Warum? Hermann Hesse behauptet sogar, dass der alte Mensch dem Tod  mit der Qualität des Jungseins begegnen könne. Kann auch der junge Mensch „alt“ aussehen?

Es hängt von der inneren Einstellung ab, wie der Mensch sein jeweiliges  Lebensalter gestaltet. Die im Gedicht aufgezeigten Fehlhaltungen sind das Festhalten („lähmende Gewöhnung“) und die Mutlosigkeit. Werden diese überwunden, kann der Mensch den „ Lebensruf“ wahrnehmen. Dann  kann er z.B. die Aufgaben seines Alters erkennen und sich bewußt darauf einstellen. Wir kommen darauf am Ende dieser Betrachtung zurück.

 

Jede Lebensstufen wird im Gedicht als ein besonderer „Raum“ vorgestellt. Jeder „Raum“ könnte „heiter“ durchschritten werden, so Hesse, wenn die innere Einstellung stimmig wäre. Was „heiter“ meint, wissen wir aus dem „Steppenwolf“: die Fähigkeit, die sich entwickelt, wenn der Mensch erst einmal gelernt hat, über sich selbst lachen zu können.

Das Gedicht verleiht dem Leben des Menschen, als Ganzes betrachtet, einen zweifachen Sinn. Zum Einen zeigt es auf, dass jede Alterstufe für sich genommen werden muss und einen spezifischen, eigenen Wert besitzt. Wenn der Mensch das Besondere dieser seiner Alterstufe erkennt, kann er sich bewußt in Übereinstimmung mit den speziellen Aufgaben der Alterstufe bringen. Dazu gehört auch, dass er das, was die frühere Alterstufe gekennzeichnet hat, loslassen kann.

Jeder kennt die passenden Beispiele. Der Erwachsene, der in seinem Herzen noch immer ein Jugendlicher geblieben ist und deshalb die gesteigerten Verantwortung des Erwachsenenlebens scheut. Der gealterte Mensch, der seinen Beruf und das damit gegebene Ansehen nicht loslassen kann.

Zum Anderen gibt das Gedicht zu verstehen, dass der Gesamtverlauf des Lebens einen tieferen Sinn hat. Diese Sinnhaftigkeit drückt Hesse im Bild der “Stufen“ aus. Durch das Voranschreiten auf den Stufen des Lebens findet eine Erweiterung des geistigen Horizontes statt. Es ist, wie wenn der älter werdende Menschen auf den Stufen einer Leiter zu einem Aussichtspunkte gelangte, von wo aus er einen Überblick über das Leben insgesamt gewinnt. Von Stufe zu Stufe voranschreiten, heißt reif und vielleicht auch weise werden. Das Gedicht spricht von einem „Weltgeist“, der mit seinem Wirken den Menschen „heben will und weiten“ (Vers 13f.). In dieser Formulierung klingt die Suche von Sinclair, Harry Haller,  Siddhartha und Goldmund nach dem Sinn ihres je eigenen  Lebens an.

Oberstes Ziel ist bei Hesse immer die Verwirklichung der eigenen individuellen Gaben und Fähigkeiten. Für Hesse ist das Leben dazu da, dass der Mensch lerne, seine ihm von Gott verliehenen Gaben zu entfalten und sie zum Besten seiner Mitmenschen einzusetzen.

 

Wenn der Mensch nun alt wird, bedeutet dies auf der einen Seite ganz sicher einen Verlust an Jugendlichkeit und Schönheit und Kraft. Auf der anderen Seite aber bringt es dem Menschen einen Zuwachs an Wissen und Erfahrung. Erreicht er im Alter den Zustand der Gelassenheit, hat sich der Sinn des Lebens in ihm  erfüllt. Er ist weise geworden - so wie der Autor, als er das Gedicht im Alter von 64 Jahren schrieb. Gestorben ist er  im Jahre 1962  mit 85 Jahren. In den 21 Jahre zwischen der letzten Fassung des Gedichts vom 4.5.1941 und seinem Tod  liegen noch die großen Ereignisse des Fertigstellens des „Glasperlenspiels“ (1943) und der Verleihung des Nobelpreises im Jahre 1946.

In diesem Sinne ist auch der „Widerspruch“ in der letzten Strophe zu lösen. Der alte Mensch bleibt „jung“, der  sich  in seinem Geist über den Verfall seines Körpers erhebt. Dies ist freilich etwas, denke ich, was der alternde Mensch von langer Hand vorbereitet haben müsste. Hat er z.B. sein Gedächtnis trainiert hat, dann darf er sich noch im hohen Alter an seiner geistigen Regsamkeit erfreuen.

 

Auf der einen Seite also verlangt das Leben vom Menschen die Umstellung und das Loslassen des Vergangenen. Auf der anderen Seite aber wird auch eine gewissen Vorausschau  und Vorsorge verlangt. Ich kann z.B. kein materiell gesichertes Alter erwarten,  wenn ich nicht vorgesorgt habe. Diese „Lebensgesetze“ sind unerbittlich. Getroffene Entscheidungen können nicht rückgangig gemacht  werden. Es bleibt einem dann nur noch übrig,  die Verantwortung für die misslichen Folgen zu übernehmen.

Das Gedicht spricht denjenigen Menschen Mut zu, die bis an ihr Lebensende bereit sind, dazu zu lernen und zu neuen Ufern der Erkenntnis aufzubrechen. In ihnen erfüllt sich die große Lebensspirale, die uns - in Stufen  - zur Weisheit und zu Gott hinführt.

 

Das Gedicht „Stufen“ wird von vielen Menschen und zurecht als ein geistiges Vermächtnis Hermann Hesses aufgefasst. Er hat es im Alter von 66 Jahren vollendet. Neun Jahre später, mit 75 Jahren hat er einen kleinen Aufsatz über das Alter geschrieben. Wir werfen einen Blick hinein und stellen die Frage, die Jugendliche immer stellen, wenn sie Vorbilder prüfen:

Hat er denn selber verwirklicht, was er in „Stufen“ verkündet hat?

 

Der Aufsatz „Über das Alter“ aus dem Jahre 1952 antwortet auf unsere Frage wie ein Echo. Er beginnt mit den Worten: „Das Greisenalter ist eine Stufe unsres Lebens, und hat wie alle andern Lebensstufen ein eigenes Gesicht, eine eigene Atmosphäre und Temperatur, eigene Freuden und Nöte. ... Altsein ist eine ebenso schöne und heilige Aufgabe wie Jungsein, Sterbenlernen und Sterben ist eine ebenso wertvolle Funktion wie jede andre...“  Hesse verschweigt nicht  die Schattenseite des Alters: die Beschwerden und die Nähe des Todes. Er beschreibt sie sehr konkret und führt dann aus: „Aber ärmlich und traurig wäre es, sich einzig diesem Prozess des Verfalls hinzugeben und nicht zu sehen, dass auch das Greisenalter sein Gutes, seine Vorzüge, seine Trostquellen und Freuden hat. Wenn zwei alte Leute einander treffen, sollten sie nicht bloß von der verfluchten Gicht, von den steifen Gliedern und der Atemnot beim Treppensteigen sprechen, sie sollten nicht bloß ihre Leiden und Ärgernisse austauchen, sondern auch ihre heiteren und tröstlichen Erlebnisse und Erfahrungen.“

 

So weit, so gut, wird unser Jugendlicher denken. Theoretisch lässt sich vieles behaupten, Herr Hesse. Was sind denn nun die von Ihnen gepriesen Vorzüge des Alters?

Hesse läßt sich von dem so forsch auftretenden jungen Mann nicht aus der Ruhe bringen. Er lächelt ein bissele (auf Schwäbsich!) und antwortet dann versonnen:

„Die mir teuerste dieser Gaben (des Alters) ist der Schatz an Bildern, die man nach einem langen Leben im Gedächtnis trägt und denen man sich mit dem Schwinden der Aktivität mit ganz anderer Teilnahme zuwendet als jemals zuvor.... Hier, in diesem Garten der Greise, blühen manche Blumen, an deren Pflege wir früher kaum gedacht haben. Da blüht die Blume der Geduld, ein edles Kraut, wir werden gelassener, nachsichtiger, und je geringer unser Verlangen nach Einfriff und Tat wird, desto größer wird unsre Fähigkeit, dem Leben der Natur und dem Leben der Menschen zuzuschauen und zuzuhören, es ohne Kritik mit immer neuem Erstaunen über seine Mannigfaltigkeit an uns vorüberziehen zu lassen, manchmal mit Teilnahme und stillem Bedauern, manchmal mit Lachen, mit heller Freude, mit Humor.“


Ich denke, dass Hesse das Kreuzfeuer der Fragen unseres Jugendlichen bestanden hat. Zurückbleibt der Eindruck von Glaubwürdigkeit. Da steht ein Mensch, der sagt, was er lebt. Der dichtet, was  er erlebt hat. Der weiß, was er erfahren hat.

Der die Kluft zwischen Wissen und Leben überwunden hat.

Wir sehen Hermann Hesse am Ende seines ebenso schwierigen wie auch  schönen Weges in die Tiefen der eigenen Seele angelangt. Wenn wir an den feurigen Eigensinn des Kindes von protestantischen Eltern zurückdenken, dem das Missionieren sozusagen mit der Muttermilch vererbt worden ist und dann den duldsamen Greis, wie eben, sprechen hören: Da kann der Leser nur über die unglaubliche Wegstrecke staunen, die dieser Mensch in seinem Innersten zurückgelegt hat.

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4. Das Erlebnis der Einheit

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Zuletzt aktualisiert am Samstag, den 24. Juli 2010 um 00:27 Uhr Geschrieben von: Administrator Freitag, den 23. Juli 2010 um 23:45 Uhr

Hesses Auffassungen über den Menschen und seine geistige Entwicklung sind von großer Dynamik. Es darf keinen Stillstand geben. Der eine Pol drängt zu seinem Gegenspieler und das Finden der Mitte transzendiert die Extreme.

Wir dürfen davon ausgehen, dass Hesse diese Dynamik in seinem eigenen Leben auf jeder seiner Altersstufen vollzogen hat. Und wir werden nicht überrascht sein, sie in der Gestaltung und Darstellung der Hauptfiguren Sinclair, Siddhartha, Harry Haller, Goldmund, Josef Knecht wiederzufinden. Hesse dichtete ja, ähnlich wie Goethe, indem er seine eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse zum Ausgangspunkt seiner Dichtung nahm.

Die Dynamik der Ich-Entwicklung zielt auf das Finden des Gleichgewichts der inneren Kräfte ab. Hesse selbst hat diesen Punkt als Weisheit, Mitte, Leere usw. bezeichnet. In seinem für das Verständnis seines spirituellen Weges grundlegenden Aufsatz „Mein Glaube“ aus dem Jahre 1931 hat er ihn als den Gedanken und als das Erlebnis der Einheit allen Seins charakterisiert.

Hesse führt im Einzelnen aus, warum er, obwohl protestantisch erzogen, kein gläubiger, die evangelischen Kirchen unterstützender Anhänger der Lehren Luthers geblieben ist. Er führt aus, warum er - im Gegenzug wäre es ja denkbar gewesen - keine Katholik wurde, obwohl er zugibt, einen Hang in dieser Richtung gespürt zu haben. Er erläutert seine Faszination durch den Buddhismus, Hinduismus und Taoismus. Am Schluss seines so aufschlussreichen und interessanten öffentlichen Bekenntnisses fasst er seine Position in den Worten zusammen:

„In meinem religiösen Leben spielt also das Christentum zwar nicht die einzige, aber doch eine beherrschende Rolle, mehr ein mystisches Christentum als ein kirchliches, und es lebt nicht ohne Konflikte, aber doch ohne Krieg neben einer mehr indisch-asiatisch gefärbten Gläubigkeit, deren einziges Dogma der Gedanke der Einheit ist. Ich habe nie ohne Religion gelebt, und könnte keinen Tag ohne sie leben, aber ich bin mein Leben lang ohne Kirche ausgekommen.“

Wir verstehen Hesse richtig, wenn wir seine Position mit den Worten formulieren: Er hat zu einer eigenen, transkonfessionellen und sogar transreligiösen Form der Gläubigkeit gefunden. Der Dialog der Religionen und Kulturen findet in Hesse einen weitsichtigen und kompetenten Vorläufer. In der Tat bleibt bei Hesse der sich entwickelnde Mensch nicht bei der Ausprägung seines Ichs stehen. Die grundlegende Lebensdynamik verlangt dem älter werdenden Menschen die Überwindung der Ichbezogenheit  und schließlich das Erlernen des Dienens ab. Man wird also sagen können, dass das Aufzeigen der Ich-Werdung, aber auch an die Entwerdung des weise gewordenen Ichs wie zwei Pole zugrundeliegt, aus deren Anziehung und Ergänzung Hesses dichterisches Werk hervorgegangen ist.

Nun kehren wir zu unserem Stichwort, dem „Gedanken“ der Einheit“ zurück. Seine Ausgestaltungen gehören zu den Höhepunkten der Romane Hesses. Ich zitiere aus dem „Siddhartha“ (1922).

Meditationstext zum Thema: Das Erlebnis der Einheit.

„Siddharta lauschte. Er war nun ganz Lauscher ...  sein Ich war in die Einheit geflossen.

In dieser Stunde hörte Siddharta auf, mit dem Schicksal zu kämpfen, hörte auf zu leiden. Auf seinem Gesicht blühte die Heiterkeit des Wissens … der Einheit zugehörig.“

S. 258 f. Am Ende des Kapitels Om.

Der Dichter baut die Dastellung der Einheitserlebnisses seines Helden Siddhartha kunstvoll als eine Steigerung auf, die in die Aussage einmündet: Das Ich (Siddharthas) war in die Einheit geflossen. Bemerkenswert der Einstieg mit dem „lauschenden“ Siddhartha, der seine Ohren sozusagen über den Fluss gelegt hat und die ewigen Gestaltungen und Wandlungen des Lebens wahrnimmt. „Hermann Lauscher“ heißt ja die erste Schrift  Hesses aus dem Jahre 1901.

Wir sehen also Siddhartha am Fluss ankommen, nachdem er das „falsche Ich“, das er  als reicher Kaufmann aufgebaut hatte, aufgab und sich von neuem auf die Suche gemacht hatte. Am Fluss ankommen, bedeutet in die eigene Seele zu schauen. Er sieht darin zunächst sein Leiden am Leben und die schwarze Verzweiflung. Doch er besinnt sich zum Positiven und wird dabei von der Erinnerung an das Om-Singen aus seiner Kindheit geführt. So kann er seine Sehnsucht nach dem Tode überwinden und einen neuen Willen zum Leben in sich entdecken. Das oben zitierte Erlebnis der Einheit beschreibt eine neue Erkenntnisstufe im Prozess des Erwachens von Siddhartha. Siddhartha empfindet sich nicht mehr als ein gesondertes Ich, sondern als Teil des Lebensflusses an und für sich.

Siddharthas Erlebnis des Erwachens findet auf den letzten Seiten des Romans als er seinem Jugendfreund Govinda wieder begegnet, eine weitere, noch intensivere dichterische Ausgestaltung. In dem großen Roman „Narziss und Goldmund“(1930) erlebt Goldmund in christlicher Ausprägung ähnliche Einbrüche in die Welt seines Egos und im „Glasperlenspiel“ (1943), mit dem Hesse sein dichterisches Schaffen krönt, finden wir den Gedanken und das Erlebnis der Einheit im chinesischen Gewand wieder.

Von grundsätzlicher Bedeutung für die Lehre vom Weg bei Hermann Hesse sind dabei drei Aspekte:

 

  • das Loslossen der Ich-Identifikationen
  • die Hingabe an den Strom des inneren Geschehens
  • der Begriff des „Nirwana“

 

Hesse beschreibt den Zustand des „Lauschens“ am Anfang des Zitats in Worten, die für sich selber sprechen. Als Kaufmann war und mußte Siddhartha aktiv sein. Er mußte Geschäfte tätigen, seinen Vor-und Nachteil berechnen, Kunden gewinnen, die Geschäfte ausweiten usw. In der Sprache unseres Zitats heißt das: Er hatte „seine Seele“ an seine Geliebte und an sein Geschäft „gebunden“. Der Aufbruch nach neuen Ufern hat ihm dann geholfen, diese Identifikationen zu durchbrechen. Seine Leiderfahrung kommt eben daher, dass er diese Dinge nicht mehr hat, mit denen er sein Ego bislang aufgebaut hat.

Die Hingabe an den Strom des inneren Geschehens ist ein Ereignis der Meditation als innerer Schau. Die im Unbewußten gespeicherten Bilder steigen auf. Der Meditierende erfährt seine wahren Bedürfnisse und kann sich an ihnen orientieren. Die Meditation hat eine äußere Ähnlichkeit mit dem Traum. Doch im Unterschied zum Träumen ist der Geist hellwach.

Den Begriff „Nirvana“ kannte Hesse aus der Literatur. Er wurde in diesen Jahren der Selbstfindung (1912-1922) zu seinem Leitbegriff. Hesse bezeichnete damit die „Rückkehr des Einzelnen zum ungeteilten Ganzen“ (siehe den Materialienband zu „Siddharta“ S. 20). Der Bewußtseinszustand der Leere hilft dem Meditierenden, das Leiden zu überwinden.

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3. Das Ich als Heimat und Zuhause

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Zuletzt aktualisiert am Samstag, den 24. Juli 2010 um 00:25 Uhr Geschrieben von: Administrator Freitag, den 23. Juli 2010 um 23:45 Uhr

Von der Einheit der Gegensätze.

Meditation zu dem Text „Rotes Haus“ in „Wanderung“ (1919)                  

Dieser kleine Text gehört zum Schönsten, was ich von Hermann Hesse insgesamt gelesen habe. Wir wollen uns behutsam nähern.

Wie wir wissen, wurden die Aufzeichnungen „Wanderung“ im Jahre 1919 anlässlich des Wechsels Hermann Hesses von „Norden“ nach „Süden“ geschrieben. Der Autor stand in diesem Jahr am Kreuzweg seiner Vergangenheit und Zukunft.

1912 ist das Datum seines Scheiterns als seßhafter Bürger in Gaienhofen. Die Ehe mit Maria Bernoulli, einer Schweizer Fotografin, aus der drei Kinder hervorgingen, war nicht mehr zu retten gewesen. Auch der erneute Versuch Hesses, in der Heimat Marias, in Bern, Fuß zu fassen, scheiterte. Hesse entschloss sich, seine Familie zu verlassen und Deutschland hinter sich zu lassen.

1918 war es dann so weit. Hesse hatte seine Kinder bei Freunden untergebracht und brach in den Süden auf - ohne zu wissen, wohin ihn seine Wanderung führen würde. Wichtig war allein, von „zu Hause“ weg zu kommen. Gott würde ihn schon richtig leiten. Zu diesem Vertrauen hatte er immerhin wieder zurückgefunden, nachdem er lange gelitten und den Scherbenhaufen seiner Existenz in langjähriger Therapie zusammengefegt hatte.

Mit der Suche nach einer neuen Heimat und der Sehnsucht nach einem neuen Zuhause haben wir ein erstes Stichwort für unsere Textbetrachtung gefunden. Hesse wurde in all diesen Jahren von Widersprüchen gequält. 1904 nach Gaienhofen am Bodensee gekommen, um sich niederzulassen, hatte er gehofft, seine Existenz stabilisieren zu können. Er spielte den Bauern, Gärtner und Familienvater - und sann doch gleichzeitig darüber nach, wie er ausbrechen könnte. Seine Reisen nach Italien und schließlich nach Indien dokumentieren den ständigen Widerspruch seines Lebens in Gaienhofen. Man kann wirklich sagen, dass Hesse innerlich zerrissen war zwischen seinem Wunsch nach Seßhaftigkeit und seinem Wandertrieb. Wenn er dann unterwegs war, gedachte er mit Wonne seiner lieben Familie in Gaienhofen und schickte ihr anrührende Postkarten und Gedichte. War er „zuhause“, schimpfte er über die kleinbürgerliche Enge.

Doch nun im Mai 1918 war er willens, ganze Sache zu machen. Der Aufbruch in den Süden war keine Reise mehr, sondern der starke Wille eines damals schon berühmten Dichters, neu anzufangen und dem Leben auf den Grund zu gehen. Hesse wollte nicht malen und nicht dichten und eigentlich auch nicht unbedingt berühmt sein. Er wollte wirklich leben, intensiv leben, und das ging nur, wenn er den Mut aufbrächte, das wirkliche Leben außerhalb des engen Kreises der Familie aufzusuchen.

Dieser Text ist deshalb in seinem Kern ein freimütiges Bekenntnis zu einem neuen Lebensideal. Nein, ein bürgerliches Zuhause wollte er nicht mehr. Er durchschaut seine Fantasie, die ihm, dem Vorbeiwanderer, etwas  von einem neuen roten Haus vorgaukelt. Es ist rührend, wie er beschreibt, was er wirklich braucht. Man darf vermuten, dass er sich darüber im klaren war, was er wirklich brauchte und was nicht. Es sind einfache Dinge, die ihm einfallen: die Stille ringsum, das Dorf in sicherer Distanz von seinem kleinen Haus entfernt, das „Stübchen“ nach Süden gerichtet, ein eigenes Bett - die Betonung liegt nach all den Ehejahren auf eigen - die kleine Madonna aus Italien im Bücherregal.

Doch wie gesagt, Hesse durchschaut seine Wanderfantasie auf die dahinter liegende Wirklichkeit des Die-Heimat-in-sich-Tragens. Es ist jetzt die mögliche Zukunft, die er fantasiert. Sein Lebensziel ist es, durch intensives Leben die Seele vollzusaugen mit den Bildern des Erlebten. Dann würde er vielleicht eines Tages zur Ruhe kommen.

 

Es entgeht uns nicht, dass er sein Lebensziel in Anlehnung an Novalis formuliert hat. Novalis hatte, das macht seine Bedeutung in der Geistesgeschichte aus, nach dem Jahrhundert der Säkularisierung der Religion als erster wieder auf die „innere Welt“ aufmerksam gemacht und Winke davon gegeben. Interessant auch, dass Hesse nicht von „der“ Heimat spricht. Nein, es geht ihm nicht um die Heimat schlechthin, das wäre zu viel verlangt, sondern um ein Stück Heimat, ein Stückle Heimat (auf Schwäbisch!).

 

Wir riskieren an dieser Stelle einen Blick nach vorne und schauen auf einen Text, den Hesse zwölf Jahre später, im Jahre 1931 geschrieben hat. Er hatte gerade sein eigenes Haus in Montagnola beziehen dürfen. Er schreibt:

„Irgendwo heimisch zu sein, ein Stückchen Land zu lieben und zu bebauen, nicht bloß zu betrachten und zu malen, teilzuhaben am bescheidenen Glück der Bauern und Hirten, am Vergilischen, in zweitausend Jahren unveränderten Rhythmus des ländlichen Kalenders, das schien mir ein schönes, zu beneidendes Los, obwohl ich selbst es einstmals gekostet und erfahren hatte, dass es nicht genüge, um mich glücklich zu machen.“ (Freude am Garten S.92 f.)

Hier schlägt er die Brücke zurück nach Gaienhofen und bekennt die Unzulänglichkeit seines Versuchs, im Leben auf dem Lande vor Anker zu gehen. In dem Text hingegen, von dem wir ausgegangen sind, entwirft er eine mehr verinnerlichte Zukunft. In der Suche nach der Heimat steckt die Suche nach der eigenen Mitte. Von dort aus „schwängen alle Kräfte“. Wo später in Montagnola die Arbeit im Garten als Entspannung und Meditation fungiert, steht hier noch die negativ wirkende Klage über die nicht vorhandene Mitte.

Allerdings gibt es da eine Überraschung. Mit dem Satz: „Aber es ist nicht meine Sache, mich anders zu machen“ drückt Hesse positiv die neue Wendung in seiner Suche nach dem eigentlichen Leben aus. Er hat neues Vertrauen in das Leben gefasst. Und er erkennt: „Meine Sache ist, unzufrieden zu sein und Unrast zu leiden.“ Im Satz vorher hat er denselben Gedanken positiv ausgedrückt: „Meine Sache ist, zwischen vielen gespannten Gegensätzen zu schweben und bereit zu sein, wenn das Wunder mich ereilt.“

„Meine Sache“: Es wird dem von Norden nach Süden wandernden Autor Hesse klar, was seine Sache eigentlich sei. Weder das eine, noch das andere. Weder das Vagabundieren mit der brennenden Sehnsucht nach einem Zuhause im Bauch, noch als Bürger mit der fliegenden Sehnsucht nach einem Leben als Vagabund im Herzen. Seine Sache sei es vielmehr, „zwischen vielen gespannten Gegensätzen zu schweben“.

Das heißt ja wohl, dass Hesse erkennt, dass er zwischen Pol und Gegenpol genügend hin-und hergezuckt sei. Genügend hat er die Extreme durchkostet und erlitten. Nun ist er dabei, seine eigene geistige Lebensmitte zu entdecken. Er ahnt die Einheit der Gegensätze und drückt diese Ahnung im Bild des Schwebens über den Gegensätzen aus.Er liefert dem Leser auch das Stichwort für die weitere Suche: das „Nirvana“. Es weist nach vorne auf die Darstellung des Erwachens der Seele im „Siddhartha“.-

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2. Die Ich-Findung

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Zuletzt aktualisiert am Samstag, den 24. Juli 2010 um 00:24 Uhr Geschrieben von: Administrator Freitag, den 23. Juli 2010 um 23:45 Uhr

Das Kernzitat

„In der Nacht träumte ich (sc.Sinclair spricht) von Demian und von dem Wappen (sc.über der Haustüre hängt, von Sinclair bislang unbeachtet, das Bild eines Raubvogels). Es verwandelte sich beständig. Demian hielt es in Händen, oft war es klein und grau, oft mächtig groß und vielfarbig, aber er erklärte mir, dass es doch immer ein und dasselbe sei. Zuletzt aber nötigte er mich, das Wappen zu essen. Als ich es geschluckt hatte, spürte ich mit ungeheurem Erschrecken, dass der verschlungene Wappenvogel in mir lebendig sei, mich ausfülle und von innen zu verzehen beginne. Voller Todesangst fuhr ich auf und erwachte."

Sinclair malt den Vogel auf ein Papier. Am nächsten Morgen findet er das Papier auf dem Boden liegen. Er schildert den Inhalt des Bildes mit den folgenden Worten: „Der Vogel stand oder saß auf etwas, vielleicht auf einer Blume, oder auf einem Korb oder Nest, oder auf einer Baumkrone. Ich kümmerte mich nicht darum und fing mit dem an, wovon ich eine deutliche Vorstellung hatte. Aus einem unklaren Bedürfnis begann ich gleich mit starken Farben, der Kopf des Vogels war auf meinem Blatte goldgelb. Je nach Laune machte ich daran weiter und brachte das Ding in einigen Tagen fertig.

Nun war es ein Raubvogel, mit einem scharfen, kühnen Sperberkopf. Er stak mit halbem Leibe in einer dunkeln Weltkugel, aus der er sich wie aus einem riesigen Ei heraufarbeitete, auf einem blauen Himmelsgrunde. Wie ich das Blatt länger betrachtete, schien es mir mehr und mehr, als sei es das farbige Wappen, wie es in meinem Traum vorgekommen war.

Einen Brief an Demian zu schreiben, wäre mir nicht möglich gewesen, auch wenn ich gewußt hätte wohin. Ich beschloss aber, in demselben traumhaften Ahnen, mit dem ich damals alles tat, ihm das Bild mit dem Sperber zu schicken, mochte es ihn dann erreichen oder nicht. Ich schrieb nichts darauf, auch nicht meinen Namen, beschnitt die Ränder sorgfältig, kaufte einen großen Papierumschlag und schrieb meines Freundes ehemalige Adresse darauf. Dann schickte ich es fort."

Einige Tage später erhält Sinclair eine Antwort von Demian. Demian läßt seinen Freund wissen:

„Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt.
Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören. Der Vogel fliegt zu Gott. Der Gott heißt Abraxas.“

In seinem im Jahre 1919 erschienen Roman „Demian“ schildert Hesse, wie Sinclair, ein Jugendlicher und Schüler, allmählich zum Erwachsensein hingeführt wird. Erwachsen zu sein bedeutet psychologisch gesehen, dass der Jugendliche eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den Eltern, den Lehrern und sonstiger Autoritätsfiguren, erreicht hat. Ist ein schmerzlicher Prozess der Selbstfindung. Bedeutet auch, zu wissen, was man im Leben erreichen will. Beinhaltet die Erfahrung des Alleineseins und der Not. Ist die Erkenntnis, dass niemand einem wirklich helfen kann, wenn man in eine Notsituation gerät.

Mit diesen Wörtern: Selbständigkeit, Unabhängigkeit, Freiheit, Verantwortung für das eigene Leben, Selbsterkenntnis versuche ich den komplexen Prozess der Identitätsfindung beim jugendlichen Menschen zu umschreiben. Wir dürfen davon ausgehen, dass Hesse in den Jahren der Entstehung des Romans der Findung des eigenen Ichs erneut durchlaufen und auf die Hauptfigur Sinclair übertragen hat. In den Figuren des Demian und Pistorius hat er seine eigenen Seelenführer aus dieser Zeit, den Psychoanalytiker und Jungschüler Lang und C.G.Jung selbst, dargestellt.

Die oben zitierte Textstelle aus dem Roman verdichtet und gestaltet den Prozess der Ich-Findung im „Demian“ im Symbol der Sperbers, der aus dem Ei ausbricht. Das Bild ist nicht schwer zu deuten. Es leuchtet unmittelbar ein, dass der Sperber für den männlichen Jugendlichen steht, der es endlich schafft, sich aus der Geborgenheit des Elternhauses zu befreien. Die Kinder werden „flügge“, so sagt die deutsche Sprache. Dass Hesse einen Sperber, einen Raubvogel als Symbol gewählt hat, wird aus seiner Lebenserfahrung verständlich. Er zählte bereits 42 Jahre, als er den Roman veröffentlichte. Und er hatte gerade die Krise seiner Lebensmitte gemeistert.

Ich habe dieses Kapitel mit „die Geburt“ des Ichs überschrieben, weil dies das Hauptthema im „Demian“ ist und weil das eben erläuterte Symbol des Sperbers, der die Eierschale durchbricht, ja genau den Vorgang des Geborenwerdens darstellt.

Es ist jedoch die Frage, ob es von der Sache her berechtigt ist, von einer „Geburt“ zu sprechen und in manchen Fällen sogar von einer „schwierigen“ Geburt. “Geburt“ wird als Bild für einen geistigen Vorgang verwendet, in dem das Ich des Menschen Gestalt annimmt. Man kann diese Gestalt nicht sehen und auch nicht anfassen. Doch in der Seele besteht sie als Realität, die möglicherweise sogar das körperliche Leben überdauern wird. Sicher, es gibt nur eine natürliche Geburt, aber es gibt zahlreiche geistige Geburten der Seele zu immer neuen Stufen des Lebens. Das große Thema Hesses schlechthin.

Die Eltern verfolgen den Prozess der Ich-Findung ihres Kindes mit großen Ängsten, weil er sich gegen sie selbst zu richten scheint. Doch die Eltern sind nie eigentlich als Personen gemeint. Sie geben nur den Spiegel ab und der Jugendlich steht davor und sagt: so wie die Mutter will ich nicht werden und so wie der Vater auch nicht -  und wie will ich denn nun sein? Das Nein-Sagen zu den - in Wirklichkeit geliebten - Eltern gehört zum Prozess der Identitätsfindung dazu. Die Eltern sind gut beraten, wenn sie die Kritik, Ablehnung und Distanzierung durch den/die Jugendlichen aushalten, ohne ihm und ihr das Vertrauen zu entziehen. Der Prozess kann dann sozusagen auf natürliche Weise ablaufen und es werden keine Seelenführer vonnöten sein. Seelenführer wie Demian und in abgemilderter Form Pistorius - Sinclair durchschaut das Treiben des Pistorius ziemlich schnell - treten erst dann auf den Plan, wenn der „natürliche“ Prozess in irgendeiner Weise gestört wird und die Jugendlichen sich die Hilfen, die sie brauchen, um sich weiter zu entwickeln, von „auswärts“ holen müssen.

Die andere Abweichung von der normalen Entwicklung besteht darin, dass der Erwachsene in der Lebensmitte, wenn seine bisherigen Bestrebungen in die Krise geraten, diejenigen Teile des Prozesses sozusagen nachholt, die er als Jugendlicher nicht durchmachen konnte. Hierher gehört wahrscheinlich auch der Fall von Hermann Hesse selbst.

 

Ich zitiere aus der Vorrede des Autors zum „Demian“:

„Das Leben jedes Menschen ist ein Weg zu sich selber hin, der Versuch eines Weges, die Andeutung eines Pfades. Kein Mensch ist jemals ganz und gar er selbst gewesen; jeder strebt dennoch, es zu werden, einer dumpf, einer lichter, jeder wie er kann. Jeder trägt Reste von seiner Geburt, Schleim und Eischalen einer Urwelt, bis zum Ende mit sich hin. Mancher wird niemals Mensch, bleibt Frosch, bleibt Eidechse, bleibt Ameise. Mancher ist oben Mensch und unten Fisch. Aber jeder ist ein Wurf der Natur nach dem Menschen hin. Und allen sind die Herkünfte gemeinsam, die Mütter, wir alle kommen aus demselben Schlunde; aber jeder strebt, ein Versuch und Wurf aus den Tiefen, seinem eigenen Ziele zu. Wir können einander verstehen; aber deuten kann jeder nur sich selbst.“


Das Habicht-Symbol

Der Roman „Demian“ erläutert immer wieder das von Hesse geschaffene Symbol des Habichts. Außer den beiden eingangs zitierten Stellen gibt es mindestens vier weitere im Fortgang des Romans, die das Symbol in seiner Tiefe gestalten.

Das Symbols des Sperbers, der sich aus dem Ei befreit, so viel dürfte schon klar sein, verweist auf die Notwendigkeit der Vereinzelung. Nach Hesses Meinung bleibt es keinem Menschen erspart, nach dem Sinn seines Lebens zu suchen und sich selbst zu definieren. Spätestens in der Krise der Lebensmitte greift dieser Prozess um sich.

Das Symbol besitzt verschiedene, von Hesse sehr geschickt in die Romanhandlung eingewobene Bedeutungsschichten, die man auseinander halten sollte. Die erste Schicht sehe ich in der Bedeutung für die persönliche Entwicklung Sinclairs. Dem Jugendlichen wird hier ein Idealbild vor Augen gestellt, auf das hin er sich entwickeln will. Das Essen des Wappentiers deutet dies an. Das Ziel, ein „Raubvogel“ zu werden, muss erst einmal in die Psyche integriert werden. Frau Eva drückt diesen Gedanken in dem Satz aus: „Man muss seinen Traum finden, dann wird der Weg leicht“ (S.138).

Eine zweite, hinter der ersten verborgenen Schicht, verweist auf den Traum vom Fliegen. Sinclair - und mit ihm jeder Jugendliche - fasst mit dem Traum vom Wappenvogel den Wunsch, sich sozusagen in den offenen Himmel zu erheben. In dieser Bedeutung verweist das Symbol auf archetypische Konstanten in der menschlichen Seele (Hinweis auf C.G. Jung).

Eine dritte Schicht ergibt sich dem Romanschluss. Hier wird das Wappentier zu einem Riesenvogel erhoben, der sich aus den Trümmern der Welt befreit. Diese Gestaltung des Symbols ist auf die Situation nach dem Ersten Weltkrieg im Jahre 1919 bezogen. Hesse gestaltete den  Wunsch, dass es gelingen möge, die Welt aus den Trümmern zu befreien, in einem allgemein gültigen Bild. Die große Wirkung des Romans geht sicher auch darauf zurück, dass es Hesse mit diesem Buch gelungen ist, Symbole für die Erneuerung des Menschen zu gestalten.

Interessant und mehrdeutig ist der offene Schluss des Romans. Offen ist, ob Demian gestorben ist oder einfach nur woanders hingebracht wurde. Die Freunde Sinclair und Demian sehen sich in einem Feldlazarett nur für Augenblicke wieder. Am nächsten Morgen ist der Platz im Feldbett Demians leer. Sinclair gibt zu verstehen, dass das Verschwinden Demians nicht gar so schlimm sei, weil er ihn gewissermaßen verinnerlicht habe. Sinclair hat es endlich erreicht, sich seinem Vorbild anzugleichen. Das Traumbild vom Sperber hat ihn dabei begleitet und unterstützt.

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